21

H e!«

Hazels Füße rannten los, noch ehe ihr Kopf wusste, was sie tat. Das Universum wirbelte um sie herum, doch sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf den Rücken des Mannes, dem sie aus dem Ballsaal hinterherjagte. Er war schon auf halbem Weg durch einen Gang, als sie ihn endlich einholte.

Er war es.

Es war Jack.

Dasselbe schmale Kinn und dieselbe lange Nase. Dieselbe Rundung des Wangenknochens. Und in seinem guten Auge erkannte Hazel die Farben, von denen sie seit Monaten geträumt hatte: ein so helles Graublau, dass es dem Himmel ähnelte, wenn man an einem bewölkten Tag direkt in die Sonne blickte. Als sie sein Gesicht sah, schmolz Hazel wie Kerzenwachs dahin.

Jack starrte sie unverwandt an und er schien seinen eigenen Verstand infrage zu stellen, als wäre Hazel ein grausamer Streich, eine Erscheinung oder ein Gespenst.

»Jack«, sagte Hazel schließlich. »Ich bin es.«

Wie ein herunterfallender Vorhang verwandelte sich der Schock in seinem Gesicht im Nu in Schmerz und schließlich Furcht. Jack spannte den Kiefer an und sein gutes Auge blinzelte schnell. Er wirkte wie ein gefangenes Tier, bereit, jeden Augenblick abermals wegzurennen.

Sollte sie ihn umarmen? Ihn küssen? Ihr Gehirn befahl ihr, Millionen von Dingen zu tun, doch stattdessen stand Hazel wie gelähmt da und starrte das Gesicht an, das sie in ihren Träumen Tausende Male gezeichnet hatte. Hier. Mit Kratzern und Schrammen und einem fehlenden Auge, aber hier.

Jack bemühte sich offenbar, die Muskeln in seinem Gesicht unter Kontrolle zu bekommen. Seine Lippe zuckte und dann, die Stimme so angespannt wie eine Bogensehne, sagte er endlich etwas: »Verbringen Sie einen angenehmen Abend, Miss Sinnett?«

Hazel war nicht einmal bewusst gewesen, dass sie ihn geohrfeigt hatte, bis ihre Handfläche von der Wucht des Schlages schmerzte.

»Angenehmen Abend? Miss Sinnett?« , fauchte sie. »Was soll das? Warum bist du vor mir davongelaufen?« Ihre Ohren brannten und der Schmerz von der Ohrfeige breitete sich in ihrem Handgelenk aus.

Jack schluckte schwer und rieb sich die Wange, wo Hazel ihn getroffen hatte. Langsam öffnete und schloss er den Kiefer, um sich zu vergewissern, dass er nicht gebrochen war. »Ich muss zugeben, dass ich es für einen kurzen Moment für unmöglich gehalten habe, dass du es wirklich bist. Doch jetzt habe ich keinen Zweifel mehr.«

»Warum sollte ich es nicht sein?«, stieß Hazel hervor. »Wer hätte es sonst sein können?«

Jack blickte sich um. Er atmete schwer. »Ausgerechnet in London. In einem königlichen Palast. Sogar auf dem Schiff erreichten uns Gerüchte über einen weiblichen Arzt, der die Prinzessin behandelt. Ich hätte es in dem Moment schon wissen müssen.«

»Du wusstest, dass ich hier sein könnte? Und du bist nicht … du bist nicht zu mir gekommen?«

Jack antwortete nicht. Er war steif und behandelte sie wie eine Fremde, stand stramm wie ein Soldat und nicht wie der Junge, der sie in Ställen in den Armen gehalten hatte, während es zu Hause in Edinburgh in Strömen regnete.

»Jack«, sagte Hazel. »Was tust du hier? Warum …? Warum hast du mir nicht geschrieben?«

Hazel konnte den flehenden Ton nicht unterdrücken, der sich in ihre Stimme schlich, und spürte, wie ihr heiße Tränen in den Augen stachen.

Er hatte den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, als zwei Gäste von der Party kichernd den Gang entlangkamen, zwei Männer mit vollen Karaffen Wein in den Händen. Ein Diener lief in die andere Richtung vorbei.

»Wir können hier nicht darüber reden«, sagte Jack leise. »Du solltest während einer Party nicht mit mir allein in einem Gang herumstehen, wo Leute uns sehen können. Hier reicht das vollkommen aus, um den Ruf einer Lady zu ruinieren.«

»Seit wann interessiert dich der Ruf einer Lady?«, gab Hazel zurück. Es sollte ein Witz sein, aber zwischen ihnen bestand kein stilles Einvernehmen mehr. Deshalb rutschte es ihr schärfer heraus, als sie beabsichtigt hatte, und Jack sah auf den Boden. Es gab zu viel zu sagen und Hazel wusste nicht, wie sie es am besten formulieren sollte. »Was tust du hier?«, brachte sie abermals heraus.

Ein weiterer Matrose, der schon zu viel getrunken hatte, schwankte im Eingang zum Ballsaal. »Komm schon, Ellis!«, rief er. »Lass die Lady in Ruhe!«

»Ellis?«, fragte Hazel. »Ist das jetzt dein Name?«

»Ich konnte ja schlecht mit dem Namen eines toten Mannes herumlaufen, oder?«, erwiderte Jack und lächelte. Ein kleines, flüchtiges Lächeln, aber sein Lächeln. Es war niederschmetternd – obwohl sie es seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, war ihr dieses Lächeln völlig vertraut.

Hatte sie wirklich die Grübchen an seiner linken Wange und seinem Kinn vergessen? In diesem Augenblick war sich Hazel gewiss, dass sich diese Begegnung als ein Traum herausstellen und sie dieses Lächeln nie wiedersehen würde, wenn sie ihn jetzt aus den Augen ließ.

»Ich werde dich aufsuchen«, sagte Jack, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Du behandelst die Prinzessin in Warwick House?«

»Nein«, sagte Hazel. »Ich meine, ja … aber nein. Ich warte schon seit Monaten auf dich, Jack, ich lasse nicht zu, dass du mit einem vagen Versprechen wieder vor mir davonläufst. Ich wohne Hausnummer 3, Stafford Street, in London, nicht weit von St.  James’s Park. Komm morgen vorbei.«

»In Ordnung«, stimmte Jack zu und zog die Stirn in Falten. »Ich komme morgen vorbei, Hausnummer 3, Stafford Street.«

»Früh am Tag«, sagte Hazel.

»Bei Tagesanbruch«, sagte Jack.

Der betrunkene Matrose rief laut aus dem Ballsaal: »Jack Ellis, beweg deinen einäugigen Hintern hier rüber!«

Jack warf Hazel einen entschuldigenden Blick zu. »Gleich, Karrelsby!«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier bist«, flüsterte Hazel.

»Wir sehen uns morgen«, erwiderte Jack. »Versprochen.«

Sein Blick wanderte von Hazels Augen zu ihren Lippen und für einen kurzen Moment schien es ihr, als wollte er sie küssen. Für einen kurzen Moment sah er sie so an, wie er es früher immer getan hatte, und seine Züge erwachten zum Leben. Doch dann verbeugte er sich nur leicht, schritt zu seinem Freund hinüber davon und ließ Hazel allein auf dem Gang stehen, wo sie sich gleichermaßen leer und voller Emotionen fühlte, als wäre sie zugleich betrunken und völlig nüchtern.

Sie hatte Jack wiedergesehen. Er war am Leben und er war hier und das Seltsamste an der ganzen Sache war, dass er ihr beinahe wie ein völlig Fremder vorgekommen war.