22
W ie versprochen, suchte Jack Hazel am nächsten Morgen auf, just als die Kirchenglocken zur sechsten Stunde läuteten. Hazel hatte kaum ein Auge zugetan. Nach dem Ball hatte sie in ihrem Abendkleid eine Stunde lang auf dem Bett gelegen und darüber nachgedacht, was geschehen war und was sie zueinander gesagt hatten.
Jack war am Leben – in London.
Die Zofe hatte ihn hereingelassen und er stand verlegen im Eingang, scharrte mit den Füßen und starrte zu Boden. Statt der blauen Jacke und der weißen Hose vom Vorabend trug er jetzt eine einfache schwarze Hose und eine weiße Uniformjacke, die schon an mehreren Stellen geflickt worden war.
Als Hazel die Treppe herunterkam, um ihn zu begrüßen, wirkte er unsicher, ob sie sich umarmen sollten. Er beugte leicht den Kopf und nahm dann ungeschickt ihrer Hand, um sie zu küssen. »Miss Sinnett«, sagte er steif.
Hazel hatte bereits die Arme geöffnet, um ihn zu umarmen, und stand nun da wie eine Tänzerin, die, kurz bevor der Walzer anfing, ihren Partner verloren hatte.
»Du riechst wie du«, entfuhr es Hazel. »Verzeih mir. Das ist eine seltsame Bemerkung.«
»Tatsächlich?«, fragte Jack. »Wonach rieche ich denn?«
Ein wenig verlegen, beugte sie sich zu seinem Hals vor und atmete seinen Duft ein. Auf ihren Unterarmen stellten sich die Härchen auf. Jack roch wie er selbst. Es war ein Duft, den sie noch an keinem anderen Ort gerochen hatte. Er roch nach Wald und Erde und nach dem herben, metallischen Geruch von Blut – und da waren auch noch neue Gerüche, wie die Stärke in dem Stoff seines Hemds und das Meeressalz in seinem Haar.
»Du riechst ein wenig wie ein Matrose«, sagte Hazel.
»Hm, nachdem ich die letzten zwei Monate mit Matrosen verbracht habe, weiß ich, dass das eine Beleidigung ist.«
»Auf eine gute Art!«, schob Hazel hinterher.
Die Zofe räusperte sich. »Soll ich Tee bringen, Miss?«, fragte sie.
»Ja, bitte, danke.« Hazel bedeutete Jack, ihr nach oben in das kleine Wohnzimmer zu folgen. »Bitte, folgen Sie mir«, sagte sie förmlich, als würde sie den Text eines Theaterstücks rezitieren. »Wenn ein Herr eine Dame besucht, selbst wenn es eine Dame ist, die allein lebt und als Ärztin arbeitet, müssen gewisse Rituale weiterhin befolgt werden.«
Jack hatte bereits Hut und Mantel ausgezogen und an die Garderobe gehängt. »Danke, Miss Sinnett«, sagte er.
»Hazel«, erwiderte sie. »Sie können mich doch gewiss Hazel nennen.«
»Wenn Sie darauf bestehen, Miss«, sagte Jack. In Hazels Wohnzimmer setzte er sich auf einen Stuhl und hielt sich so gerade wie ein Schiffsmast. Er schlug die Beine übereinander. Hatte er die Beine schon immer so übereinandergeschlagen?, ging es Hazel durch den Kopf. Selbst seine zwanglosen Bewegungen kamen ihr unvertraut und förmlich vor.
Doch Hazel konnte sich zusammenreißen, bis der Tee eingeschenkt war, ehe sie anfing, all die Fragen zu stellen, auf die sie Antworten wollte: Wie hatte er den Strick überlebt? Wann hatte er Edinburgh verlassen? Warum war er nicht nach Amerika gegangen? Wie war er in der Royal Navy gelandet?
»Nun ja, ich bin nicht in der Royal Navy«, sagte Jack. »Nicht wirklich. Ich habe auf dem Schiff gedient, während wir auf dem Atlantik waren, und bei unserer Rückkehr im Hafen sollte ich offiziell einrücken und meinen Dienst beginnen. Zumindest erwarten sie das von mir.«
»Aber das hast du nicht vor?«, fragte Hazel.
»Oh«, antwortete Jack. »Das weiß ich noch nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt jemals weiß, was ich tun werde, bis ich es tue.«
»Wie hast du dein Auge verloren?«, wollte Hazel wissen. Jack spannte sich an, als sie eine Hand nach ihm ausstreckte, und sie zog sie wieder zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass das … seltsam ist.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich wiedersehen würde«, meinte Jack, an den Boden gewandt. »Es wäre einfacher, würdest du mich für tot halten.«
»Was meinst du mit ›einfacher‹?«, fragte Hazel. »Was ist passiert ? Warum hast du Edinburgh verlassen?«
»Ich dachte, es wäre einfacher«, wiederholte Jack, sah sie jedoch weiterhin nicht an.
»Erzähl mir wenigstens, was geschehen ist«, sagte Hazel.
Jack versuchte, einen Schluck von seinem Tee zu trinken, weigerte sich aber so beharrlich, sie anzusehen, dass er seinen Mund verfehlte und Tee auf sein Hemd tropfte. Hazel und Jack lächelten beide und für einen kurzen Augenblick schien zwischen ihnen etwas aufzutauen.
»Erzähl mir einfach, was passiert ist«, forderte sie ihn abermals auf. »Bitte?«
Jack setzte vorsichtig die Teetasse ab. »Ja«, sagte er. »Na gut. Ich fange am Anfang an und vielleicht können wir von dort weitermachen.«
Jack wachte irgendwo unter Tage auf, umgeben vom Geruch von Verwesung und Tod. Zuerst glaubte er, man hätte ihn lebendig begraben, und auf gewisse Weise stimmte das auch. Es war stockduster und Jacks nächster Gedanke war, dass er tot und dies das Jenseits war und der Trank, den Hazel ihm durch das Gitter der Zelle gereicht hatte, nicht funktioniert hatte. Doch seine Hand umfasste eine andere menschliche Hand und Jack wusste selbst in der Dunkelheit, wo er war.
Er befand sich in einem Berg von Leichen.
Er versuchte, sich einen Weg an die Oberfläche zu bahnen. Ein Dutzend tote, nackte und kalte Körper, von denen zum Teil noch das Blut oder Schlimmeres tropfte, waren an ihn gedrückt. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt und sie waren so hart geworden, dass er knackende Geräusche durch die Finsternis hallen hörte, während er sich aus ihnen befreite. Sein Hals brannte, aber darum würde er sich später kümmern. Fürs Erste musste er einfach hier rauskommen.
Als es ihm schließlich gelang, fiel er neben dem Leichenberg auf einen eiskalten Steinboden. Über ihm ragte ein Steingewölbe auf und Jack murmelte erleichtert ein Dankesgebet, denn er wusste, wo sie ihn hingebracht hatten: Er befand sich im Kellergeschoss der medizinischen Fakultät der Universität von Edinburgh. Jahrelang hatte er Tote an ebendiesen Ort geliefert, wo Studenten – oder häufiger noch Professoren – eine Handvoll Münzen für frische Leichen bezahlten, die seziert werden konnten.
Gehängte gehörten zu den wenigen Kadavern, die Ärzte sich legal beschaffen konnten. Nach seiner Hinrichtung durch den Strick hatte sich zweifellos eine kleine Schar Jungs gegenseitig aus dem Weg gedrängt, in dem Versuch, seine Leiche für sich zu beanspruchen und zu verkaufen. Jack hatte vermutlich jeden einzelnen von ihnen gekannt. Er war einer von ihnen gewesen. Er hoffte, dass derjenige, der schließlich seinen Körper in die Hände bekommen hatte, einen guten Preis für ihn erzielt hatte.
