Holland
»Sie sagten, Sie sind mit Rick bereits über die Farm der Walters geflogen. Von dort kam die allererste Meldung. Ein Immobilienmakler wollte die Farm besuchen, um ihren Wert zu schätzen. Sie sollte im Auftrag des Bruders der vor Kurzem verstorbenen Besitzerin verkauft werden. Als der Makler dort ankam, hatte er Probleme, die Farm überhaupt zu finden, da alles völlig überwuchert war. Er rief den Bruder an, der sofort hinfuhr. Und als sie gemeinsam versuchten, den Eingang zum Haus mit einer Sense, die der Bruder auf dem Wagen hatte, frei zu schlagen, verätzte der Pflanzensaft das Gesicht des Maklers, er liegt noch heute in einer Spezialklinik in Minneapolis und wird vermutlich auf einer Seite das Augenlicht verlieren. Den Bruder erwischte es weniger schlimm, er bekam ein paar Dornenstiche ab, aber auch er musste zur Behandlung ins Hospital. Das Krankenhaus meldete den Vorfall der Polizei, die Polizei dem Ministerium für Landwirtschaft von Minnesota und dieses wiederum dem Landwirtschaftsministerium. Die vom USDA schickten schließlich jemanden vorbei, um sich die Situation vor Ort anzuschauen, und der gute Mann erkannte, dass hier etwas nicht stimmte. Zum Glück zählte jemand im Ministerium eins und eins zusammen und benachrichtigte uns bei Homeland Security. Und nun sitzen wir hier, statt mit unseren Enkeln zum Baseballspiel zu gehen.« Smith schenkte sich aus einer Karaffe Wasser in ein Glas, das er in einem Zug austrank. Er hielt Holland ein Glas entgegen, der dankend ablehnte.
»Dem Bruder fiel jedenfalls ein, dass seine Schwester vor einigen Monaten bei einem Besuch in Marshall erzählt hatte, ein Päckchen mit unbekannten Samen ohne Absender und ohne Anschreiben erhalten und die Samen im Gemüsebeet hinter dem Haus eingepflanzt zu haben. Sie erzählte es, weil sie solche Samen noch niemals zuvor gesehen hatte«, fuhr er fort. »Zu diesem Zeitpunkt mehrten sich auch beim USDA bereits die Berichte von lokalen Landwirtschaftsministerien aus zahlreichen Bundesstaaten, bei denen sich besorgte Bürger wegen des Erhalts ebensolcher Päckchen aus Übersee gemeldet hatten.« Wieder stockte Smith. »Die Walters-Farm ist also leider nicht der einzige Hotspot. Wir haben mittlerweile Berichte von«, er schlug sein Notizbuch auf und schaute hinein, »dreiundvierzig Orten, an denen es Probleme mit diesen Pflanzen gibt. Bis heute aber nirgends in solch einer Dimension wie hier, auf der Walters-Farm in Cottonwood. Die tote Besitzerin Anette Walters scheint eine der Ersten gewesen zu sein, die Samen zugesandt bekam – und sie einpflanzte. Und der Boden hier ist sehr fruchtbar, zudem haben wir auf der Farm Guanodünger gefunden, der das schnelle Wachstum weiter gefördert haben kann. Deshalb sind wir also alle hier. Wir hätten aber genauso gut irgendwo in Georgia oder Idaho oder in Washington sitzen können.«
»Und es ist unklar, um was für eine Pflanze es sich handelt?«, bemerkte Holland. Smith nickte und gab die Frage weiter an Meyers. »Es scheint so, als wenn niemand zuvor eine solche Pflanze gesehen hat«, bestätigte sie. »Wir haben sie natürlich eingehend untersucht und … wie soll ich sagen? …« Greta Meyers suchte nach Worten. »Sie ist gefährlich für die Gesundheit von Mensch und Tier. Nahezu alle Teile, außer den Früchten, sind giftig, und zwar offenbar nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, selbst für Vögel. Die Früchte sind so extrem glucosehaltig, dass sie für Tiere auf Dauer ebenfalls gesundheitsschädlich sind. Zudem ist der Saft der Pflanze ätzend. Er enthält nicht nur die vom Riesenbärenklau oder Schierlingskraut bekannten fototoxischen Furocumarine, die in Verbindung mit Sonnenlicht zu Verbrennungen auf der Haut führen, sondern tatsächlich Chlorwasserstoff, der in Oxonium- und Chloridionen protolysiert ist.«
»Salzsäure?«, fragte Holland.
