29
D ie düstere Stimmung hatte ganz London erfüllt und sich auch im Club der Todesgefährten in Seven Dials ausgebreitet. Im Kamin brannte ein klägliches kleines Feuer, mehr Asche und Rauch als Flammen. Madame Thire, die in einen knöchellangen, durchsichtigen schwarzen Schleier gehüllt war, trank Tee aus einer winzigen Porzellantasse. Banneker starrte ins Leere, den Kopf auf die Hände gestützt. Charles Armitage Brown las eine Zeitung nach der anderen, als könnte er ihnen, wenn er sie nur sorgfältig genug zerpflückte, eine andere Version der Ereignisse entlocken, in denen die Prinzessin noch am Leben oder die ganze Sache lediglich ein grausamer Streich war.
Byron saß mit gerunzelter Stirn seitlich auf einem Stuhl und ließ beide Beine auf der Lehne ruhen. »Schrecklich«, klagte er. »Unser wunderschöner, romantischer Traum, aus und vorbei! Welche Hoffnung bleibt den Whigs da noch? «
Marie-Anne schrieb gerade in ein großes Bestandsbuch, sah bei Byrons Wehklage jedoch auf. »Wir werden tun, was wir immer getan haben«, sagte sie.
»Und das wäre?«, fragte Byron. »Gedichte schreiben? Das tue ich bereits.«
»In die Zukunft blicken natürlich«, erwiderte Marie-Anne. Ihre Stimme war leicht und melodisch, fast so, als würde sie singen. »Die Prinzessin ist tot. Der Prinzregent – oder wohl wieder lediglich der Prinz – wird König werden, wie es ohnehin geschehen wäre. Und nun wird eines seiner jüngeren Geschwister heiraten und ein legitimes Kind bekommen müssen, das dann eines Tages seinerseits König oder Königin werden wird. Vielleicht wird der Herzog von Clarence uns einen Erben schenken. Oder Cambridge. Oder Kent. Geduld, George. Die Dinge sind zwar ein wenig komplizierter, aber nichts ist aus und vorbei.«
»Aber wie lange wird das dauern?«, fragte Byron.
»So lange, wie es eben dauert«, antwortete Marie-Anne.
Als Hazel eintraf, drehte sich der gesamte Raum zu ihr um und starrte sie an. Niemand sagte ein Wort. Die Stille dauerte so lange an und lag so schwer in der Luft, dass Hazel sich verlegen räusperte. »Ich … ich wünschte, ich hätte mehr tun können«, sagte sie schließlich. »Es … tut mir leid.«
Dann stand Banneker auf und klopfte ihr auf die Schulter. »Wir wissen, dass Sie alles getan haben, was Sie konnten«, sagte er leise, ohne sie anzusehen.
Byron prustete.
Hazel näherte sich Marie-Anne Lavoisier mit sanften Schritten. Sie sprach kaum lauter als ein Flüstern, weil sie die Anwesenden nicht noch mehr stören wollte. »Dürfte ich vielleicht einen Teil der Ausrüstung oben im Labor für meine eigene Forschung nutzen?«
»Ja«, antwortete Marie-Anne. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden.«
»Zu spät, um ein Heilmittel zu finden!«, rief Byron von der anderen Seite des Raums. Hazel beachtete ihn nicht.
»Wäre es vielleicht auch möglich«, fragte sie mit pochendem Herzen weiter, »dass Sie mir eine Probe der Tinktur geben, damit ich mit ihr arbeiten kann?«
Marie-Anne reinigte ihre Feder und legte sie neben ihr Buch. »Miss Sinnett«, begann sie, »sosehr ich mich auch über Ihr leidenschaftliches wissenschaftliches Interesse freue, aber Antoine und ich haben es uns zu einer unumstößlichen Regel gemacht, die Zusammensetzung der Tinktur anderen weder beizubringen noch sie mit ihnen zu teilen. Wenn Sie also die Hoffnung hegen, sie zu reproduzieren …«
»Nein«, unterbrach Hazel sie schnell. »Das ist es nicht. Ich möchte ihre Wirkung rückgängig machen.«
»Es geht um den Matrosen«, stellte Marie-Anne fest.