Sein Hals schmerzte. Es war nicht nur der Brand von dem Strick – wenngleich er sich heiß unter seiner Hand anfühlte, als er die Haut dort berührte. Auch von der Schädelbasis zog sich ein tiefer Schmerz hinunter in sein Rückgrat.
Er kannte den Weg nach draußen – es gab zwei Treppenhäuser. Das am südlichen Ende des Kellergeschosses führte hinauf in ein Klassenzimmer, doch über das andere am nördlichen Ende würde Jack direkt in eine Gasse gelangen, die auf die Forrest Road mündete. Die George-Heriot-Schule für Jungen wäre dann auf der linken Seite und direkt vor sich würde er die Tore von Greyfriars Kirkyard erblicken. Diesen Weg hatte er schon viele, viele Male genommen. Meistens im Dunkeln und meistens mit einer Schubkarre, mit der er den nackten, toten Körper transportierte, den er gerade ausgegraben hatte.
Mit ausgestreckten Händen und vorsichtigen Schritten, während sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnten, bewegte sich Jack langsam auf die Treppe zu – unfähig, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf das Reißen, das von jedem einzelnen Knochen in seinem Körper auszugehen schien, und auf den scharfen Schmerz in seinem Hals. Die Stufen, dem Herrn sei Dank, waren genau dort, wo er sie in Erinnerung hatte. Wenngleich niemand sonst da zu sein schien, schreckte Jack beim Knarzen der Holztreppe zusammen. Er hielt den Atem an und drückte die Tür auf, unsicher, ob es in der Außenwelt Tag oder Nacht sein würde. Zum Glück war die Gasse abgeschieden – schließlich war der Kauf wieder ausgegrabener Leichen verboten. Jack war überzeugt, dass er sich selbst um zwölf Uhr mittags hätte davonschleichen können, ohne dass ihn jemand sah.
Nur dass die Treppe gar nicht nach draußen führte.
Vielmehr hatte er eine Tür zu einem Klassenzimmer voller Medizinstudenten geöffnet, die ihn nun alle direkt ansahen.
Erst in diesem Moment wurde Jack bewusst, dass er keine Kleider trug.
Er rannte.
Er rannte geradewegs durch das Klassenzimmer und der Professor an der Tafel gaffte ihm hinterher, zu verblüfft, um irgendetwas zu sagen. Er rannte, so schnell er konnte, vorbei an den endlosen Reihen von Holzstühlen und Tischen, auf denen allem Anschein nach nasse und offene menschliche Gehirne lagen. Bei seiner Flucht gelang es ihm noch, sich einen Mantel von einem Haken neben der Tür zu schnappen. Lautes Gelächter und vereinzelter Applaus kamen aus dem Klassenzimmer hinter ihm.
Wie ein Korken, der aus einer geschüttelten Flasche katapultiert wurde, flüchtete Jack aus der medizinischen Fakultät der Universität von Edinburgh. Stürmte die nächste Seitenstraße hinunter, die er erblickte, und zog im Rennen Kleider von einer Wäscheleine – ein Frauenunterhemd und eine Hose, die ihm mehrere Größen zu groß waren, wie er später feststellte. Fürs Erste würde ihm das jedoch dienlich sein, dachte er, während er das Nachthemd über den Kopf zog und den überhängenden Stoff in die Hose stopfte.
Und jetzt war es Zeit, Hawthornden Castle aufzusuchen. Er würde endlich mit Hazel wiedervereint sein.
Er überlegte kurz, ob die Mansarde unter dem Dach des Theaters, in dem er früher gearbeitet hatte, nach seiner Verhaftung geplündert worden war. Das Theater war wegen des grassierenden Römischen Fiebers geschlossen worden und Jack konnte sich vorstellen, dass es gefleddert worden war. Erst von Dieben, die den Samt von den Sitzen gezogen hatten, um sie für ein paar Pennys zu verkaufen, und daraufhin von Leuten, die von dem gehängten Massenmörder Jack Currer, gehört hatten und billigen Plunder zum Verkaufen suchten, der aufgrund der Verbindung zu ihm an Wert gewonnen hatte. Edinburgh war eine Stadt, die mit dem Tod in ihren Adern lebte und ihn mit einer Grimasse, einem Grinsen und offenen Armen begrüßte. In bestimmten Hinterhöfen abseits der High Street konnten Haarsträhnen eines Mörders oder seines Opfers wie ein Schatz gekauft oder verkauft werden.
Dennoch bestand die Chance, dass ein paar seiner Habseligkeiten verborgen geblieben waren – er hatte in den Dachsparren des Theaters eine kleine Kiste mit einer Handvoll Münzen, einem sauberen Hemd und einer Taschenuhr versteckt, die er weder reparieren noch sich durchringen konnte zu verkaufen. Er bezweifelte, dass ein unerschrockener Dieb sie gefunden hatte.
Doch als Jack die Hauptstraße überquerte, erhaschte er einen Blick auf die Abendzeitung, die wie eine Fahne in der Hand eines Zeitungsjungen wehte. Selbst aus mehreren Metern Entfernung konnte er die Schlagzeile über einer Tuschezeichnung ausmachen, die, so musste selbst Jack zugeben, eine ziemlich große Ähnlichkeit mit ihm aufwies: KIRKYARD-MÖRDER GEHÄNGT. Jack fluchte leise. Er hatte die Morde natürlich nicht begangen, aber auch kein einziger davon war überhaupt auf einem Friedhof geschehen! Die Opfer waren in Operationszimmern für ihre Organe und Gliedmaßen umgebracht, auseinandergeschnitten und dann von der wohlhabenden Elite weggeworfen worden. Und dann hatten sie das alles Jack in die Schuhe geschoben, um es zu vertuschen.
Es war fast so, als wollten die Bewohner der Stadt nichts von den himmelschreienden Ungerechtigkeiten wissen, die sich jeden Tag direkt vor ihrer Nase ereigneten, von der Grausamkeit und Gier der Verantwortlichen. Und es war diese korrupte Verdorbenheit, welche die Fundamente des täglichen Lebens bedrohte. Aber die Menschen mussten doch leben. Sie mussten jeden Tag aufs Neue aufstehen und ihre Kinder ernähren und ihre Kleidung waschen und Mahlzeiten vorbereiten. Ein »Kirkyard-Killer« gab da eine viel genehmere Geschichte ab – sie war leicht zu verstehen und ihre Schattenseite ließ sich mühelos mit einer Hinrichtung wieder hinbiegen. Über einen solchen Skandal konnten die Leute bei einem Glas Bier tratschen – der Auferstehungsmann, der Menschen kaltblütig ermordete, um sich die Mühe zu ersparen, sie auszugraben. Eine Geschichte, die schon bald zur Legende werden würde, aufregend, aber nicht mehr furchterregend.
Sich einer Lüge entgegenzustellen, die jeder glauben wollte, war aussichtslos.
Jack Currer würde für alle Ewigkeit der Kirkyard-Killer bleiben.
Doch das dringlichere Problem war natürlich, dass sein Gesicht in der ganzen Stadt plakatiert war. Und so eigenartig, wie er gekleidet war, hatte er nicht die geringste Chance, unbemerkt zu bleiben. Er würde es nie bis zum Theater im Herzen der Stadt schaffen, um nach unbedeutenden Habseligkeiten zu suchen, die vermutlich schon nicht mehr da waren.
