Ava
Mit der Dämmerung kamen die Geräusche. Oder schärfte die beginnende Dunkelheit nur ihren Gehörsinn? Sie erschrak bei einem Rascheln, direkt hinter ihr, konnte dessen Ursprung aber nicht ausmachen. Irgendwo in der Ferne schrie ein Kauz. Sie wusste nicht, ob die mangelnde Sicht oder das glitschige Moos für den Fehltritt verantwortlich gewesen war, aber nun kauerte sie an einen der mächtigen Stämme gelehnt und hielt sich den schmerzenden Knöchel. Er tat höllisch weh, aber sie konnte den Fuß noch bewegen und glaubte daher nicht, dass er gebrochen war. Ein lautes Knacken in der Nähe ließ sie erneut zusammenschrecken. Sie starrte in das tiefe Schwarz zwischen den Bäumen und lauschte, konnte aber kein weiteres Geräusch vernehmen. Ihr T-Shirt klebte schweißnass an ihrem Körper, und die einsetzende Abendkühle, die aus den Wipfeln der Bäume auf sie herabsank, ließ sie frösteln. Die Träger des Rucksacks hatten ihre Schultern wund gescheuert. Sie streckte ihre Arme aus und schob etwas Laub heran, welches sich kalt und feucht anfühlte und somit kaum zum Wärmen geeignet schien.
Wenigstens hatte sie vor Stunden an einem kleinen Bachlauf etwas trinken können, und sie hatte einen Strauch mit Brombeeren gefunden, von denen einige noch genießbar waren. Dieser Wald gab wenig und nahm viel. Ihr Rücken und ihre Beine schmerzten, sie wusste nicht, wie viele Kilometer sie gelaufen war. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Für einen Moment erschienen die lächelnden Gesichter von Juri, Alex und Zach. Und sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie miteinander angestoßen hatten, als Silva den ersten Cord Holz, 128 Kubikfuß bester Kanadischer Hemlocktanne, verkauft hatte. Sie sah Juris leuchtende Augen, wenn er über das Programmieren sprach, und Alex in seiner »Denkerpose«, wie sie es nannte, wenn er mit aufgestütztem Kinn vor sich hin sinnierte. Und sie hörte, wie Zach ihren Namen »Ava« aussprach mit seinem französischen Akzent. Nun waren sie alle tot, und sie war die Einzige, die noch lebte. Sie öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Keine drei Meter vor ihr schwebte hoch oben ein kleines rotes Licht. Sie wusste nicht sicher, ob es ein Sensor zur Erfassung von Wetterdaten war, ein sogenannter Bug Detector, oder einer der vielen anderen Sensoren. Vielleicht hatte sie ihn sogar selbst angebracht. Oder es war eine der Kameras, die vor wenigen Tagen geliefert worden waren und deren Sinn sie nicht gleich verstanden hatte. Vielleicht beobachtete er sie schon die ganze Zeit und wollte mit allen Mitteln verhindern, dass sie entkam. Sie tastete mit den Händen den Boden um sie herum ab, bekam einen kleinen Stein zu fassen und schleuderte ihn in Richtung des Lichts, verfehlte es jedoch. Wieder knackte es neben ihr, diesmal näher. Sie nahm ihren Rucksack, versuchte aufzustehen. Ihr Knöchel gab nach, als sie ihn belastete, aber sie ignorierte den stechenden Schmerz. Sie schwor sich, zu überleben. Sie würde nicht in diesem Wald sterben: Die Welt musste vom Projekt Silva erfahren.