3

Waverly

Berlin, Oktober 2016

Waverly Park hielt dem grimmigen Blick Friedrich des Großen stand. Von seinem Ehrenplatz auf einem der Bücherregale im Forschungssaal des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz versuchte das Standbild des Preußenkönigs, ihr schon den ganzen Tag über Angst zu machen. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft. Dabei hatte sie allen Grund dazu: Vor ihr lag ein über zweihundert Jahre alter Foliant voller verschlüsselter Geheimtexte, im Laptop daneben wartete die Software SCANDBOX auf ihre Eingaben. Bei der Namensgebung hatten die kanadischen Entwickler ihre ganze Kreativität bewiesen. Der Name der Software SCANDBOX stand einerseits für einen virtuellen Speicher, gefüllt mit Tausenden eingescannten Dokumenten, andererseits für die Schwedenkiste, aus der die Dokumente stammten.

Bis Waverly zu dem Forschungsprojekt gestoßen war, hatte sie noch nie von der Schwedenkiste gehört. Die legendäre Geheimtruhe geisterte durch die Jahrhunderte, bis sie schließlich hier im Archiv in Berlin-Dahlem ihr vorläufiges Zuhause gefunden hatte. Anfang des 19 . Jahrhunderts war sie, vollgepackt mit geheimen Akten, Briefen, Manuskripten und Mitgliederlisten eines berühmten Geheimbundes, von Sachsen nach Schweden geschafft worden, was der Kiste auch ihren Namen einbrachte. Nachdem die Schwedenkiste ein halbes Jahrhundert später aus Skandinavien nach Deutschland zurückkehrte, wurde sie bald von den Nazis beschlagnahmt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erbeutete die Rote Armee die Kiste und entführte sie nach Moskau. Erst Jahrzehnte später gelangte sie in die DDR und wurde dort mit dem Fall der Mauer von der Wissenschaft wiederentdeckt und ausgewertet.

Weil der Bauchnabel größer war als der Bauch, wie ihre koreanische Großmutter immer sagte, weil der Aufwand größer war als der Nutzen, hatte man sich mit der Software SCANDBOX zur Analyse des Inhalts der Kiste die Hilfe künstlicher Intelligenz gesichert – und seit acht Wochen auch die ihre.

Die Erforschung und Auslegung alter botanischer Berichte gehörte zu ihrem Forschungsgebiet. Sie war Archäologin mit dem Spezialgebiet Botanik, was sie zur Teildisziplin der Archäobotanik geführt hatte. Prähistorische Tier- und Pflanzenreste waren ihr Metier, sie lieferten wertvolle Erkenntnisse über Ernährung, Lebensweise und die Umwelt früherer Epochen. Und weil bei Ausgrabungen leider die besten Funde von Pflanzen- und Tierresten in den Latrinenabfällen gemacht wurden – das feuchte Milieu und das regelmäßige Kalken der Latrinen konservierte die Abfälle für Jahrtausende –, nannten die Kollegen sie, wenn man sie ärgern wollte, auch »Madame Toilette«. Nicht besonders freundlich, Respekt musste man sich erst verdienen. Dabei war dieses Forschungsprojekt ihre letzte Chance: Das Stipendium der Deutschen Forschungsgesellschaft lief bald aus. Wenn sie nicht langsam einmal spektakuläre Ergebnisse lieferte, die ihr eine Verlängerung des Stipendiums oder sogar eine Beschäftigung an einem der renommierten Institute bescherten, würde ihre Tätigkeit als Archäologin bald genauso Geschichte sein wie die Handschrift mit der Signatur »PK FM 6 .2 D 30 Nr. 43 « vor ihr. Es war eine von vielen Handschriften in der Schwedenkiste, die sich mit Biologie und Botanik befassten. Der Text war in Zahlen codiert, wobei einzelne Ziffern für Buchstaben standen. In der Kiste hatte man auch Tafeln zum Dechiffrieren gefunden. Aber diese Mühe musste sie sich nicht machen: Die künstliche Intelligenz hinter SCANDBOX digitalisierte und archivierte nicht nur, sondern entschlüsselte auch. Und so konnte sie den Text vor sich im Laptop ohne Probleme lesen. Es handelte sich um einen Brief vom 20 . Mai 1788 , den der Verfasser namens Abaris geschickt hatte.

»Verehrter Meister,

bin ich nun mehr in der vorzüglichen Lage, Euch endlich mitteilen zu können, dass ich ihrer Habhaft werden konnte. Es war der Überredenskunst viel und der Drohungen wenig von Nöten.«

Sie stoppte und drehte sich zu dem Mann im Anzug am anderen Ende des Saals um. Zum ersten Mal war er ihr gestern aufgefallen, als er gemeinsam mit ihr als einer der Ersten den Saal betreten hatte. Einmal, als sie die Toilette besucht und sich dann einen Zitronentee aus dem Automaten im Foyer geholt hatte, hatte er mit ihrem Mantel in der Hand an ihrem Arbeitsplatz gestanden, und für einen Moment hatte sie geglaubt, dass er die Papiere auf ihrem Tisch betrachtete. »Er ist von der Lehne gerutscht«, hatte er stattdessen mit einem freundlichen Lächeln gesagt und ihr den Mantel in die Hand gedrückt. Gestern Abend allerdings hatte sie ihn in der Ehrbar gesehen, wo sie, wenn sie nicht gerade auf einer Ausgrabungsexpedition war, kellnerte. Er war allein, in einer Ecke des Lokals, die in den Zuständigkeitsbereich einer Kollegin fiel. Auch das konnte Zufall sein. Aber Berlin war groß. Und dass der Mann ausgerechnet in dem Lokal auftauchte, in dem sie bediente, gefiel ihr nicht. Jetzt saß er da, versunken in irgendeine Lektüre, und schien sie nicht zu beachten. Sie schüttelte sich und widmete sich wieder dem Text:

»Ein guter Mönch kennt seinen Herrn. Und wenn auch noch gefangen, in zwei Tränen Gottes, so bin ich doch frohen Mutes, dass ich bald in der Lage sein werde, sie Euch in wahrhaftiger Gestalt zu präsentieren: Die Urpflanze!«

Bei dem Wort Urpflanze begannen ihre Wangen zu glühen.

Als sie aufschaute, war der Mann verschwunden.