Leute auf der Straße beäugten ihn bereits misstrauisch. Er verbarg sein Gesicht hinter dem hochgezogenen Kragen seines Mantels und ließ die Innenstadt in Richtung des einen Ortes hinter sich, an dem er in Sicherheit sein würde: Hawthornden … bei Hazel.
Zum Schloss war es ohnehin schon ein langer Fußmarsch durch den Wald, doch der würde noch länger werden, weil Jack die Hauptstraßen mied. Vermutlich würde er es nicht vor Einbruch der Nacht bis dorthin schaffen, dachte er, während er sich durch den Wald kämpfte und über dichtes Gestrüpp stolperte. Er konnte froh sein, wenn er Hawthornden bei Sonnenaufgang erreichte.
Als er schließlich das leere Feld überquerte, um die Ecke bog, wo die Bäume entlang der Anhöhe hoch aufragten, und das Schloss in der Ferne erblickte, war Jack erschöpft und sein ganzer Körper tat ihm weh. Vor allem die Schmerzen in seinem Rückgrat waren schlimmer geworden und er spürte, wie sich an seinen Beinen blaue Flecken bildeten. Hawthornden sah aus, als wäre es aus einem Traum heraufbeschworen worden; der Glanz seiner Laternen verschwamm im Nebel, so als spiegle sich das ganze Schloss in einem Teich. Er würde an der Tür klopfen und Hazel würde öffnen – und dann würden sie sich wieder in die Arme schließen, er würde in ihrem Bett einschlafen, sie würde am Morgen seine Wunden behandeln und er würde für sie Eier mit Wurst zum Frühstück braten und dann …
Ja, wie würde es dann weitergehen?
Hazel würde weiter studieren, um Ärztin zu werden – sie konnte keinesfalls mit einem Mörder in Verbindung gebracht werden. Und so wie sich anzügliche Neuigkeiten zu verbreiten pflegten, durfte Jack nirgendwo in Schottland, ja, nicht einmal in Großbritannien gesehen werden. Was würde geschehen, wenn sie ihn fanden und entdeckten, dass er dem Strick entkommen war? Nein … er würde im Verborgenen bleiben müssen.
Er könnte auf Hawthornden leben, während Hazel hinaus in die Welt ging, Chirurgin wurde, wie es immer ihr Traum gewesen war, und gefeiert wurde, so wie sie es verdiente. Am Abend würde sie zu Jack nach Hause zurückkehren und ihm Geschichten von Orten erzählen, die er nicht sehen, und von Leuten, die er nicht treffen konnte.
Doch was würde geschehen, wenn ihr Vater von seiner Abkommandierung im Ausland oder ihre Mutter aus England zurückkam? Wo würde Jack sich dann verstecken? Vermutlich würde Hazel irgendwo ein Cottage für ihn finden, irgendeine Wohnung, für die sie den Hauswirt bezahlte – denn wie könnte sich Jack eine Arbeit in der Nähe suchen, wenn er überall wiedererkannt werden konnte? Und Hazel würde für die Verschwiegenheit des Hauswirts noch zusätzlich bezahlen müssen.
Vielleicht würden die Nachrichten irgendwann in der Versenkung verschwinden. Nach einer Weile würde der Kirkyard-Killer womöglich in Vergessenheit geraten und Jack könnte sich eine Arbeit suchen, zum ersten Mal in seinem Leben ehrlich sein Geld verdienen und keine Last mehr sein.
Und dann?
Würde es einer Lady wie Hazel jemals erlaubt sein, jemanden wie ihn zu heiraten? Einen Mann ohne Vergangenheit, ohne Namen und ohne Zukunft? Man würde von ihr erwarten, dass sie einen wohlhabenden Gentleman heiratete, der für sie sorgen und der ihr ein Zuhause, ein prachtvolles Haus und einen festen Platz in der Gesellschaft geben konnte. Kinder vielleicht. Eine Familie. Als Frau würde sie es schon schwer genug haben, Chirurgin zu werden. Sie sollte nicht auch noch dazu verdammt sein, ein Schattendasein mit ihm zu fristen.
Und eine bohrende Stimme in ihm erinnerte ihn an den Trank, der dafür gesorgt hatte, dass er die Erhängung überlebt hatte. Er hatte nach Lakritze und einem grasigen, öligen Kraut geschmeckt, scharf und bitter. War er nun wirklich unsterblich? Jack wusste es nicht und er wusste auch nicht, wen er danach hätte fragen können. (Er würde sich eher selbst das Herz herausschneiden, als Beecham nach irgendetwas zu fragen – und Gott stehe dem Mann bei, sollte er Jack jemals wieder über den Weg laufen.) Doch wenn es wirklich so war … wenn er wirklich unsterblich war … dann war für Hazel ein Leben an seiner Seite erst recht unmöglich.
Doch er musste sie trotzdem sehen.
Jack kannte den von Waldhyazinthen gesäumten Weg auswendig, der sich durch ein Eschenwäldchen hinauf nach Hawthornden schlängelte, sodass er selbst im Dunkeln dorthin gelangen konnte. Jetzt, da er sein Ziel fast erreicht hatte, konnte er die erleuchteten Laternen in den Fenstern der Bibliothek und von Hazels Schlafzimmer sehen.
Da war sie.
Selbst durch die Verzerrung der dicken, gesprenkelten Glasscheibe konnte Jack aus der Ferne ausmachen, wie Hazel im Licht einer brennenden Kerze hochkonzentriert in einem Buch auf ihrem Schreibtisch blätterte.
Aus dem nächstgelegenen Stall kam das laute Wiehern eines Pferdes, doch Jack ließ sie keinen Moment aus den Augen – hin- und hergerissen zwischen dem starken Verlangen, an die Tür zu klopfen und sie zu küssen, und der verwirrten Erkenntnis, dass er sie nicht stören konnte.
Und so beobachtete er sie weiter, wie sie die Seiten umblätterte und ihr Gesichtsausdruck dabei kaum merklich erst von Verwirrung zu Frustration, dann zu Zufriedenheit und schließlich zu Stolz wechselte.
Ihre Kammerzofe – Iona – kam mit einem Teetablett herein. Hazel war hier zu Hause. Sie war glücklich. Und sie hatte alles, was sie brauchte.
Er hatte sich eingeredet, dass Hazel jemanden verdiente, mit dem sie alt werden konnte, und hielt es auch für die Wahrheit. Doch gleichzeitig zog sich in Jacks Bauch eine immer größere Furcht zusammen, die alles durchdrang: Er hatte sich schon einmal von Hazel verabschiedet und der Gedanke, es abermals tun zu müssen, jagte ihm Angst ein. Während er sie durch ihr Fenster betrachtete, wusste er, dass es ihm unerträglich wäre, Hazel Sinnett sterben zu sehen.
Knirschendes Laub und das Quietschen von Kutschenrädern durchbrachen die Stille des Abends. Die Geräusche waren noch weit entfernt, doch Jack stellten sich die Nackenhaare auf – eine Kutsche näherte sich. Jeder, der ihn sah, würde sein Gesicht wiedererkennen. Jeder könnte ihn zurück ins Gefängnis schicken … oder schlimmer. Jack wusste nicht, was sie ihm antun würden, wenn sie entdeckten, dass der Strick ihn nicht getötet hatte, und er wollte es auch nicht herausfinden.
Ein Pferd im nahe gelegenen Stall wieherte erneut und das Geräusch von Kutschenrädern wurde lauter.
Jack musste rennen.
