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Waverly

Moskau, November 2016

Waverly hatte einen günstigen Flug von Berlin-Brandenburg nach Istanbul und von dort in die russische Hauptstadt genommen und war das letzte Stück mit der Metro gefahren. Von der Station Vodny-Stadion waren es zu Fuß gut zehn Minuten bis zum Russischen Staatlichen Militärarchiv. In der Tasche trug sie das Empfehlungsschreiben der Humboldt-Universität. Bis in die Neunzigerjahre war die Existenz dieses Archivs geheim und Zugang nur russischen Geheimdienstlern und Staatsanwälten gewährt worden. Heute durfte es auch von Ausländern zu Forschungszwecken betreten werden, wenn man über die Empfehlung einer Forschungsinstitution verfügte und sein Kommen vorher ankündigte, beide Voraussetzungen hatte sie erfüllt. Als Forschungsthema hatte der Dekan »Die Evaluation des Dokumentenbestands des Ernst von Sachsen-Gotha-Altenburg zur Situation der Geheimbünde im 19 . Jahrhundert« angegeben. Eine sehr verklausulierte Beschreibung für das, was sie im Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen im Norden Moskaus eigentlich vorhatte: Einsichtnahme in den legendären Band Nummer zehn der Schwedenkiste. Es war der einzige der zwanzig Foliobände aus der Schwedenkiste, der von Russland niemals an Deutschland zurückgegeben worden war, sondern seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer in Moskau lagerte. Und dies nicht ohne Grund: Es war der Band, der das geheime Mitgliederverzeichnis der Illuminaten enthielt. Sie hoffte, in Moskau herauszufinden, wer sich hinter dem Pseudonym Abaris verbarg, dem Illuminaten, der in Italien die Bernsteine mit den Samen der Urpflanze entgegengenommen hatte.

