Waverly
Sie fuhr vom Geheimen Preußischen Staatsarchiv ins geheime Rechenzentrum. Waverly schien aus der Geheimniskrämerei gar nicht mehr herauszukommen. Die kanadischen Entwickler von SCANDBOX hatten ihr die Adresse der Serverfarm am Stadtrand von Berlin per SMS zugeschickt und darauf hingewiesen, dass sie diese vertraulich behandeln müsse. Nun saß sie mit Juri, Zach, Alex und Ava in einer Sitzecke des Rechenzentrums vor einem Getränkeautomaten, der nur Cola im Angebot hatte.
Alle vier waren Mitte zwanzig und damit kaum älter als sie. Sie hatten sich bereits vor einigen Wochen kennengelernt und sofort angefreundet. Ava war so wunderschön, dass Waverly ihren Blick gar nicht von ihr lassen konnte. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten herausfordernd unter ihrem schwarzen Pony und stellten einen krassen Kontrast zu ihrem dunklen Teint dar. Juri und Alex waren typische Programmierer, die in ihrer eigenen Welt lebten. Zach schien hingegen direkt vom Strand verpflichtet und war derjenige, der die ganze Truppe zusammenhielt. Die letzten Tage erfasste sie bei dem Gedanken an Ava und die anderen Wehmut, denn diese hatte ihr bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge durch Berlin eröffnet, dass sie alle zusammen in zwei Monaten zurück nach Kanada gehen würden. Die Fördergelder aus Berlin, die die Programmierung der Forschungssoftware SCANDBOX finanziert hatten, liefen aus, und in Kanada wartete bereits ein neues »geheimes« Projekt auf sie. »Heißer Scheiß zur Rettung der Welt«, hatten sie es genannt.
Waverly hatte gerade eine Führung durch den Serverraum erhalten, einem Verbund aus über fünfundzwanzigtausend Rechnern, die sich in einem großzügig dimensionierten und klimatisierten Raum über viele Regalmeter ausbreiteten. Neben Notstrombatterien gab es zudem einen mit tausend Litern Diesel befüllten Tank, der im Falle eines Blackouts drei Schiffsdieselmotoren im Keller versorgen konnte. Der Komplex war streng bewacht und der genaue Standort geheim, was erforderlich war, um die höchste Sicherheitszertifizierung zu erhalten, wie Alex erklärt hatte. Natürlich gehörte das Ganze nicht der Humboldt-Universität in Berlin, die die SCANDBOX betrieb, sondern diese hatte hier Rechnerkapazitäten angemietet.
»Auf diesen Servern lebt SB «, hatte Juri mit glänzenden Augen geäußert, und es hätte nur noch gefehlt, dass er mit der Hand liebevoll über einen der Server strich. Die vier nannten das Softwareprogramm SCANDBOX , wie einen alten Kumpel, meist bei der Abkürzung »SB «.
Waverly fand die Fakten aus der Welt der Technik zwar interessant, aber sie war ungeduldig. Denn sie war aus einem ganz anderen Grund hier. Nachdem sie in der Schwedenkiste den Brief mit dem Hinweis auf den Namen Abaris und die Urpflanze entdeckt hatte, hatte Ava ihr versprochen, SCANDBOX für sie arbeiten zu lassen. Die Urpflanze, worunter die Wissenschaft nicht nur die Mutter aller Pflanzen, sondern gleichsam ein geradezu magisches Wesen verstand, war so etwas wie das Einhorn oder der Heilige Gral der Botanik, ihre Entdeckung verständlicherweise der Wunschtraum einer jeden Archäobotanikerin.
»Was habt ihr für mich?«, fragte sie und nahm einen Schluck aus der Coladose.
Avas unterdrücktes Lächeln verriet ihr, dass sie nicht umsonst hier war.
»Du hattest uns den Scan des Briefs von diesem Abaris geschickt, und wir haben damit SB s Algorithmus beschäftigt. Er sucht in über einer Million historischen Dokumenten, auf die er auch über das Internet Zugriff nehmen kann, nach Querverbindungen und zieht daraus eigenständige Schlüsse. Wie ein digitaler Sherlock Holmes. Und voilà!« Sie schob eine dünne Mappe zu ihr. »Hier ist das Ergebnis!« Juri trommelte mit den Zeigefingern auf die Tischkante vor sich, während Waverly nach der Mappe griff und sie öffnete. Darin befanden sich mehrere Ausdrucke, die sie rasch überflog.
»Bernsteine?«, fragte sie schließlich. »Das muss ein Fehler sein!«
»SB macht keine Fehler«, sagte Alex.
»Hier steht, Ergebnis: Abaris, Klarname unbekannt, erhielt am 20 . April 1788 im Kloster San Marino in Monreale zwei Bernsteine überreicht, bei denen es sich um die gesuchten Objekte handelt. Wahrscheinlichkeit: 98 ,89 Prozent«, zitierte sie aus den überreichten Ausdrucken.
»98 ,89 Prozent sind gut, das ist nahezu gesichert!«, rief Juri. Waverly schaute hilfesuchend zu Ava.
»SB ist in der Lage, unstrukturierte Informationen wie Texte, Bilder und Videos in numerische Werte umzuwandeln. Diese extrahierten Informationen werden dann zur Mustererkennung oder zum weiteren Lernen verwendet. Das nennt sich Deep Learning. Der Nachteil daran ist, dass wir häufig nicht wissen, wie SB zu ihren Vorhersagen kommt. Aufgrund der Dokumentation können wir es in diesem Fall allerdings ganz gut nachvollziehen. Darf ich …?« Sie bat um die Mappe in Waverlys Hand, die sie ihr überreichte. Ava schlug eine der hinteren Seiten auf.