Im Stall war es wärmer als draußen, wo der beißende Nachtwind schmerzhaft über seine Handgelenke und seinen Hals fegte, die sein Mantel nicht bedeckte. Aus Protest gegen den menschlichen Eindringling wieherten und stampften die Pferde mit den Hufen auf. »Schhh«, sagte Jack besänftigend und fuhr mit der Hand über die Nase des schwarzen Pferds – Betelgeuse hieß es. Jack hatte auf ihm reiten gelernt – Hazel hatte es ihm beigebracht. »Wir sind doch Kumpel, stimmt’s? Du und ich, Betelgeuse.« Das Pferd prustete einmal scharf durch die Nase aus und schien sich dann zu beruhigen.
Jack sattelte es und sah sich um. In einer Ecke hingen Reitkleidung und -stiefel, die mit getrocknetem Schlamm bedeckt waren. Sie gehörten einem Mann und waren in seiner Größe. Für einen kurzen Moment war Jack verwirrt. Hatte Hazel die Kleider absichtlich hiergelassen, damit er sie fand? Aber nein, er erinnerte sich daran, dass sie des Öfteren in den Kleidern ihres Bruders reiten ging.
Er zog sich rasch um, stopfte das Nachthemd und die schlecht sitzende Hose in eine Satteltasche, mit dem Hintergedanken, sie vielleicht verkaufen zu können, sobald er die Küste erreichte. Er trug noch den Mantel, den er einem verdatterten Medizinstudenten gestohlen hatte – zwar waren die Ärmel ein wenig kurz, aber er gefiel ihm trotzdem.
»Sei jetzt bitte ein braves Pferd«, flüsterte Jack dem Rappen zu und hievte sich in den Sattel.
Zum Glück hatte das Pferd aufgehört zu wiehern. Betelgeuse warf lediglich den Kopf nach hinten, als wollte er sagen: Und jetzt?
Jetzt , dachte Jack, gehen wir .
Er ignorierte den Schmerz, der tief und scharf wurde, während er durch die Nacht ritt. Zuerst konzentrierte er sich nur darauf, so weit wie möglich zu kommen, doch nach mehreren Stunden begannen die verschwommenen Umrisse eines Plans in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. Er ritt gen Westen, weg von der aufgehenden Sonne und in Richtung der Küste, wo er an Bord eines Schiffes gehen und von Schottland nach Amerika segeln könnte. Wo er ein neues Leben beginnen könnte.
Erst als er so müde war, dass er befürchten musste, unterwegs vom Pferd zu fallen, hielt er bei einem Gasthaus an und tauschte das Nachthemd und die Hose gegen eine Schüssel lauwarmen Eintopfs und einen Futterbeutel für Betelgeuse ein. »Nicht schlecht, nicht schlecht«, hatte die alte Frau hinter dem Ausschank immer wieder und wieder vor sich hin gemurmelt, während sie den hauchdünnen weißen Stoff des Nachthemds zwischen Daumen und Zeigefinger streichen ließ. »Nicht schlecht.« Wie durch ein Wunder beinhalteten die Taschen des gestohlenen Mantels ein paar Münzen und Jack händigte mehrere davon im Austausch gegen eine Nacht in einem Bett aus, das nach Schimmel roch. Wenngleich der Blick der alten Frau milchig und weiß war, schickte Jack jedes Mal ein stummes Gebet gen Himmel, wenn es den Anschein hatte, als würde sie sein Gesicht mit zusammengekniffenen Augen genau betrachten.
Nach einem weiteren Tagesritt erreichte Jack schließlich Greenock, wo ein breiter, geschwungener Fluss ins glitzernde Meer mündete. Schiffe schaukelten sanft im Hafen und Jack spürte einen starken Stich. Das war der Ort. Das letzte bisschen Schottland, das er sehen würde.
Die Überfahrt zu bezahlen, würde sich als Problem erweisen – doch Jack brachte es einfach nicht über sich, Betelgeuse zu verkaufen, weil das Pferd ihm nicht gehörte. Und so ließ er ihn im Wald frei, als er den Stadtrand der Hafenstadt erreichte. (Betelgeuse hingegen zögerte nicht einmal und trottete glücklich durch die Bäume, als wäre sein einziger Herr schon immer die Natur gewesen.)
Im Hafen schien es so viele Schiffe zu geben, dass niemand den Überblick behalten konnte. Jack hatte ein Leben lang daran gearbeitet, unsichtbar zu bleiben, und nun verbrachte er einen ganzen Nachmittag halb versteckt hinter einem Stapel Kisten und einer mannshohen Rolle Schiffstau, lauschte den verschiedenen Transaktionen, die auf den Docks vor sich gingen, und gewöhnte sich an die neuen Rhythmen der unterschiedlichen Akzente der Seeleute. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie englisch sein Edinburgh-Akzent klang, bis er diesen Greenockern lauschte, die ihre Konsonanten verschluckten und Vokale wie Hühnerknochen ausspuckten.
Die Männer riefen einander Reiseziele zu, von denen Jack größtenteils noch nie auch nur gehört hatte. Weit entfernt und exotisch klingende Orte. Doch er hatte seine Wahl getroffen und entschied sich – vielleicht willkürlich – für Amerika. Und so wartete er, bis jemand barsch etwas herausbellte, das wie »Virginia!« klang, und eilte dann auf die Stimme eines Mannes zu, der eine riesige Ladung Kisten auf ein kleines, aber ansehnliches Schiff am Ende des Piers einwinkte.
Jack fragte sich spontan, was wohl die Strafe für einen blinden Passagier wäre, machte sich darüber jedoch nicht allzu lange Sorgen. Ein Leben auf der Straße hatte ihn gelehrt, dass es wichtiger war zu handeln, statt vorauszuschauen. Stiehl jetzt, wenn du musst, und nimm später die Konsequenzen auf dich – zumindest wirst du dann am Leben sein. Außerdem, dachte er, ist es ja nicht so, als könnten sie mich umbringen.
Doch als Jack sich genauer ansah, wie er unbemerkt über den Landungssteg schleichen könnte (womöglich in eine Kiste als Schiffsladung gezwängt?), stellte er fest, dass an Bord zu gelangen, leichter sein könnte als erwartet.
»Decksleute! Matrosen! Ein Pfund und zehn Schilling pro Monat sowie eine Ration am Tag. Wir suchen nach starken jungen Männern, wir laufen heute Abend aus!«
Eine Gruppe Jungen in Jacks Alter umringten bereits den Rekrutierer. Jack stellte sich an.
»Name?«
»Jack C… äh, Ellis.«
»Na, was isses nu’?«
»So heiße ich. Jack Ellis.« Der Name war ihm spontan in den Sinn gekommen und so war er nun, einfach so, Jack Ellis.
»Also, Jack Ellis, warst du schon mal auf einem Schiff?«
»Ja. Zigmal. Hab auf den Docks in Leith außerhalb von Edinburgh gearbeitet«, log Jack.
Der Mann musterte ihn, und wenngleich er von dieser Lüge nicht gänzlich überzeugt schien, hatte er wohl keine große Lust, sie zu hinterfragen. In Jacks Körper war wieder Leben gekehrt. Seit er in dem Kellergeschoss der Universität aufgewacht war, war seine graue Haut langsam wieder rosig geworden. Dennoch war sich Jack bewusst, dass er nicht gut aussah. Er hatte Prellungen und seine Gliedmaßen waren mit Schrammen übersät. Er war zu dünn und übermüdet. Vermutlich hielt ihn der Mann für einen Dieb.
»Warum bist du dann von Edinburgh weg?«
»Hatte ’n bisschen Ärger«, antwortete Jack, weil er es für das Beste hielt, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.
