Holland
Als er zurück in das Camp kam, fand er alle im Gewächshaus. Sie standen um einen Glaskasten herum. Hinter der Scheibe, die mit einer Luftschleuse ausgestattet zu sein schien, befanden sich in langen Wannen mehrere der Pflanzen. Er erkannte in den Bottichen Steinwolle, ein keimfreies Substrat, welches mit Wasser und einer Nährstofflösung versorgt wird, damit die Pflanzen schneller wachsen. Am Boden des Gewächshauses waren Auslasse zu erkennen, aus denen vermutlich Kohlenstoffdioxid strömte, ebenfalls, um das Wachstum zu beschleunigen.
Über eine der Pflanzen war ein Metallnetz gespannt, an den Blättern der anderen klemmten kleine Sensoren, deren Kabel aus dem Glaskasten hinaus zu einer großen Apparatur führten. Über der dritten Pflanze leuchtete eine UV -Lampe. Er passierte ein sogenanntes Wurzelwaschsystem, welches dazu diente, Wurzeln von Bodenmaterial zu befreien, um anschließend die Durchwurzelungsvorgänge einer Pflanze zu analysieren. Schon lange hatte die Technik in der Pflanzenbiologie Einzug gehalten, und man hatte anscheinend keine Kosten und Mühen gescheut, die modernsten Gerätschaften herbeizuschaffen. Allein der komplexe Aufbau des Gewächshauses beeindruckte ihn. Hier mussten verschiedene Taskforces des Katastrophenschutzes in kürzester Zeit zusammen Großes geleistet haben, froh, ihre aufgestockten Budgets und reichlich gefüllten Magazine endlich einmal zu rechtfertigen. Meyers bemerkte ihn zuerst und schenkte ihm ein erfreutes Lächeln.
»Sie dürfen die Pflanzen nicht verbrennen!«, verzichtete er auf sämtliche Grußformeln, als er die kleine Gruppe erreichte. Nun drehten sich auch Smith und Mortensen zu ihm um.
»Sie dürfen die Pflanzen nicht verbrennen!«, wiederholte er, während er nach Atem rang. Er hörte, wie Mortensen einen verächtlichen Laut ausstieß.
»Es sind Pyrophyten«, fuhr Holland unbeirrt fort.
»Pyrophyten?«, fragte Smith.
»Die Pflanze wird durch Feuer nicht vernichtet, sondern gefördert. Sie verbreitet sich durch Pollenflug, aber sie ist auch an Feuer angepasst. Sie trägt zusätzlich verholzte Früchte, deren Samenhüllen sich erst durch Feuer öffnen.«
»Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte Mortensen.
»Als ich heute Morgen draußen bei der Farm war, habe ich einen dort zurückgelassenen Feuerwerfer in die Nähe der Pflanze gehalten, und sie hat sich zum Feuer hinbewegt. Miss Meyers kann es bestätigen. Die Pflanze sucht das Feuer!«
Wieder lachte Mortensen laut auf. »Hört, sie wärmt sich am Feuer!«, rief er aus. »Ich habe doch gesagt, wir hätten ihn nicht hierherholen sollen. Wir haben die Pflanzen bereits erfolgreich gebrandrodet. Haben Sie nicht die Feuerschneise rund um die Farm bemerkt?«
»Ich war gerade da, und zwischen der Asche in dem Brandgürtel sind überall neue Sprösslinge!«
Mortensen wandte sich an Smith. »Sir, er will uns weismachen, die Pflanzen würden sich aktiv in Richtung Feuer bewegen. Entweder Sie schicken ihn fort, oder ich stelle meine Arbeit ein. Ich kann nur in einem seriösen Umfeld arbeiten!«
Smith hob beschwichtigend die Arme. »Gibt es solche Pyro…?«
»Ja, die gibt es!«, mischte sich erstmals Meyers ein. »Sie nutzen das Feuer zur Verbreitung ihrer Samen!«
»Laubbäume!«, ergänzte Mortensen. »Was soll diese Pflanze noch alles sein? Ein Pyrophyt? Er möchte sich nur wichtigmachen oder die Pflanzen vor dem Verbrennen retten. Und das, obwohl sie Millionen, nein Milliarden Menschen bedrohen. Assassina incognita oder das Höllenkraut, wie Sie es nennen, Sir, wendet sich stets dem Sonnenlicht zu. Das nennt man Heliotropismus. Wie bei den Sonnenblumen verfolgt die Knospe die Sonne von Ost nach West, während sie sich nachts oder in der Morgendämmerung nach Osten zurückdreht. Vielleicht hat sie seinen Bunsenbrenner mit der Sonne verwechselt …«
