Holland
»Mr Holland?«
Als sein Name gerufen wurde, kam er wieder zu sich. Er öffnete die Augen und schaute in das runde Gesicht des Managers von Powers Book Store, das keine zwei Handbreit über seinem schwebte. Er hob seinen Arm, der sich ungewöhnlich schwer anfühlte, und strich sich mit der Hand über die Stirn, die nass und kalt war. Auf dem Gesicht über ihm breitete sich ein Lächeln aus. »Sorry, ich habe Ihnen ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet.« Er spürte, wie das Blut zurück in seinen Kopf schoss, und versuchte, sich langsam aufzurichten. Er lag auf einer Ledercouch, die er bereits bei seiner Ankunft in Powers Book Store im Büro der Geschäftsleitung gesehen hatte. Sofort fiel ihm der Anblick der auf dem Boden liegenden Frau wieder ein – und die Blutlache. Der Manager drückte ihn sanft zurück auf das Kissen unter seinem Nacken. »Machen Sie langsam, Sie waren lange weggetreten.«
»Die Frau …«, stammelte er.
»Polizei und Ambulanz sind vor Ort. Alles ist unter Kontrolle. Sie sind nicht mehr in Gefahr.«
Er schloss kurz die Augen, um zu verstehen, was passiert war, sah die Frau, wie sie die Hand hob und etwas auf ihn richtete. Dann waren die beiden Schüsse gefallen.
»Bin ich verletzt?«, fragte er.
»Nur eine Beule am Hinterkopf, weil Sie hart auf dem Boden aufgeschlagen sind. Ansonsten scheinen Sie okay zu sein.«
»Die Schüsse«, brachte er hervor. Sein Mund fühlte sich so trocken an, als hätte er auf einer Scheibe Toastbrot gekaut. Langsam richtete er sich auf, was eine Welle von Schmerzen in seinem Schädel auslöste. »Es ist alles gut«, sagte der Buchhändler. »Niemand außer der Frau wurde verletzt.«
Er griff hinter sich. »Bevor ich es vergesse, hier sind Ihre Sachen! Die haben Sie bei Ihrem Sturz verloren.«
Er reichte ihm sein Buch, aus dem er gelesen hatte, einen Montblanc-Kugelschreiber, den er zum Signieren hatte nutzen wollen, und ein kleines schwarzes Büchlein. Holland nahm die Sachen und legte sie neben sich ab. Er wollte etwas sagen, aber er vergaß es sofort wieder. Sein Kopf fühlte sich an, als habe man Zement hineingegossen.
»Die Frau, ist sie tot?«, fragte er.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein Mann im schwarzen Anzug trat herein, in der Hand hielt er einen Eisbeutel, den er ihm übergab. Dankbar presste Holland ihn gegen seinen Hinterkopf.
Der Buchhändler erhob sich und machte dem Mann Platz, der sich einen der Sessel nahm und ihn neben die Couch zog. Er wirkte nicht besonders groß, aber stämmig, der kurze Bürstenhaarschnitt verlieh ihm ein quadratisches Gesicht. Über seine eine Wange zog sich eine Narbe, die auf einen Unfall oder Kampferfahrung schließen ließ. Holland erinnerte sich daran, ihn mit der Waffe über der Frau am Boden gesehen zu haben.
»Mein Name ist Rick Dechambeau, vom Department of Homeland Security, kurz DHS «, stellte er sich vor. Er sprach leise, aber bestimmt.
»Sie haben auf die Frau geschossen«, brachte Holland hervor. Seine Hand wurde langsam kalt vom Eis.
»Sie wollte Sie angreifen. Können Sie sich erinnern? Sie rief, dass sie Sie töten will!«
»Sie kam auf mich zu und hat irgendetwas zu mir gesagt«, dachte er laut.
»Und was?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, ich habe es auch nicht richtig verstanden.«
»Versuchen Sie sich zu erinnern, vielleicht ist es wichtig.«
Holland schüttelte rasch mit dem Kopf, was er jedoch sofort wieder bereute.
»Hat sie auf mich geschossen?«, fragte er.
Dechambeau nickte. »Aber ich war schneller. So wie es aussieht, sind Sie vor Schreck in Ohnmacht gefallen.«
»Ist sie … tot?«, wiederholte er seine Frage.