Zu seiner Erleichterung gluckste der Mann. »Wenigstens haste kräftige Arme«, sagte er anerkennend. »Komm um sechs wieder hierher, das Schiff legt um sieben ab und wir warten nicht auf Nachzügler. An Bord wird nicht geklaut, keinen Ärger, verstanden?«
»Und das Schiff geht nach Virginia, richtig? Amerika?«, fragte Jack.
»Ja, Norfolk. In Amerika. Liefern Fracht aus. Bild dir aber bloß nicht ein, du könntest dich wie ein Passagier auf einer Luxusreise benehmen! Du gehst dahin, wo das Schiff hingeht, und bist für die Arbeit dankbar!«
Jack eilte davon. Er war dankbar für die Arbeit. Er würde mit ein paar Münzen mehr in Amerika ankommen und hätte unterwegs einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen. Einen Großteil seines Lebens war es ihm schon viel schlechter ergangen.
In Greenock gab es nichts für ihn zu tun und er hatte auch kein Geld, mit dem er etwas unternehmen könnte. Und so schnell, wie Neuigkeiten sich in ganz Schottland verbreiten konnten, war er weiter auf der Hut davor, von jemandem wiedererkannt zu werden. Daher schlenderte Jack die nächsten paar Stunden an den kleinen Häusern vorbei und schlängelte sich am Stadtrand zwischen Hühnern und Feuergruben hindurch. Er stibitzte einer Vogelscheuche einen großen Vikarshut, dem Regen und Wetter so zugesetzt hatten, dass der ehemals schwarze Stoff nun stumpf und farblos war und die Krempe hilfreich nach unten sackte und sein Gesicht verbarg.
Im Pub saß Jack bei einem Glas Bier vor einem Stück Pergament, das mit durchgestrichenen Sätzen übersät war. Er hatte ein Dutzend Mal einen Brief an Hazel angefangen, doch jeder seiner Versuche kam ihm trivial, dumm oder grausam vor. Wie konnte er das alles in Worte fassen? Wie sollte er ihr erklären, dass es ihm nicht möglich war, sie zu sehen, weil er sich kein Leben mit ihr vorstellen konnte? Allein bei dem Gedanken an Hazel zog sich Jacks Herz schmerzhaft zusammen. Aber er konnte sie doch auch nicht einfach ohne ein Wort verlassen?
Vielleicht würde er in Amerika ein neues Leben für sie beide aufbauen können. Er würde erfolgreich werden, Land erwerben und ein respektierter Bürger werden. Niemand würde etwas von seiner Hinrichtung, Beecham oder sonst irgendetwas wissen. In Amerika könnte Hazel vielleicht sogar offen als Chirurgin arbeiten. Sie könnten als verheiratetes Paar gemeinsam in einem Haus leben und er könnte jeden Morgen, bevor sie aufwachte, ihre Augenlider küssen.
Nein.
Selbst wenn es möglich wäre, lag dieses Traumgespinst noch in unendlich weiter Ferne. Wie konnte er Hazel bitten, so lange auf ihn zu warten? Vielleicht wäre es einfacher für sie, wenn sie glaubte, er wäre nicht mehr da. Hoffnung war etwas Gefährliches. Jack hatte gelernt, dass Hoffnung den meisten Schmerz in der Welt verursachte.
Am Ende war ihm ein einziger Satz eingefallen, der seinem Empfinden nach alles ausdrückte, was er ausdrücken wollte: seine Liebe, eine Entschuldigung und was er sich für die Zukunft erhoffte. Ich werde auf dich warten , schrieb er. Und wenn sie lieber glauben wollte, dass er tot war, dann konnte sie das immer noch.
Eine Stunde später war Jack wieder unten am Dock und wartete, während die Sonne orangerot über dem Hafen und dem Schiff unterging, das ihn seinem neuen Leben entgegenbringen würde. Es hatte zwei hohe Masten mit Rahsegeln, die vom Wind prall gefüllt würden. Später würde Jack erfahren, dass diese Art Schiff eine Brigg genannt wurde. Der Name des Schiffes stand in abblätternder weißer Farbe auf dem Rumpf: AURORA.
»He!«
Ein Mann so groß und breit wie eine Tür rempelte Jack an, als er über die Laufplanke ging. »Obacht«, sagte der Kerl mit einem gehässigen Grinsen. Er hatte einen silbernen Zahn, der in dem schwächer werdenden Licht funkelte. Der Mann starrte Jack einen Moment zu lange an und senkte dann den Kopf, um unter die Krempe von Jacks Hut zu sehen. Als Jack versuchte, an ihm vorbeizugehen, stieß er die Laufplanke an und brachte Jack zum Stolpern. Jack zog seinen Hut daraufhin einfach tiefer ins Gesicht und verschwand unter Deck, wo man die Crew angewiesen hatte, ihre Hängematten aufzuhängen.
Mit seinesgleichen hatte er schon zu tun gehabt – wenn man sie nicht mit einem Fausthieb außer Gefecht setzen konnte (und beim Anblick dieses stämmigen Kerls war Jack sich nahezu sicher, dass er das nicht konnte), ignorierte man sie am besten. Die soziale Hierarchie auf dem Schiff würde sich schon einpendeln – Jack machte sich nie darüber Sorgen, Freunde zu finden. Der kräftige Mann mit dem Silberzahn würde keine Macht über ihn haben. (Hätte er damals gewusst, wie sehr er sich irrte, hätte er sich vielleicht eine Arbeit auf einem anderen Schiff gesucht. Doch wie hätte er es wissen sollen?)
Der Mann hieß Smeaten und Jack würde schon bald herausfinden, dass er der Bootsmann des Schiffes und für die Decksleute verantwortlich war. Er war einer dieser bemitleidenswerten Männer, die stolz auf ihre Fähigkeit waren, anderen das Gefühl zu geben, sie seien klein und unbedeutend. Jeden Morgen stolzierte er aus der Kapitänskajüte, schmunzelte dabei über etwas, das er niemandem verriet, und brüllte Anweisungen heraus. »Muldon, Takelage! McGinley, Kombüse! Potter, Tee für den Käpt’n. Und Ellis .« Er ragte über Jack auf und stand so nah vor ihm, dass dieser sich nach hinten beugen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Kriegst du’s hin, das Deck zu schrubben, Ellis?«
»Ja, Sir«, antwortete Jack.
»Lauter«, blaffte Smeaten.
»Ja, Sir«, wiederholte Jack lauter und durch zusammengebissene Zähne.
Smeaten verbrachte dann jedes Mal den Rest des Morgens damit, Jack zu beobachten und seine Arbeit zu kommentieren (»Du musst in regelmäßigen Bewegungen wischen! Was bist du denn für ein Idiot? Welcher Idiot weiß nicht mal, wie man einen Boden schrubbt?«). Und dann machte er jedes Mal den Teil des Decks wieder schmutzig, den Jack bereits gewischt hatte, indem er genüsslich darüberstapfte. Zwar schikanierte Smeaten alle Matrosen, doch für Jack hatte er ganz besonders viele boshafte Bemerkungen und Gehässigkeiten übrig.