Es hatte keinen Sinn zu lügen. »Ja.«
Wenn Hazel Zugang zur Tinktur hätte und zumindest verstehen könnte, wie sie funktionierte – wenn auch nicht, wie man sie herstellte –, dann könnte sie vielleicht herausfinden, wie man ihre Wirkung rückgängig machte. Seit Beechams scheinbarem Tod war einige Zeit vergangen und sie hatte nicht einmal das leiseste Gerücht gehört, dass ein anderer Verwandter von ihm in Europa aufgetaucht war. Oder dass irgendein junger Chirurg plötzlich aus dem Nichts und mit Fähigkeiten auf der Bildfläche erschienen war, die weit über seine vermeintliche Erfahrung hinausgingen. Hazel fiel es immer leichter, sich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich tot war. Und wenn Beecham fähig war, seiner Unsterblichkeit und seinem Leben ein Ende zu setzen, könnte Hazel auch Jack wieder sterblich machen.
Marie-Anne erhob sich. »Als ein, wenn auch nicht vollständiges, Mitglied der Todesgefährten steht Ihnen wohl eine Phiole zu, mit der Sie tun und lassen können, was Sie wollen.« Sie zog den Schlüssel aus ihrem Dekolleté, wo er an einer Kette um ihren Hals hing. »Ich werde den Schrank aufschließen.«
Hazel folgte der Chemikerin die knarzenden Stufen hinauf zum Labor. Sie fragte sich, ob Marie-Anne ihr den Tod der Prinzessin ebenfalls übel nahm und ihr insgeheim vorwarf, sie nicht richtig behandelt zu haben. Dabei hatte es sich bereits herumgesprochen, dass die »Alpine Blutkrankheit« eine solch seltene und tödliche Erkrankung sei, dass keine Behandlung Charlotte hätte heilen können. Oder vielleicht wusste Marie-Anne auch, dass etwas an dieser Geschichte faul war. Mit jedem weiteren Schritt die Hintertreppe hinauf hatte Hazel das Gefühl, in eine Falle zu tappen.
Aber nein, das Labor war leer: Nicht einmal Antoine war da. Seine Experimente waren ordentlich weggeräumt, die Tische waren sauber und die Sonne schien klar und hell durch die gekrümmten Fensterscheiben. In dem Raum war es warm, weil das Glas die Hitze wie in einem Gewächshaus zurückhielt.
Der Schrank war ein riesiges, imposantes Möbelstück aus schwarzem Holz und größer als Hazel und Marie-Anne. Er hatte ein fleckiges und grün patiniertes Messingschloss. Marie-Anne steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn.
Da waren sie: ein Dutzend Phiolen der Tinktur. Obwohl Hazel sie inzwischen viele Male gesehen hatte, war sie jedes Mal aufs Neue von ihrer unmöglichen, zugleich schwarzen und goldenen Farbe fasziniert. Zwar handelte es sich um eine Flüssigkeit, doch sie schien wie Gas umherzuwirbeln. Sie hinterließ sogar einen milchigen Glanz auf den Seiten des Fläschchens.
In dem Schrank waren noch andere Regale: Auf dem untersten standen verkorkte Phiolen mit der verdünnten goldgelben Tinktur, die dafür sorgte, dass tote Gliedmaßen wieder anwuchsen.
Und dann waren da noch, wie in einem Apothekerladen, Reihen von winzig kleinen Schubfächern, versehen mit der ordentlichen Handschrift, die Hazel inzwischen als Marie-Annes wiedererkannte. Hazel trat einen Schritt näher heran. Ein Geruch, ein vertrauter Duft nach Erde und Verwesung strömte aus dem Schrank, ein Geruch, den die Sommerhitze noch verstärkte.
»Hier, bitte schön«, sagte Marie-Anne und nahm eine Phiole der Tinktur aus ihrem Schrank und hielt sie Hazel hin. Ihr Pfropfen war mit schwarzem Wachs versiegelt. »Sie können damit tun, was Sie wollen. Selbst wenn Sie es mit Experimenten verschwenden wollen, bei denen nichts herauskommen wird.«
Aber Hazel war abgelenkt. Der Geruch war ihr vertraut wie ein vergessener Traum, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Und er kam aus einem der winzigen Schubfächer des Schranks. »Was bewahren Sie darin auf?«, fragte Hazel.
Marie-Anne blinzelte. »Diverse Chemikalien für unsere Experimente. Einreibemittel. Kräuter. Mineralien. Mein Ehemann und ich sind Chemiker, Miss Sinnett.«
Hazel konnte nicht anders. Der Geruch wurde immer stärker und summte wie eine Sirene in ihrem Gehirn. Und dann, wie im Traum, streckte sie die Hand nach einem der kleinen hölzernen Schubfächer aus und öffnete es, ehe Marie-Anne protestieren konnte.
Es war Schimmel. Flaumige Sporen, säuregrün und schwarz, die am ganzen Innern der Schublade klebten. Es war lebendiger, atmender Schimmel, widerlich und penetrant, und Hazel wusste sofort, wo sie das schon einmal gerochen hatte. Die Antwort stand auf dem Etikett vorne am Schubfach in Marie-Annes eleganter Handschrift: Kew.