»In deinem Brief schreibt Abaris von den Tränen Gottes. Wie SB rasch herausgefunden hat, ein damals gebräuchliches Synonym für Bernstein. Das hättest du mit etwas Google wohl auch noch herausfinden können.« Ava grinste vorwurfsvoll. »SB hat nach weiteren Prozessen sodann den Schluss gezogen, dass es offenbar um Bernsteine mit sogenannten Inklusen geht. Das sind eingeschlossene Insekten oder Pflanzenteile. In diesem Fall, so SB s Annahme, Pflanzensamen.«
»Und weiter?«, fragte Waverly beeindruckt.
»SB hat infrage kommende Bernsteine identifiziert und deren Weg durch Europa nachverfolgt: Drei Steine mit unbekannten Samen wurden laut einem im Onlinearchiv der Villa Pedale in Venedig hinterlegten Inventarium 1715 in den Dolomiten bei Cortina d’Ampezzo entdeckt. Sie gelangten über Umwege in die Sammlung von Friedrich August dem Ersten in Dresden. Dort wurden sie in der sogenannten Historia Succinorum, einem ausführlichen Katalog seiner Bernsteinsammlung, erfasst. Diese Sammlung wurde später aufgelöst, und laut entsprechenden Inventarlisten gelangten die Bernsteine um 1745 zurück nach Italien, und zwar in das Kloster San Marino in Monreale. In dem Kloster gingen sie jedoch während eines Überfalls der Türken verloren, wurden aber später versteckt im Garten des Klosters wiederentdeckt. Laut SB wurden schließlich zwei der in Bernstein eingeschlossenen Samen 1788 einem fremden Deutschen übergeben. SB vermutet, dass dieser dein Abaris war. Letzteres ist dokumentiert im Digitalen Staatsarchiv von Palermo, allerdings ohne Nennung des Namens Abaris.«
»Ihr macht Scherze!«, sagte Waverly und nahm die Mappe zurück.
»Ein solches Ergebnis ist in diesem Fall nur möglich, weil entsprechende Dokumente und Daten existieren. Eine künstliche Intelligenz ist immer nur so gut wie die Daten, auf die sie zugreifen kann. Allerdings war es schon damals in Klöstern und Adelshäusern üblich, so ziemlich alles aufzuschreiben. Es ist also nichts, was du nicht auch hättest herausfinden können, meine Liebe. Nur hättest du dafür vermutlich drei Jahre in Dutzenden Archiven sitzen und die richtigen Spuren finden und Schlüsse ziehen müssen.«
Waverly seufzte. »Ich fürchte, eine solche künstliche Intelligenz macht uns Archäologen irgendwann arbeitslos.«
»Mitnichten«, entgegnete Juri. »Aber ihr werdet am Ende zu Datensammlern degradiert. Die Schlüsse zieht dann der Computer.«
»In der Mappe sind auch noch weitere Auswertungen zum Begriff Urpflanze, aber nichts Bahnbrechendes«, sagte Ava. »Diese Urpflanze scheint eher ein Phantom zu sein.«
»Es gibt ziemlich gute Beweise für einen gemeinsamen Ursprung aller Pflanzen«, entgegnete Waverly. »Ihr müsst euch das so vorstellen, dass vor mehr als einer Milliarde Jahren ein tierischer Einzeller ein Bakterium verschluckte, welches mit Farbstoffen Licht einfing, um daraus Energie zu gewinnen. Statt es einfach zu verdauen, fusionierten die beiden, und die erste Pflanzenzelle war geboren. Man weiß ziemlich genau, dass die Evolution der Pflanzen später in zwei Schüben geschah, einmal vor etwa 375 Millionen Jahren und noch einmal vor 125 Millionen Jahren. Dazwischen gab es eine sogenannte Plateauphase, in der evolutionär bei den Pflanzen nicht viel ablief. In dieser Zeit gab es für Millionen von Jahren nur eine einzige Pflanze, die die Anlagen vieler Pflanzenarten in sich vereinte, um zu überleben. Diese Pflanze nenne ich die Urpflanze. Es muss ein faszinierender Hybrid gewesen sein.«
»Quasi eine Art Superpflanze«, sagte Ava.
»Genau! Und was wäre, wenn es diese Pflanze tatsächlich noch gibt? Meine Spur ist Abaris. Wer sich hinter dem verbirgt, konnte SB nicht herausbekommen?«
»Besser: Noch nicht, dafür fehlen ihm offenbar noch Daten. Aber es ist ein Tarnname, ein Pseudonym, wie es damals typisch war für Geheimbündler. Und SB hat ein Profil erstellt, ähnlich wie ein Profiler bei einem Mord. Alles da drin.« Sie deutete auf die Mappe.
Waverly wusste nicht, was sie sagen sollte. Einerseits fühlte sie sich, als sei sie gerade Zeugin eines billigen Zaubertricks geworden, die Ergebnisse von SCANDBOX erschienen ihr so vertrauenswürdig wie die Vorhersage einer Wahrsagerin. Andererseits musste es den Menschen genauso ergangen sein, als sie das erste Mal von einer Eisenbahn hörten oder ein Telefon benutzten. Vielleicht war das die natürliche Reaktion auf technischen Fortschritt.
»Unterstellt, das, was SB sagt, stimmt …«
»Es stimmt!«, unterbrach Juri sie.
»Also unterstellt, es stimmt. Warum in Bernstein eingeschlossen? Ich ging davon aus, es handelt sich um …« Sie wusste den Satz nicht zu beenden. »Ich meine, um echte, keimfähige Samen einer Urpflanze.«
»Das können wir dir nicht beantworten«, sagte Ava. »Ein bisschen musst du auch schon selbst tun.«
Waverly nickte. Ab jetzt suchte sie auf der Jagd nach der Urpflanze also nach zwei Bernsteinen.