Am Ende des ersten Monats stellten sich Jack und die anderen Männer vor dem Zahlmeister des Schiffes an, der jedem eine Handvoll Münzen als Lohn auszahlte. Smeaten fing Jack auf dem Weg zu seiner Hängematte ab, drängte ihn in eine Ecke und drückte ihn mit einem massigen Unterarm gegen die Schottwand, noch ehe Jack sich herauswinden konnte. Mit der anderen Hand riss der Mann ihm den Hut vom Kopf. »Warum trägst du immer diesen Hut?«, fragte er und blies ihm seinen übel riechenden Atem ins Gesicht. »Haste was zu verbergen, hm?« Smeaten grinste so breit, dass Jack seinen Silberzahn sehen konnte. »So ein gut aussehendes Gesicht«, fuhr er fort, »sollte man doch nicht verstecken. Und so einprägsam, gell? Genau die richtige Art von Gesicht, um in der Zeitung zu erscheinen.« Mit einem dreckigen Finger fuhr er über die Narbe an Jacks Hals und ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Smeaten wusste, wer er war. Er hatte ihn erkannt.
Der Bootsmann nahm den Arm weg und ließ Jack von der Schottwand los, doch der wusste, dass er nirgendshin konnte.
»Ich hab ’ne Schwester drüben in Edinburgh. Die erzählt mir immer, was dort so alles los ist. Sie zeigt mir auch Zeitungen. Hab dich auf den ersten Blick erkannt. Kirkyard-Killer. «
»Sie irren sich«, erwiderte Jack mit einem mulmigen Gefühl, wenngleich er wusste, dass Smeaten ihm nicht glauben würde.
»Ich sollt es dem Käpt’n gleich hier und jetzt erzählen«, meinte Smeaten und hob ein wenig die Stimme, was Jack zusammenschrecken ließ. »Der Käpt’n wär bestimmt nicht sehr erfreut, einen Mörder an Bord zu haben. Dann biste also dem Strick entkommen, was? Ich frag mich, ob du am Meeresgrund vielleicht mehr Glück hättest.«
Da Jack nicht wusste, was er erwidern sollte, schwieg er und ging in Gedanken alle Möglichkeiten durch, wie er Smeaten und dem Schiff entkommen könnte. Doch es schien nur herzlich wenige zu geben.
Smeaten packte Jack am Handgelenk und stemmte dessen Finger auf. »Ich glaub, die nehm ich mal«, sagte er und schnappte sich die Münzen aus Jacks Hand. »Und ich glaub, die nehm ich dann mal jeden Monat. Es sei denn, natürlich, du willst, dass das ganze Schiff erfährt, dass wir einen Mörder an Bord haben. Aber vielleicht erzähl ich’s dem Käpt’n ja trotzdem, wenn wir anlegen. Wär ja nur rechtmäßig, König und Land zu dienen. Ich bin nämlich von der gesetzestreuen Sorte.«
»Wenn ich ein Mörder bin«, gab Jack zurück, »sollten Sie mich vielleicht nicht zu Ihrem Feind machen.«
Smeaten gluckste nur hämisch. »Du bist der Dreck an meinem Schuh, Junge . Und ich würd mich nur zu sehr freuen, wenn sie dich wieder einfangen und dich noch mal aufknüpfen. Dann schau ich zu und vergewissere mich, dass du wirklich tot bist.«
Er schlenderte davon, während er im Gehen die Münzen in seiner Hand klimpern ließ, und Jack sank aufs Deck. Das Schwindelgefühl, das ihn überkam, hatte nichts mit dem schwankenden Schiff zu tun. Er saß in der Falle.
Dasselbe Szenario wiederholte sich vier Wochen später: Jack bekam seinen Lohn und Smeaten verlangte für sein Schweigen die volle Bezahlung. Die Demütigung des Ganzen schmerzte ebenso sehr wie das verlorene Geld. Die anderen Matrosen fingen an, einen großen Bogen um Jack zu machen, weil sie nicht richtig schlau aus ihm wurden und sich fragten, warum Smeaten ausgerecht ihn zu seinem Prügelknaben auserkoren hatte. Alle an Bord schienen sich einig zu sein, dass Jack Unheil brachte und es ihr Leben nur schwerer machen würde, sich mit ihm abzugeben.
Jack brauchte ein Wunder und musste einen Ausweg aus dieser Situation finden, bei der die Gefahr immer größer wurde, erwischt zu werden. Doch stattdessen erlitt die Aurora eine Katastrophe.
Jack hatte noch nie einen solchen Sturm erlebt. Natürlich hatte es auch in Edinburgh geregnet – manchmal regnete es wochenlang nahezu pausenlos. Aber auf hoher See war der Regen überall . Er schien aus jeder Richtung gleichzeitig zu kommen, zerfledderte einem die Haut und durchnässte einen in Sekundenschnelle. Nach einem schönen Tag, an dem sie gut vorangekommen waren, brach das Unwetter ohne Vorwarnung los. Jack und die Besatzung wurden von dem heftigen Schlingern und dem Geschrei auf dem Hauptdeck über ihnen geweckt. Sie sprangen sogleich in Aktion und zogen an den Gordings. Jack schloss sich den Toppsgasten an, die die Maste hinaufkletterten, um die gerefften Segel zusammenzuschnüren, bevor das Schiff von den Winden unter die Wellen gezogen wurde.
Einer der Matrosen hinter Jack stürzte beim Hinaufklettern vom Mast. Mit einem widerlichen Knacken prallte der Junge gegen die Seite des Schiffes und verschwand dann über Bord.
Der Wind war unfassbar stark und verschluckte Schreie, kaum dass sie ausgestoßen wurden. Als schließlich eine große Welle so hoch wie drei aufeinandergestapelte Schiffe auf sie zurollte, schrie niemand mehr. Oder vielleicht hatte Jack sie einfach nicht hören können.
Das Letzte, was Jack mit seinem rechten Auge sah, war ein abgebrochenes Stück der hölzernen Takelage, das geradewegs auf ihn zuraste.
Da war nichts. Nicht einmal Dunkelheit. Eine so stockdustere Leere, dass Jack sie nicht einmal beschreiben konnte. Und dann kam der Salzgeschmack und das Gluckern des Wassers, das seine Lungen und seinen Magen gefüllt hatte. Triefend nass und mit zitternden Fingern, klammerte er sich an ein schwimmendes Stück Holz, das, wie er später feststellte, ein Teil des Schiffsrumpfs gewesen war. Die HMS Aurora existierte nicht mehr – der Sturm hatte sie in tausend Stücke zerschmettert und jede Seele an Bord war umgekommen. Jack war auch gestorben. Oder zumindest wäre er gestorben.
Stattdessen trieb er auf hoher See: sterbenshungrig, aber unfähig zu verhungern, unvorstellbar durstig, aber unfähig zu verdursten. Er war auf einem Auge blind – ein großer Holzsplitter ragte aus der Augenhöhle, wie eine Fahnenstange. Von seiner Zeit mit Hazel erinnerte sich Jack noch daran, dass es alles nur schlimmer machen würde, das in der Wunde verbleibende Objekt zu entfernen, solange er die Verletzung nicht versorgen konnte, und so rührte er es nicht an. Eins seiner Beine war gebrochen und stand in einem Winkel ab, bei dessen Anblick er Meereswasser und Galle erbrach.
Als die HMS Iphigenia ihn schließlich entdeckte, war Jack von Kopf bis Fuß tiefrot und seine Haut schälte sich von der Sonne. Zudem hatte er so stark abgenommen, dass sich jede einzelne Rippe und die Wölbung seines Brustkorbs darunter deutlich abzeichneten. Wäre er nicht unsterblich gewesen, wäre er gleich zehnmal gestorben.
Dann , dachte Jack, werde ich also wirklich für immer leben .