Meyers nickte. »Das haben wir noch niemals bei einer Pflanze gesehen. Ich habe in den letzten Tagen die gesamte Fachliteratur durchstöbert und nichts dazu gefunden. Gott sei Dank haben wir in den USA bislang noch nicht viele klinische Berichte von Vergiftungsfällen und Verätzungen. Aber was bislang bekannt wurde, ist beängstigend. Das Hauptproblem sind aus meiner Sicht die Pollen der Pflanze, auf die einige Menschen hochallergisch reagieren.«
»Die botanischen Einzelheiten können Sie gern nachher durchgehen«, übernahm Smith wieder. »Das Fatale an der Pflanze ist aktuell ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit. Das, was Sie bei der Farm gesehen haben, ist das Ergebnis nach zwölf Wochen! Die Pflanze wächst problemlos innerhalb von Tagen einen ganzen Meter, nicht Zentimeter. Allein die glatte Versiegelung der Dächer hat verhindert, dass die Pflanzen die Farm vollständig verschluckt haben. Anderenfalls hätten Sie aus dem Helikopter nichts mehr von der Farm erkannt. Und die Pflanze breitet sich rasend schnell auf allen Böden aus. Dabei braucht sie …«, Smith stockte und schluckte schwer, »… noch nicht einmal Erde.« Sein Blick verdüsterte sich.
»Wie meinen Sie das?«
Smith schlug das Buch vor sich auf, holte eine Fotografie hervor und reichte sie Holland. Der Anblick ließ ihn erschaudern. Was er dort sah, war offenbar die Leiche einer Frau, auf der, nein, aus der eine Pflanze wuchs. Die Wurzeln brachen durch ihre Haut. Angewidert schob er das Foto zurück. »Es hätte völlig genügt, sie mir zu beschreiben«, sagte er und hielt nach einem Schluck Wasser gegen die aufsteigende Übelkeit Ausschau.
»Ich dachte, Sie sollten das ganze Bild kennen. Offenbar genügt der Pflanze zum Gedeihen jede Art von Biomasse. Aber sie wächst auch im trockensten Lehm und selbst auf Beton. Und sie klettert. Ihre Triebe schlingen sich um alles, was sie als Rankhilfe nutzen kann. Sie ist wie eine Hydra, schlägt man einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach!«
»Wie es für einen Neophyten typisch ist, scheinen die Wurzeln zudem pflanzliche Toxine in den Boden abzugeben, die benachbarte Pflanzen schleichend vergiften und deren Wachstum hemmen, sodass sie deren Lebensraum übernehmen kann. Sie vergiftet also eiskalt ihre Nachbarn«, ergänzte Meyers.
»Wie ich sagte: Die Pflanze ist ein Killer«, warf Dechambeau ein.
Holland lehnte sich zurück und atmete laut aus. Im Raum herrschte betretenes Schweigen.
»Sie sagten, Sie haben 287 Päckchen abgefangen?«, wandte er sich schließlich an die Vertreterin von der Post.
»Ja, aber viele Empfänger haben die zugesandten Samen nicht eingepflanzt, soweit wir wissen. Viele der Samen landeten unseren Untersuchungen zufolge einfach im Hausmüll.«
»Von wo sie sich über die Deponien immer noch bei uns ausbreiten können«, ergänzte Smith.
»Sie sprachen aber auch von einer hohen Dunkelziffer an Päckchen. Dann müssen wir davon ausgehen, dass die Pflanze sich bereits überall in den USA ausbreitet«, führte Holland seinen Gedanken zu Ende.
Smith schüttelte den Kopf. »Nicht nur überall in den USA , sondern überall auf der Welt. Wir haben bereits Berichte aus achtundzwanzig Ländern, und es werden täglich mehr. Gerade kam eine Nachricht aus Österreich. Dort scheint es noch schlimmer zu sein als hier. Und richtig hart trifft es den afrikanischen Kontinent. Der Informationsfluss von dort ist nicht besonders gut, aber es gibt Berichte, dass die Pflanze sich dort schon länger etabliert.«
Holland spürte, wie seine Beule am Hinterkopf zu pochen begann.