»Sie«, begann Hazel, zog das Schubfach ganz heraus und ließ es auf den Boden krachen. Schimmelsporen flogen hervor und verteilten sich auf dem Boden. »Sie … haben den König vergiftet. Sie haben dafür gesorgt, dass er seinen Verstand verliert.«
»Reden Sie kein albernes Zeug, Miss Sinnett«, gab Marie-Anne zurück, die alles andere als zum Scherzen aufgelegt war.
»Sie haben die Wände Seiner Majestät mit Schimmel infiziert. Sie wussten, was mit dem Arsen in der Tapete passieren würde. Natürlich waren Sie es. Vermutlich haben Sie sein Schlafgemach höchstpersönlich damit tapeziert! Sie oder ein anderer Ihrer … Ihrer Gefährten .«
Marie-Anne seufzte. Sie beugte sich vor, kehrte die heruntergefallenen Schimmelsporen mit den Fingern in das Schubfach und steckte dieses zurück in das leere Quadrat im Schrank. Hazel trat einen Schritt zurück, während Marie-Anne sich seelenruhig den Staub und die Überreste von den Händen klopfte.
»Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu erklären«, sagte Marie-Anne. »1789, noch ganz am Anfang der Französischen Revolution, waren Antoine und ich begeistert. Überall um uns herum sahen wir Veränderungen. Eine neue Ära der Vernunft und der Wissenschaft würde beginnen! Wir sahen die Marktfrauen des Pariser Fischmarkts mit ihren Piken auf Versailles zumarschieren. Von den Köpfen königlicher Garden tropfte das Blut auf die erfreuten Massen darunter und selbst in diesem Moment hielten wir die Wut des Volkes noch für gerechtfertigt. Wir waren der Meinung, dass der König und die Elite ihre Macht missbraucht und sich zu viel von dem Land genommen hatten, das nunmehr etwas dafür zurückverlangte.
Es gab eine Zeit, 1791 oder 1792, noch vor den Ereignissen, die jetzt als die Schreckensherrschaft bekannt sind, da hätten Antoine und ich noch aus Frankreich fliehen können. König Ludwig XVI. und Marie-Antoinette waren zu dem Zeitpunkt in Paris im Gefängnis, aber sie waren am Leben. Das Volk war gerade dabei, eine aus der Aufklärung geborene, neue Art von Regierung, ein neues Frankreich auszuhandeln. Und wir wussten, dass es wütend auf diejenigen war, die vom Ancien Régime profitiert hatten, auf Leute wie Antoine und mich. Aber Antoine war ein Mitglied der Académie des Sciences – der Akademie der Wissenschaften. Er wollte alles, was er aufgebaut hatte, beschützen, verstehen Sie? Er war ein Diener, nicht des Königs, sondern des Volkes.
Im Frühjahr 1794 holten sie ihn schließlich. Am Tag seiner Verhaftung blühten in Paris Narzissen und Osterglocken, das weiß ich noch. Sie nahmen ihn, meinen Vater und zwanzig andere Männer mit und köpften sie jubelnd auf der Straße. Sie jubelten , Miss Sinnett, als der Kopf meines Antoines fiel.