Die Iphigenia war eine Fregatte mit sechsunddreißig Kanonen, drei hohen Masten und einer stolz wehenden britischen Flagge. Der Schiffsarzt an Bord hatte es nicht fassen können, dass Jack noch am Leben war. »Schon allein der Blutverlust«, murmelte er, während er den Holzpflock untersuchte, der nach wie vor in Jacks Auge steckte. Jack zuckte zusammen, als der Chirurg, ein älterer Mann mit dünnem weißem Haar so flaumig wie gezupfte Baumwolle, an ihm herumhantierte. Jack bekam einen Lederstreifen, auf den er beißen konnte, während der Schiffsarzt sich mit einem kleinen Skalpell an die Arbeit machte.
»Schauen Sie sich lieber nicht an, wie es darunter aussieht«, warnte er Jack, der sich mit einer brandneuen Augenklappe in einem Krankenbett erholte. (Irgendwann konnte Jack dann doch nicht widerstehen und ihm stockte beim Anblick der leeren, feuchten und violetten Augenhöhle der Atem.)
Nach zwei Wochen war Jack schließlich wieder kräftig genug, um sich auf dem Schiff zu bewegen, humpelte jedoch mit dem gebrochenen Bein, das der Schiffsarzt gerichtet hatte. Dem Offizier an Bord hatte er sich als Jack Ellis vorgestellt und behauptet, dass er der Bootsmann auf der Aurora gewesen sei.
»Und davor? Ist das nicht ein Edinburgh-Akzent?«
»Ja, Sir«, sagte Jack. »Ich war … Kammerdiener. Der persönliche Kammerdiener einer adligen Edinburgher Familie.«
»Welcher Familie«?, fragte der Offizier. Die Härchen seines Schnurrbarts stellten sich auf.
Jack schluckte schwer, aber ihm fiel sofort eine Antwort ein: »Captain und Lady Sinnett. Auf Hawthornden Castle.«
Der Erste Offizier schien mit dieser Antwort zufrieden, und als Jack es wieder gut genug ging, um die Krankenstube zu verlassen, setzte er ihn als Schiffskoch ein. Das Schiff war südlich in Richtung der Blockade entlang der Westküste Afrikas unterwegs, um Sklavenschiffe abzufangen, und würde seinen Kurs nicht für einen Schiffbrüchigen ändern. Und so verbrachte Jack den Rest der Reise ohne klaren Status, denn er gehörte weder zur Besatzung, noch war er ein Gast.
Aber die englischen Matrosen, mit denen er sich eine Kabine teilte, waren freundlich – wenngleich sie sich ein bisschen zu sehr über Jacks singenden schottischen Tonfall amüsierten. Doch Jack begriff, dass er sich einen Platz an Bord nur sichern konnte, wenn er sich unentbehrlich machte. Und so stand er vor allen anderen auf und half, das Deck zu schrubben und Kartoffeln in der Kombüse zu schälen, ehe er in seine Livree schlüpfte, die man ihm gegeben hatte, um den Offizieren ihre Mahlzeiten aufzutragen.
Es war harte Arbeit, aber Arbeit, die Jack sehr schnell erlernte. Die Regeln an Bord eines Schiffes der Royal Navy waren klar definiert und die Routine an Bord hatte etwas Beruhigendes.
»Was ist das für ein Schiff da drüben?«, fragte Jack eines Nachmittags einen englischen Jungen namens Thomas, mit dem er sich angefreundet hatte. Thomas war neunzehn Jahre alt mit dem Gesicht und der Stimme eines Kindes – er ließ sich stolz einen Schnurrbart wachsen, der Jacks Ansicht nach aber nicht viel mehr als ein wenig Flaum war.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Thomas die Segel in der Ferne. »Französisches Schiff, dem Aussehen nach zu urteilen«, erklärte er. »Wahrscheinlich ein Handelsschiff. Aber …«, er strich sich nachdenklich über den nicht vorhandenen Schnurrbart, »man sieht nicht oft ein Handelsschiff mit so vielen Kanonen.«
Das französische Schiff kam immer näher – und jedes Mal, wenn Jacks Pflichten ihn zurück aufs Deck brachten, erschien dessen Rumpf größer am Horizont.
»Kein Grund zur Sorge!«, rief Thomas hinunter zu Jack. (Thomas schnürte gerade die Segel an den Mast.) »Mit Frankreich herrscht jetzt Frieden, was aber nicht heißt, dass sie nicht Wer zuerst kneift mit uns spielen wollen.«
Just in diesem Augenblick feuerte das französische Schiff auf sie und hisste gleichzeitig eine schwarze Flagge. »Piraten!«, schrie der Erste Offizier.
Im Nu stand der Kapitän des Schiffes, Robert Mends, in voller Uniform und mit einem Schwert an seiner Seite auf dem Deck. »An die Kanonen, Jungs!«, schrie er. »Hart backbord abdrehen!«
Das Kanonenfeuer der Piraten hatte die Iphigenia gefährlich ins Schlingern gebracht. Jack sah nach oben: Thomas hielt sich nur noch mit den Fingerspitzen am Mast.
Jack dachte gar nicht erst nach. Er war schließlich unsterblich. Er packte das Seil, schlang es sich um die Schulter und fing an zu klettern. »Nein!«, rief der Erste Offizier, als er sah, was Jack vorhatte.
»Zu spät!«, schrie Jack hinunter. Während das Schiff heftig schwankte und unter ihm wegfiel, kletterte er, so schnell er konnte, und erreichte Thomas, dessen Finger anfingen abzurutschen.
»Hier«, sagte Jack, zog Thomas auf die Takelage und gab ihm das Seil. »Benutz es, um nach unten zu klettern.«
»Brauchst du es denn nicht?«, fragte Thomas mit klappernden Zähnen. Vor ein paar Abenden hatte er Jack erzählt, dass das seine erste Reise als Matrose der Royal Navy war. Und Jack hatte so getan, als würde er nicht hören, wie Thomas sich nachts übergab.
»Nein«, sagte Jack. »Ich bleib hier oben.«
Und als das französische Schiff die Seite der Iphigenia traf und die Piraten mit Messern zwischen den Zähnen und Waffen in ihren Gürteln auf Seilen herüberschwangen, stand Jack oben und rief dem Ersten Offizier und Captain Mends jede ihrer Bewegungen zu. »Es sind noch drei an Bord, Sir! Feuern gleich die Kanone ab.«
Mends brüllte einer Gruppe Matrosen zu, als Erste zu feuern, und die französischen Piraten hatten keine Chance.
Jack beobachtete, wie einer der Piraten auf der anderen Seite des Decks mit einer gespannten Pistole auf den Captain zielte. Ehe Jack wusste, was er tat, sprang er nach unten und zog ein Messer durch das Leinensegel, um seinen Fall zu verlangsamen.
»Das würde ich mir noch mal überlegen«, sagte er, als er unten ankam und dem Piraten mit der Pistole das Messer an die Kehle hielt. »Gib sie mir.«
Jack fesselte dem Piraten die Hände so stramm hinter dem Rücken, dass es rote Striemen hinterließ. Dann zwinkerte er ihm zu. »Danke für die Pistole«, sagte er und stürzte sich wieder ins Getümmel.
Letzten Endes verlor die HMS Iphigenia keinen einzigen Mann und die Besatzung fackelte nicht lange, enterte das Kaperschiff – eine schnittige, aber robuste, bewaffnete Brigg namens Maria – und übernahm es.
»Ausgezeichnete Arbeit«, lobte Captain Mends Jack, als sie die Gefangenen zusammenbanden.