Dechambeau nickte, jedoch ohne eine Spur des Bedauerns in seiner Miene.
»Oh, mein Gott, das ist schrecklich!«, brachte Holland hervor. »Ich verstehe nicht, warum wollte sie mich töten?«
»Das wird die Polizei ermitteln.«
»Hatte sie eine Waffe?«
»So sieht es aus.«
Holland schüttelte den Kopf, was in seinen Schläfen schmerzte. Es gab immer wieder hitzige Diskussionen bei seinen Lesungen, auch sehr emotionale. Ganz offensichtlich berührte das Thema Pflanzen die Menschen tief im Inneren. Aber dass jemand versuchen könnte, ihm wegen seiner Thesen auf der Bühne etwas anzutun, hatte er bislang für unmöglich gehalten.
»Ich denke, Sie haben Glück gehabt.«
Holland empfand das Wort »Glück« im Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen irgendwie als unpassend. Für einen Moment versuchte er, seine Gedanken zu sortieren.
»Warum waren Sie überhaupt dort?«
Er hatte den Mann im Lesesaal noch nicht einmal gesehen.
Dechambeau lächelte erneut. »Ich bin im Auftrag von Homeland Security nach Portland gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.«
Dechambeau griff neben sich und holte ein Smart Tablet hervor. Er strich über den Bildschirm und hielt es ihm entgegen.
»Fällt Ihnen hierzu irgendetwas ein?«
Das Tablet zeigte das Foto einer Pflanze in freier Natur. Holland nahm das Tablet und kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können. Er vergrößerte das Bild.
»Stängel und Wuchshöhe, auch Blattstiel und Blattspreite erinnern an Heracleum mantegazzianum, dazu passen allerdings nicht die Blüten und die Frucht. Ich bin offen gestanden gerade nicht in der Stimmung für Bilderrätsel. Was ist das?«
»Wir hatten gehofft, Sie könnten uns das sagen.«
Holland stand noch immer unter Schock. »Sie sind im Auftrag von Homeland Security zu meiner Lesung gekommen, um mir diese Pflanze zu zeigen?«
Dechambeau überging Hollands Frage, nahm sein Tablet und wischte zu einem anderen Foto. »Sagt Ihnen dann dies vielleicht etwas?«
»Sieht aus wie ein Samen der roten Bohne. Phaseolus vulgaris«, schoss es aus Holland heraus. »Aber auch nur auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man Unterschiede. Sorry, aber ich scheine gerade nicht in bester Verfassung zu sein.«
Er gab das Gerät zurück. Immerhin half ihm die Kühle des Eisbeutels dabei, wieder klar im Kopf zu werden. »Verzeihen Sie, aber Sie kommen zu meiner Lesung, erschießen vor meinen Augen eine Frau und zeigen mir nun Fotos von mir völlig unbekannten Pflanzen und Samen. Was geht hier vor?«
»Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten, Mr Holland.«
»Sie begleiten? Bin ich verhaftet?«
Dechambeau musste lächeln. »Nein, natürlich nicht. Am Flugplatz wartet eine Maschine auf uns beide. Wir fliegen nach Cottonwood, Minnesota. Dort werden wir Ihnen alles erklären.«
»Ich habe morgen und übermorgen weitere Lesungen an der Ostküste. Aber ich vermute, ich kann nicht Nein sagen, oder?«
»Wir leben in einem freien Land, Sir. Aber damit das so bleibt, gibt es unsere Behörde. Daher wäre es sehr wichtig, dass Sie mitkommen.«
»Was sagt die Polizei dazu? Ich meine, eine Frau wurde getötet.«
»Machen Sie sich darum keine Sorgen, die werden uns gehen lassen.«
Holland überlegte kurz, dann erhob er sich langsam und legte den Eisbeutel auf dem Tisch ab. Seine Beine fühlten sich wackelig an. »Es war das viele Blut«, sagte er und erntete einen verständnislosen Blick des DHS -Agenten. »Weshalb ich ohnmächtig geworden bin. Ich kann kein Blut sehen. Jedenfalls nicht so viel. Nicht mehr.«
»Ich verspreche Ihnen, in Minnesota warten keine Blutlachen auf uns.«
»Sondern?«
Dechambeau zuckte mit den Achseln. »Wenn man manchem Pessimisten glauben darf, vielleicht der Anfang vom Ende der Welt.«