Holland
Nach einem dreistündigen Flug landeten sie auf dem Southwest Minnesota Regional Airport in Marshall.
Ein Polizeiwagen hatte sie vom Buchladen direkt in sein Hotel gebracht, damit er sein Reisegepäck holen konnte. Danach waren sie zum Flughafen gerast, wo auf dem Rollfeld bereits ein kleiner Embraer-Privatjet auf sie wartete.
Er hatte vergeblich versucht, seine Nachbarin in Deutschland zu erreichen, die sich während seiner Abwesenheit zu Hause um seinen Sohn Otto, seine beiden Katzen und die Sussex-Hühner kümmerte. Otto und er bewohnten seit einem guten Jahr ein kleines Holzhaus am Üdersee in der Schorfheide, weil sie beide nach dem Tod von Ottos Mutter die Leere des gemeinsamen Reihenhauses nicht mehr hatten ertragen können. Zudem grenzte ihr neues Zuhause direkt an seinen Wald, sodass er kürzere Wege zur Arbeit hatte und sich so besser um Otto kümmern konnte. Otto war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Ein schwieriges Alter für sie beide. Holland wusste, dass der halbe Mann versuchte, seine Trauer vor ihm zu verbergen. Die Jugendpsychologin, die sie zuletzt aufgesucht hatten, meinte, dies sei in Ordnung. Jeder müsse seinen Weg der Trauer finden. Es war für ihn nicht einfach, die Arbeit und die Erziehung von Otto unter einen Hut zu bringen, aber sie bekamen es mittlerweile gut hin. Dabei half, dass auch Otto sich gern im Wald aufhielt. Die einzige Nachbarin, eine pensionierte ehemalige Sonderschullehrerin, kümmerte sich rührend um sie beide und auch um Otto und die Tiere, wenn er einmal wie jetzt auf Reisen war. So wie es aussah, mussten sie zu Hause nun noch eine Weile ohne ihn auskommen.
Es war mitten in der Nacht, und der Abend im Powers Book Store hatte ihn Kraft gekostet, nicht nur weil die mutmaßliche Gehirnerschütterung schmerzte. Konnte man den Augenzeugenberichten glauben, war er nur knapp dem Tod entkommen. Für ihn kein Grund zur Freude, zumal direkt vor seinen Augen eine junge Frau gewaltsam zu Tode gekommen war. Die Frage nach dem Warum ließ ihm keine Ruhe, und nachdem auch Dechambeau sich nicht gesprächiger zeigte, war Holland nach dem Start schließlich eingeschlafen.
Als sie landeten, war es bereits hell, was ihn zunächst irritierte, bis er begriff, dass es eine gut zweistündige Zeitverschiebung zu Portland gab.
Dechambeau ließ ihn kurz in der Ankunftshalle warten.
Holland entdeckte eine Frau in einem grünen Kittel, die damit beschäftigt war, Blätter von einem Schwertfarn zu schneiden. Die Pflanze stand im großen Abstand mit Artgenossen vor der riesigen Scheibe, die den Wartebereich vom Flugfeld abtrennte. Die Blätter waren gelb-braun verfärbt, und die Wedel hingen noch mehr, als dies bei dieser Pflanze ohnehin der Fall war.
»Damit werden Sie keinen Erfolg haben«, sagte er zu der älteren Dame, die Gärtnerkleidung trug. Offenbar war sie hier für die Pflanzenpflege zuständig.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Mit dem Schneiden der Blätter zerstören Sie den Farn nur. Er steht zu nahe an der aufgeheizten Glasscheibe, wodurch die Luft austrocknet. Und er bekommt zu viel Wärme durch die Sonne, die im Spätsommer tiefer steht und den Farn förmlich verbrennt. Schwertfarne mögen es zwar feucht und hell, aber sie vertragen nur indirektes Licht.«
Die Frau hielt inne und schaute auf die Schere in ihrer Hand.
»Nehmen Sie etwas Niemöl. Das ist perfekt zur Befeuchtung der Blätter geeignet und schützt sie zudem vor Krankheiten. Und stellen Sie die Pflanzen näher zusammen. Sie werden in der Gruppe durch Transpiration ein optimales Mikroklima für sich erschaffen.«
»Wollen wir?«, fragte Dechambeau. Er leitete ihn zu einem Notausgang, der sie direkt auf das Flugfeld führte. Es war mitten ins Nirgendwo gebaut, und außer ein paar kleinen Privatflugzeugen stand auf dem Flugplatz nur noch ein schwarzer Hubschrauber, auf den Dechambeau zusteuerte.
»Wir fliegen mit dem Helikopter?«, fragte Holland.