»Jack, Sir. Jack Ellis.«
»Ellis, ja. Der Schiffbrüchige aus Schottland. Es gibt Männer in der Royal Navy, die im Kampf nicht so mutig gewesen wären wie Sie.«
»Danke, Sir.«
Mends drehte sich zum Ersten Offizier um. »Versetzen wir Smithee auf die Maria , um sie zurück nach London zu bringen, und Jack hier wird mein persönlicher Steward auf der Iphigenia .« An Jack gewandt, fügte er hinzu: »Und sobald wir wieder an Land gehen, hoffe ich, dass Sie sich überlegen werden, offiziell der Navy beizutreten.«
Von diesem Tag an diente Jack als persönlicher Steward des Captains, und als das Schiff in London anlegte, war er Teil der Besatzung, die wie Helden empfangen wurde: die Gruppe englischer Matrosen, die französische Freibeuter nicht nur ohne einen einzigen Toten zurückgeschlagen hatten, sondern auch noch eins ihrer Schiffe erobert hatten.
Hazel hatte nicht einmal gemerkt, dass ihr Tee kalt geworden war. Sie hatte den Blick nicht von Jack genommen, während er ihr erzählte, was ihm seit ihrer letzten Begegnung alles widerfahren war. Ihr ging das Herz über. Monatelang hatte sie geglaubt, dass sie Jack, sollte sie ihn je wiedersehen, fest an sich drücken würde, bis ihm die Luft wegblieb. Und nun saßen sie einander gegenüber, tranken Tee und versuchten sich daran zu erinnern, wie man eine zivilisierte Unterhaltung führte.
»Tut es noch weh?« Hazel zeigte auf sein rechtes Auge.
Jack führte reflexartig die Hand an die Stelle. Er nickte. »Vermutlich wäre es besser geheilt, wenn du den Eingriff vorgenommen hättest. Der Arzt war alt – seine Hände haben ununterbrochen gezittert. Er behauptete, es läge am Schwanken des Schiffes. Er hatte nichts von dem … nichts von dem Zeug, dass Beecham seinen Patienten vor den Operationen gegeben hat. Die Tropfen von dieser magischen Flüssigkeit.«
Hazel lächelte schwach.
»Aber es macht wohl keinen Unterschied«, sagte Jack. »Ich habe ja die starke Dosis bekommen.«
Sie sahen einander an und Hazel fragte sich, ob Jack ebenso viel Angst hatte wie sie oder ob sie nur ihre eigene widergespiegelte Furcht sah.
»Und wie lange bleibst du in London?«, fragte Hazel.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jack. »Ich hatte eigentlich nicht vor, der Royal Navy beizutreten.«
»Ich wollte schon sagen«, meinte Hazel, »dass ich mir nicht hätte vorstellen können, wie du in der Marine auf Kommando salutierst.«
»Es fällt mir einfach zu schwer, mich an die Regeln zu halten«, erwiderte Jack und zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte er so breit, dass seine langen Eckzähne zu sehen waren.
»Ach?«, sagte Hazel und ihr Herz fing an zu hämmern.
»Sehr schwer«, wiederholte Jack. Vorsichtig setzte er seine Tasse auf den Unterteller. »Ich kann ihnen eine Weile lang was vormachen. Aber irgendwann?«
Sie saßen einander immer noch gegenüber, doch Hazel spürte eine Schwere zwischen ihren Beinen und beobachtete, wie Jacks gutes Auge zu ihren Lippen schnellte.
Ein Klopfen an der Tür brachte Hazel zurück in ihren Körper. »Ich sollte darauf antworten«, flüsterte sie.
»Solltest du?«
Die Kammerzofe erschien in der Tür des Wohnzimmers. »Miss, ein Mr Simon von Ferris wartet an der Tür für Sie«, sagte sie und wandte den Blick von Hazel und Jack ab, die so nah beieinandersaßen, dass es jeden aus guter Gesellschaft schockiert hätte.
Jack schlug noch einmal die Beine in die andere Richtung übereinander. »Geh ruhig«, sagte er. »Ist schon in Ordnung. Ich werde meinen Tee austrinken.«
Hazel, der sich immer noch der Kopf drehte, folgte der Zofe nach draußen zur Eingangstür, wo Simon mit einer Handvoll Osterglocken auf der Treppe wartete.
»Guten Morgen, Miss Sinnett«, sagte er und küsste ihre Hand trocken. Die Ringe unter seinen Augen waren so dunkel, wie Hazel sie noch nie gesehen hatte, geschwollen und violett. Und seine Augen waren blutunterlaufen und feucht. Er sah aus, als wäre er die ganze Nacht auf gewesen – nachdem er eine Woche nicht geschlafen hatte.
Hazel sah auf die Blumen in seiner Hand hinunter und Simon folgte ihrem Blick. Er schien darüber überrascht, dass er sie in der Hand hielt. »Für Sie«, sagte er und hielt ihr die Osterglocken hin, als hätten sie bereits an der Türschwelle auf sie gewartet und er hätte sie nur aufgehoben, damit sie sich nicht hinunterbücken musste.
Osterglocken. Hazel wusste, was diese Blumen symbolisierten: Hochachtung und Respekt. »Die sind wunderschön, Dr. von Ferris, danke.« Während sie sprach, konnte sie spüren, wie Jack auf die geschlossene Wohnzimmertür starrte und jedem ihrer Worte lauschte.
»Sie können mich Simon nennen, wissen Sie, Miss Sinnett«, sagte er leise.
»Und dennoch nennen Sie mich immer noch Miss Sinnett.«
Simon lächelte, doch er wirkte schmerzerfüllt. Die Erschöpfung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Geht es Ihnen gut, Simon von Ferris?«, fragte Hazel. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee?« In Gedanken verfluchte sie sich für ihre Gastfreundschaft – sie konnte nicht mit Simon Tee trinken, wenn Jack bereits im Wohnzimmer saß, zweifellos mit dem Ohr am Schlüsselloch.
»Nein, danke«, erwiderte Simon. »Ich habe die vergangenen Tage in der Krankenstation verbracht und gearbeitet und mich daran erinnert, irgendwo gelesen zu haben, dass frische Luft gute Laune und das Denken fördert. Ich dachte, dass Sie vielleicht Interesse hätten, mich bei einem kurzen Spaziergang durch St. James’s Park zu begleiten.«
»Oh, ich …«, sagte Hazel, und ehe sie sich davon abhalten konnte, sah sie instinktiv nach hinten zur Wohnzimmertür.
Simons Blick folgte ihr und dann bemerkte er etwas: Jacks Mantel, der im Eingang hing.
»Ah«, sagte Simon. »Wie ich sehe, haben Sie bereits Gesellschaft. Verzeihen Sie die Störung, Miss Sinnett.«
»Sie stören überhaupt nicht«, erwiderte Hazel.
Simon hob eine Hand. »Es war dennoch eine törichte Exkursion. Ich sollte ohnehin an die Seite Seiner Königlichen Majestät zurückkehren.«
»Wie geht es ihm?«, fragte Hazel, erleichtert, dass sie einen Weg gefunden hatte, die Unterhaltung wieder auf festen Boden zu bringen.
»Sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Und nichts – nichts –, was ich tue, bringt auch nur die geringste Besserung und …« Er ballte die Hände zu Fäusten, entspannte sie dann aber wieder mit einem langen Seufzer. »Verzeihen Sie bitte. Ich vergesse mich.«
»Das tun Sie nicht«, sagte Hazel. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Manche Probleme«, gab Simon traurig zurück, »lassen sich nicht lösen. Sie können lediglich ertragen werden. Haben Sie einen angenehmen Morgen, Miss Sinnett.« Er verbeugte sich, machte auf dem Absatz kehrt und ging, ehe Hazel noch irgendetwas erwidern konnte.