Im Archiv hatte ihre Anfrage für Aufregung gesorgt, denn der Band musste erst einmal gesucht werden, war tief im Register des Magazins vergraben. Offenbar war er seit Jahrzehnten nicht eingesehen worden, und dies bedeutete, dass sie die erste ausländische Wissenschaftlerin war, die sich dafür interessierte. Dies und das Reisefieber hatten Waverly einen nervösen Magen beschert, den Snack im Flugzeug hatte sie kaum herunterbekommen. Nun stand sie vor der schweren Eingangstür eines unscheinbaren Gebäudes und wartete darauf, dass jemand den Summer betätigte. Empfangen wurde sie von einer ernst dreinblickenden Frau, deren Alter man nicht erraten konnte und die mit ihrem streng geflochtenen Dutt und knielangem Rock den Charme einer Gefängnisaufseherin im Dienst versprühte. Die Frau sprach nur Russisch und prüfte ihren Reisepass intensiver, als dies an der Grenzkontrolle geschehen war. Dann führte sie Waverly ins Innere des Archivs. Jede Tür, die sie passierten, wurde von ihrer Begleiterin hinter ihnen mit einem großen Schlüssel wieder verschlossen, was das Unbehagen, das Waverly seit dem Betreten des Gebäudes verspürte, nur noch verstärkte. Schließlich erreichten sie einen langen dunklen Flur, in dem es penetrant nach Bohnerwachs roch und von dem verschiedene Räume abgingen. Eine der dunkelgrünen Holztüren schloss die Aufsicht auf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, hineinzugehen. Waverly zögerte kurz, doch dann folgte sie der Anweisung. In dem Raum standen nur ein Tisch und ein Stuhl, die immerhin großen Fenster waren von außen mit schweren Eisenstäben vergittert. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und sie hörte, wie sie von außen wieder verschlossen wurde. Nun war sie gefangen. Panik stieg in ihr auf. Sie machte zwei schnelle Schritte zur Tür und rüttelte an dem Griff, doch sie war verschlossen. Sie schlug mit der Hand gegen das schwere Holz des Türblatts, das jedoch so massiv war, dass die Lautstärke ihrer Schläge einfach verschluckt wurde. Waverly rieb sich die Faust und blickte sich um. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Jetzt entdeckte sie auf dem Tisch ein Telefon. Als sie den Hörer von der Gabel hob, ertönte kein Geräusch. Das Telefon war tot. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus, doch alles, was man sah, war ein schmuckloser Innenhof, von allen Seiten begrenzt durch grau getünchte Wände. Eingeschlossen zu sein erzeugte bei ihr klaustrophobische Gefühle. Sie ging zurück zur Tür und wollte gerade wieder dagegenschlagen und anfangen zu rufen, als sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Die Tür wurde geöffnet, und vor ihr stand die humorlose Babuschka, in beiden Händen einen schweren Folianten. Sie deutete mit einem Nicken auf den Tisch, und Waverly machte einen Schritt zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Nachdem sie den Band auf dem Tisch abgelegt hatte, sagte sie etwas auf Russisch, hob den Telefonhörer ab und drückte eine Taste mit dem stilisierten Bild einer Glocke. Waverly hörte ein Freizeichen. Die Russin legte den Hörer auf, brachte tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande, sagte erneut etwas, das Waverly nicht verstand, und verschwand wieder durch die Tür, nicht ohne diese sorgsam hinter sich zu verschließen. Waverly zog den Stuhl zurück und nahm vor dem zweihundert Jahre alten Folianten Platz. Sie atmete tief ein und schämte sich ein wenig für ihre heftige Reaktion, nachdem sie hier kurzzeitig eingesperrt worden war. Vermutlich war es nicht überraschend, dass in einem russischen Militärarchiv gewisse Sicherheitsstandards galten, und dazu gehörte es offenbar, Türen verschlossen zu halten. Sie schaute auf den Band, auf dessen Rücken ein goldenes X prangte. Der lateinische Buchstabe für 10 . Sie griff nach dem Einband und öffnete ihn vorsichtig mit zittrigen Händen. Ein Lufthauch trug einen Geruch von Leder, Papier und altem Keller zu ihr. Ein Geruch, den sie liebte. Es gehörte zu ihrem Job als Archäologin, lange verborgene Dinge aus der Dunkelheit ans Licht zu zerren, wie Wagner es ausgedrückt hatte. Aber man gewöhnte sich niemals an die Euphorie, die einen überkam, wenn man als Erster ein Tor in die Vergangenheit durchschritt. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, zog ihre Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Dann versuchte sie sich in der Sammlung von Dokumenten zu orientieren. Wie vermutet, enthielt der Band Verzeichnisse von Mitgliedern eines Geheimbundes, und zwar eines ganz speziellen, der Ende des 18 . Jahrhunderts in Deutschland gegründet wurde und rasch eine Reihe angesehener und intellektueller Persönlichkeiten für sich hatte gewinnen können: die Illuminaten. Ihr ging es wie allen, auch sie hatte, als der Begriff in der Schwedenkiste das erste Mal auftauchte, an das berühmte Buch von Dan Brown und den Film mit Tom Hanks gedacht. Doch schon bald hatten ihre Forschungskollegen aus dem Fachbereich Geschichte ihr versichert, dass die wahren Illuminaten mit den heutigen Verschwörungsmythen so viel gemeinsam hätten wie ihr Job mit dem von Indiana Jones. Tatsächlich handelte es sich bei den Illuminaten, was übersetzt »die Erleuchteten« bedeutete, um einen geheimen Bund aufklärerischer Gelehrter, die zur damaligen Zeit gegen Kirche und Staat aufbegehrten – und deswegen verfolgt wurden. Wer Mitglied der Illuminati war, riskierte Stand und Leben. Dies war auch der Grund dafür, dass ihre geheimen Unterlagen, versteckt in der Schwedenkiste, durch Länder und Zeit reisten. Und es war der Grund dafür, dass die Illuminaten ihre Dokumente verschlüsselten, sogar geheime Decknamen trugen. Einige dieser Pseudonyme waren bereits entschlüsselt: So verbarg sich hinter dem Namen »Spartakus« deren Gründer, der Hochschullehrer Adam Weishaupt. Als »Philo« agierte der Schriftsteller Adolph Knigge, dessen Name heute als Synonym für Anstand und Benimm galt. Doch wer verbarg sich hinter dem Namen Abaris? Wer hatte in Italien die in Bernstein eingeschlossenen Samen der Urpflanze an sich genommen und war damit durch Europa gereist?

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie die alten Seiten Blatt für Blatt umschlug. Sie sah Beitrittserklärungen bekannter und unbekannter Persönlichkeiten, Namen, echte Unterschriften. Und dann, als sie schon nicht mehr daran glaubte, blieb ihr Blick an dem Namen Abaris hängen. Er war in angeschrägter altertümlicher Handschrift mit schwarzer Tinte auf einem durch die Jahrhunderte vergilbten Papier geschrieben. Sie entzifferte die Wörter und Sätze des kurzen Textes. Es handelte sich um eine Verpflichtungserklärung, die jeder unterzeichnen musste, der dem Geheimbund beitrat:

»Ich indes unterschriebener, verpflichte mich bei meiner Ehre und gutem Namen meine Aufnahme in eine geheime Gesellschaft betreffend gegen niemanden, weder durch Worte, Zeichen noch Blicke niemals nicht das geringste zu offenbaren.«

Sie schaute auf die Unterschrift und stutzte. Sie legte den Kopf zur Seite, beugte sich vor, las den Namen immer wieder. Doch es gab keinen Zweifel: Abaris war niemand anderes als Johann Wolfgang von Goethe.