»Die Einsatzzentrale ist gute zwanzig Meilen entfernt«, entgegnete Dechambeau. »Zudem haben wir so Gelegenheit, uns das Problem aus der Luft anzuschauen.«
»Einsatzzentrale! Jetzt hören Sie auf mit dem Versteckspiel und rücken Sie mit den Fakten raus«, sagte Holland ärgerlich und blieb wie angewurzelt stehen. »Oder ich bin weg!« Dechambeau schaute über Hollands Schulter auf das leere Rollfeld und konnte sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. »Sie sind weg? Wohin denn?«
Holland blieb ernst. »Sagen Sie mir endlich, was los ist!«
»Es geht um die Pflanze, die ich Ihnen gezeigt habe. Wir haben hier im Nordosten ein gravierendes Problem mit ihr. Und so wie es aussieht, nicht nur hier.«
»Ein gravierendes Problem?«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. In weniger als einer Viertelstunde sind wir dort.«
Dechambeau öffnete die Tür des Hubschraubers, begrüßte den Piloten, und Holland rutschte widerwillig auf die Rückbank. Dechambeau reichte ihm ein Headset, und der Helikopter hob ab. Sie flogen den Highway entlang über unbebautes Gelände, das aus Weiden und Ackerflächen bestand. Ein See, eine Tankstelle, ein Baseballfeld neben einer Highschool. Das war’s.
Dechambeau reckte den Kopf. »Jetzt kommt es!«, kündigte er an und gab dem Piloten vor ihm einen Klaps auf die Schulter, damit dieser tiefer ging. Der Helikopter beschrieb eine Kurve, in der Holland gegen das Fenster gepresst wurde. Er sah eine lang gestreckte Zufahrt, an deren Ende das Dach eines Hauses zu erkennen war. Dechambeau lehnte sich zu ihm hinüber und zeigte nach unten.
»Was zur Hölle ist das?«, stieß Holland aus.
»Das Problem!«, entgegnete Dechambeau.
Holland streckte sich. Ohne Zweifel war das unter ihnen einmal eine Farm gewesen. Eine Farm, die früher wie aus dem Bilderbuch oder dem Spiel »Hay Day«, einem Handyspiel, das Otto den ganzen Tag über zockte, ausgesehen haben musste. Mit der typischen Anordnung von Wohnhaus, Scheune, Ställen und Silo. Sogar die Silhouette eines Traktors konnte man von oben unter dem Urwald aus Pflanzen erahnen. Allerdings ragte nur noch ein Teil der Motorhaube heraus, denn er war wie alles andere von Pflanzen überwuchert. Es sah aus, als wäre die Farm seit einem halben Jahrhundert verlassen und als hätte die Natur sich in dieser Zeit all das zurückgeholt, was einst ihr gehörte. Zwischen den einzelnen Gebäuden war kein Boden zu sehen, so dicht war der Urwald aus Pflanzen, die bereits damit begonnen hatten, an der Fassade des Farmhauses hinaufzuklettern. Obwohl sie die Farm in gut hundert Meter Höhe überflogen, glaubte er, die Pflanze zu erkennen, die Dechambeau ihm auf dem Foto gezeigt hatte. Der Helikopter gewann wieder an Höhe, und nun sah Holland, dass die Pflanzen in langen Ausläufern auch bereits die Felder um die Farm herum besiedelten. Aus der Luft bot sich das Bild eines gigantischen Kreises aus Blättern, der an eine dicht bewachsene, grüne Insel erinnerte. Außen herum befand sich ein breiter, schwarzer Rand. Als habe man einen schwarzen Kreis um die grüne Insel gezogen.
»Was ist das Schwarze?«, fragte Holland.
»Eine Feuerschneise. Um die weitere Ausbreitung der Pflanzen zu stoppen«, entgegnete Dechambeau. Der Helikopter drehte ab, und am Rand der Schneise sah er zwei Personen in gelben Schutzanzügen mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken, die neben einem Feuerwehrwagen standen. Es waren Schutzanzüge, wie man sie aus apokalyptischen Filmen über Pandemien oder Strahlenkatastrophen kannte. Der Leiterwagen war eines von sechs Feuerwehrfahrzeugen, die um die Szenerie herum verteilt waren und jeweils im hohen Bogen eine Wasserfontäne über die Pflanzen spritzten.
Er zeigte auf die Männer in den Schutzanzügen und sah Dechambeau fragend an.
»Sie tötet«, entgegnete dieser. Holland war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte, und deutete auf die Kopfhörer des Headsets.
»Sie tötet!«, wiederholte Dechambeau. »Die Pflanze! Sie breitet sich immer weiter aus. Und so ziemlich alles an ihr ist tödlich. Sie ist ein Killer!«
Abermals gab er dem Piloten ein Zeichen, und der Hubschrauber beschleunigte in Richtung eines silbern glänzenden Punktes am Horizont. Holland drehte sich um und sah, wie die grüne Insel hinter ihnen langsam kleiner wurde.
Jetzt war es also so weit. Er hatte gehofft, dass sie noch ein wenig mehr Zeit haben würden.