»Und weiß man, wer oder was dahintersteckt?« Dabei schaute er Dechambeau an. »Ich meine, irgendwer muss diese Päckchen mit den Samen doch verschicken?«
»Wir tappen absolut im Dunkeln! Bioterrorismus können wir derzeit ebenso wenig ausschließen wie Wirtschaftssabotage oder den feindlichen Akt einer fremden Staatsmacht. Wir arbeiten eng mit dem FBI und dem CIA und auch den Regierungen und Geheimdiensten anderer Länder zusammen. Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass die Päckchen ganz überwiegend aus China versendet wurden. Soweit wir bislang wissen, alle von einem Postamt in der chinesischen Stadt Hangzhou in der Provinz Zhejiang. Das ist in der Nähe von Schanghai. Wir haben die Behörden in China um Unterstützung gebeten. Nach unseren Informationen wurde ein Mitarbeiter des Postamts verhaftet, bei dem zu Hause eine Pflanze, die zu den versendeten Samen passt, sichergestellt worden ist. Mehr wissen wir noch nicht, aktuell überlegen wir, jemanden nach China zu schicken, aber es ist derzeit politisch nicht ganz einfach, dort zu operieren.«
»Warum habe ich bis heute von der ganzen Sache noch nichts gehört?«, fragte Holland ungläubig.
Smith zuckte mit den Schultern. »Wir haben es verständlicherweise noch nicht an die große Glocke gehängt. Bis heute weiß niemand auf der Welt, womit wir es zu tun haben. Aber nun gibt es die ersten Todesopfer, auch in Europa. Besonders schlimm ist es in den wasserarmen Gebieten in Afrika. Wie Miss Meyers bereits berichtete, scheinen in unseren Breiten den meisten Ärger die Pollen zu bereiten, die gerade bei Kindern schwere asthmatische Anfälle auslösen können. Und offenbar fliegen die Pollen mit dem Jetstream sehr weit. Wir haben noch in einer Pollen-Auffangstation in Kanada, in über einhundert Kilometer Entfernung, Pollen nachweisen können, die genetisch zu den Pflanzen hier in Cottonwood passen. Wir versuchen mittlerweile, die Pollen auf der Farm mit Wasser niederzuschlagen.«
Holland erinnerte sich an die Fahrzeuge der Feuerwehr, die die Pflanzen mit Wasserfontänen bespritzt hatten.
Smith deutete auf das Blatt, welches er zu Beginn des Treffens in sein Notizbuch gelegt hatte. »Die ersten Zeitungen in Österreich berichten seit heute. Noch zurückhaltend und zögernd. Aber ich bin sicher, wenn die Medien verstehen, womit wir es hier zu tun haben, werden sie geradezu explodieren und am Ende auch hier aufschlagen.«
»Sie müssen Warnungen herausgeben, wegen der Pakete mit den Samen!«, dachte Holland laut. »Damit nicht noch mehr davon eingepflanzt werden!«
»Das bereiten wir gerade vor. Auch werden wir gemeinsam mit dem US -Grenzschutz ein Importverbot für alle Samen erlassen.«
Zu spät, dachte Holland.
»Und was genau soll ich tun?«, fragte er.
Rechts neben ihnen flüsterte die Frau vom USDA etwas, was er nicht verstehen konnte, und erntete dafür von dem Mann vom US -Grenzschutz ein zynisches Lächeln. Holland wurde klar, dass nicht jeder im Raum von seiner Anwesenheit begeistert war.
»Wir hoffen, Sie können uns vielleicht helfen. Mit neuen Ansätzen«, sagte Smith, ohne die Störung zu beachten. »Ich hatte keine Zeit, mich mit Ihren Thesen auseinanderzusetzen. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, erforschen Sie das Verhalten von Pflanzen. Wir könnten jemanden gebrauchen, der schlauer ist als unsere Assassina incognita da draußen und der weiß, wie wir sie überlisten.«
»So haben Sie die Pflanze genannt?«, fragte Holland.
»Die, die sich hier Wissenschaftler schimpfen, haben sie so genannt, bis sie einen besseren Namen finden. Ich kann kein Latein und nenne sie das Höllenkraut. Also, sind Sie dabei?«
Holland schaute zu Meyers, die ihm hoffnungsvoll zulächelte.
»Ich möchte mir die Farm gerne näher ansehen. Besorgen Sie mir so einen Schutzanzug. Und einen Kaffee!«