Ich respektiere das Volk«, sagte Marie-Anne. »Eine Nation muss im Dienst seines Volkes stehen und seine Regierung muss es vertreten. Unser Land sollte nicht, wie es die Tories zu glauben scheinen, von einem Despoten geführt werden. Sie glauben, dass die starke Faust eines Königs für Sicherheit und Ordnung sorgt. Ich habe aus erster Hand erlebt, dass dies nicht der Fall ist.«
»Dann haben Sie also tatsächlich versucht, König George umzubringen?«, fragte Hazel. »Weil Sie die Monarchie so sehr hassen?«
Marie-Anne sah Hazel mitfühlend an. »Nein«, gurrte sie. »Natürlich nicht. Wenn wir den Tod des Königs wollten, wäre er schon tot. Wir wollten ihn … kontrollieren können. Es ist ein heikles Gleichgewicht, wissen Sie. Ist der König zu stark, schlägt das Volk zurück. Wird der König vollends gestürzt … herrscht Chaos. Eine Nation braucht einen Anführer und muss gleichzeitig von Menschen mit Visionen und Intelligenz gelenkt werden. Der Prinz ist ein Narr – Sie wissen das. Unbeliebt und ungeliebt. Aber er lässt sich leicht kontrollieren und leiten. Und …« – sie fuhr mit dem Finger über die Schneide des Skalpells – »… nach dem Prinzen hätte Charlotte den Thron bestiegen. Die arme, brillante, todgeweihte Charlotte. Die dazu erzogen wurde, die Rolle einer Monarchin in einer modernen Welt zu verstehen und dem Volk zu dienen.«
Marie-Anne hob das Skalpell und betrachtete seine scharfe Klinge. »Ein langes Leben verleiht einem eine neue Perspektive, Miss Sinnett. Es lässt die Dinge … kleiner erscheinen. Wir können bereits den ganzen Wandteppich sehen, noch während er gewirkt wird, verstehen Sie? Und mit dem Besitz dieser besonderen Macht geht eine sehr spezifische Pflicht einher. Die Todesgefährten haben ein Ziel: die Nation zu lenken. Sanft wohlgemerkt, aber wir wollen sie lenken wie ein Kutscher ein temperamentvolles Pferd. Denn Pferde benötigen Zügel und Befehle, damit sie auf der richtigen Straße galoppieren.«
Marie-Anne ging mit dem Skalpell in der Hand auf Hazel zu. »Wie schade, dass England seine Prinzessin verloren hat. Eine wahre Schande «, sagte sie und sprach jede Silbe überdeutlich aus. Ihre Zunge schnalzte über die Worte. »Alpine Blutkrankheit , das war es doch?«
»So heißt es«, bestätigte Hazel, die sich zwang, nicht nervös zu wirken und sich gerade zu halten. Ihr Herz pochte laut und sie fragte sich, ob Marie-Anne es vielleicht hören konnte. Fragte sich, ob die Französin die Lüge in ihren Augen, in ihren erweiterten Pupillen und ihrem schnellen Blinzeln erkennen konnte.
Und im nächsten Augenblick schloss sich Marie-Annes linke Hand um Hazels Kehle.
Die Todesgefährtin drückte zu .
Hazel schnappte nach Luft. Ihr Gesicht wurde heiß und rot; die Sehnen in ihrem Hals spannten sich gegen den festen Griff. Sie wollte Marie-Annes Hand um ihren Hals lösen, doch all ihre Kraft hatte sie verlassen. Nach Luft ringend, versuchte Hazel vergeblich, sich gegen ihre Angreiferin zu wehren. In der Ecke ihres Blickfelds blitzte etwas auf: Marie-Anne hielt immer noch das Skalpell in der anderen Hand.
»Wo ist Prinzessin Charlotte?«, fauchte die Todesgefährtin durch zusammengebissene Zähne. »Was haben Sie getan?«
Ein grässliches Röcheln zwängte sich aus Hazels Kehle und sie antwortete mit dünner, heiserer Stimme: »Tot.«
Hazel schlug mit den Armen um sich und zerspringendes Glas war zu hören: Sie hatte die Phiolen im Schrank zerbrochen. Die Fläschchen rollten umher und ihr Inhalt ergoss sich auf die Holzregale und den Boden. Doch Marie-Anne achtete gar nicht darauf, sondern umklammerte Hazels Hals nur noch fester. »Halten Sie mich nicht zum Narren, Miss Sinnett. Wir haben Sie hier willkommen geheißen . Ich habe Sie hierher eingeladen. Bringen. Sie. Die. Prinzessin. Zurück. « Die Welt um Hazel herum verdunkelte sich. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Kopf aus und sie öffnete und schloss den Mund wie ein gestrandeter Fisch. »Ich werde Sie zerstören . Zu viel steht auf dem Spiel, als dass man die Zukunft rücksichtslosen Kindern überlassen könnte!«
Hazel musste etwas tun . Die Hand an ihrer Kehle drückte immer fester zu, Marie-Annes Daumen und drei Finger bohrten sich in ihre Haut. Ihr blieb keine Luft mehr, und wenn sie blinzelte, dauerte es immer länger, bis die Dunkelheit zurückwich. Ebendiesen Arm, der jetzt das Leben aus ihr herauspresste, hatte sie eigenhändig angenäht. Sie hatte dafür gesorgt, dass die Muskeln richtig befestigt, die Gelenkbänder wieder an Ort und Stelle waren und das Blut in jeden einzelnen Finger fließen konnte. Sie hatte die Schulter mit starken, sauberen und unsichtbaren Stichen genäht.
Es war ein Reflex, ein blinder Instinkt, so wie sich ein Tier gegen einen Feind zur Wehr setzt: Mit der wenigen Kraft, die ihr noch blieb, streckte Hazel einen Arm aus und bohrte ihre Fingernägel in Marie-Annes Schulter, wo sie die Naht vermutete.
Die Chemikerin schrie auf.
Ihr Griff lockerte sich und Hazel holte tief Luft. Jetzt konnte sie es sehen: Sie hatte die Naht zwischen Marie-Annes Arm und dem Rest ihres Körpers aufgerissen, von dem nunmehr der schwarze Faden herabbaumelte.
Hazel riss abermals daran.
Mit einem feuchten Platschen krachte Marie-Annes Arm auf den Boden – es klang wie eine überreife Orange, die aus großer Höhe herabfiel.
Hazel blinzelte Sauerstoff in ihr Gehirn zurück. Auf dem Boden breitete sich eine leuchtend rote Blutlache aus, vor der sie ihre lederne Doktortasche gerade noch rechtzeitig retten konnte. Marie-Anne griff nach der fehlenden Schulter – sie keuchte, schrie und heulte. Und dann verstummte sie – entweder war es der Schock oder der Blutverlust.
Gleich würde der Rest der Todesgefährten die Treppe hinaufstürmen, um nachzusehen, was passiert war – Hazel blieben nur wenige Sekunden, um zu entkommen.
Marie-Annes abgetrennter Arm zuckte auf dem Boden wie ein Insekt. Alle vier Finger der Hand zitterten. Ein paar Zentimeter weiter rollte die einzige noch unversehrte und mit schwarzem Wachs versiegelte Phiole in der Blutlache. Hazel schnappte sie sich und rannte los.
Als Hazel wieder in ihrer eigenen Wohnung war, schloss sie die Tür hinter sich und verriegelte sie. Keuchend glitt sie mit dem Rücken an der Tür herab. Wie weit reichte Marie-Anne Lavoisiers Einfluss? Wie viel wusste sie? Die Todesgefährten schienen allwissend zu sein; früher hatten sie Einladungen direkt auf ihrem Kissen hinterlassen. Damals hatte sie es noch entzückend gefunden – jetzt lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Wer wusste, wozu die Todesgefährten fähig waren?
Ein Teil von ihr hatte wohl schon immer gewusst, was die Gefährten taten. Noch vor einem Monat war sie von dem Gedanken begeistert gewesen, dass es einen geheimen Raum gab, in dem einflussreiche und brillante Menschen Pläne schmiedeten und Strategien entwickelten. Es war ein wunderbares, ja, gar beruhigendes Gefühl gewesen zu erfahren, dass solch eine Kabale der Macht existierte. Dass Schicksal des Landes nicht gänzlich von einem närrischen Prinzen abhing, der sich wie ein Lackaffe kleidete und sich mit Glücksspiel hoch verschuldete. Dass Großbritannien kein auf hoher See treibendes Boot war. Die Vorstellung, dass Philosophen wie ein unter der Wasseroberfläche verborgenes Ruder die Nation steuerten, hatte Hazel geradezu nobel gefunden.
Es war lediglich ein kleines, mit Schimmel gefülltes Schubfach nötig gewesen, um ihr klarzumachen, dass die Todesgefährten, wie sie in ihrer Fantasie existierten, ein reines Hirngespinst waren. Gottgleiche Macht hatte dazu geführt, dass sie das Schicksal der Menschheit auf ein bloßes Spiel reduziert hatten und sie grausam wurden. Während Hazel mit dem Rücken an die Tür gelehnt dasaß, gab sie sich selbst das Versprechen, dass ihre Aufgabe als Ärztin immer darin bestehen würde, Menschen zu helfen. Sie würde nie Kompromisse eingehen oder Komplotte schmieden, wenn der Preis dafür menschliches Leid wäre. Für sie würde es keine Abkürzungen und keine grandiosen Visionen unmöglicher Pläne geben, um die Gesellschaft als Ganzes zu richten. Ihrer Arbeit würde sie ohne Eile, mit einem langen Atem und ganz bewusst nachgehen: Sie würde so vielen Menschen wie möglich von Angesicht zu Angesicht dienen. Es würde nicht glamourös sein. Zwar mochte es dann keinen französischen Champagner oder italienischen Wein oder Abende in der Gesellschaft von Mitgliedern der königlichen Familie oder anderen Berühmtheiten mehr geben. Doch sie würde das Richtige tun.
Hazel Sinnett hatte ihre Wahl getroffen. Sie würde nie zulassen, dass sie sich in eine Kreatur wie Marie-Anne Lavoisier verwandelte. Sie würde London verlassen, die Stadt, die Ruhm, Adel und Geld verehrte – sowie die Macht, die einem alles drei verlieh.
Es war Zeit, ihrer Wege zu gehen.