»Sir«, wandte Holland sich an Smith. »Heliotrope Pflanzen reagieren auf blaues Licht, nicht auf Wärme! Fahren Sie bitte mit mir hinaus zum Aschering und schauen Sie selbst!«
»Wer sagt, dass die Sprösslinge, wenn dort überhaupt welche sind, tatsächlich von dieser Pflanze stammen?«, hielt Mortensen weiter dagegen. »Die Sprösslinge können genauso von Fluginsekten eingeschleppt worden sein oder aus Pollen anderer Pflanzen stammen.«
»Glauben Sie mir, die Sprösslinge stammen von Ihrer Assassina incognita! Sie haben mir die Hand verbrannt!«
»Wir haben keine Zeit mehr! Jeden Tag sondern diese Pflanzen Milliarden von Pollen ab. Milliarden! Wir wissen, dass zum Beispiel die Pollen von Ambrosia artemisiifolia Hunderte Kilometer weit fliegen. Wenn dies hier auch der Fall ist, dürfen wir keine Sekunde zögern, alle Pflanzen auf unserem Kontinent zu vernichten. Ich halte es für einen Fehler, dass wir es bislang noch nicht getan haben. Wir können die Pflanze in Gewächshäusern wie diesem in geschützter Atmosphäre untersuchen!«
»Wer weiß, ob die Pflanzengeneration, die aus den im Feuer aufgeplatzten Samenkapseln erwächst, nicht noch gefährlicher ist!«, warf Holland ein.
»Mr Holland«, mischte Smith sich ein. »Haben Sie eine bessere Idee, als sie zu verbrennen?«
Tatsächlich hatte er noch keine bessere Idee. »Wie gesagt, ich hatte noch nicht genügend Zeit. Vielleicht hat die Pflanze natürliche Feinde, wie die Evippe-Motte. Züchtet man diese und setzt sie auf die Pflanze an, kann sie deren Verbreitung eventuell gezielt verhindern. Sogenannte Biocontrol Agents sind eine sehr natürliche Art der Bekämpfung und versprechen große Erfolge gegen invasive Arten. Aber dafür bräuchte es weitere Experimente!«
»Und wenn die Pflanzen alle tot sind, haben wir mit der Invasion der Motten das nächste Problem!«, sagte Mortensen.
Smith blickte resigniert zu Meyers. »Was meinen Sie dazu?«
Holland sah, wie ihr Blick zwischen ihm und Mortensen hin und her wanderte.
»Wir wissen einfach zu wenig über diese Pflanze. Daher halte ich es weiterhin für vertretbar, sie durch Feuer zu zerstören, solange wir noch keinen besseren Weg der Bekämpfung gefunden haben.« Holland sah, wie über Mortensens Gesicht ein zufriedenes Lächeln huschte. »Zwei gegen einen«, sagte er zu Smith und streckte seinen Arm aus, um ihn um Meyers’ Hüfte zu legen.
»Dann bleiben wir bei unserem Plan«, verkündete Smith nach einer kurzen Denkpause.
»Mr Mortensen hat ausnahmsweise einmal recht«, sagte Holland. »Drei sind einer zu viel. Und wir haben ein ganz unterschiedliches Verständnis von Pflanzen. Aber auch Miss Meyers hat recht«, fuhr er fort. »Niemand auf der Welt hat je zuvor solch ein Gewächs wie dieses hier gesehen. Die Pflanze scheint die Eigenschaften vieler verschiedener Pflanzen in einer einzigen zu vereinen. Es ist dringend notwendig, nach ihrem Ursprung zu forschen. Stellen Sie sich vor, die Pflanze wäre ein Tier: Würden Sie dann nicht auch schauen, wo dieses Tier herkommt und wie es sich in seiner Heimat verhält?«
»Und was schlagen Sie vor?«, fragte Smith.
»Ich reise nach China. Sie sagten, die Samen kämen von dort. Und Sie sagten, es sei für Sie als Regierung derzeit politisch nicht einfach, dort aktiv zu werden. Das gilt für mich nicht. Ich bin bloß eine Privatperson, und ich habe Verbindungen nach China. Ich werde dort hinfliegen und schauen, ob ich die Quelle dieser Pflanzen, der Samen, ausmachen kann.«
Smith sagte noch immer nichts. Es war förmlich zu sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete.
»Um so viele Samen zu produzieren, wie verschickt wurden, benötigt man sehr viele Pflanzen, eine ganze Plantage. Wir können hier noch so große Anstrengungen unternehmen, um das Auftreten der Pflanze zu bekämpfen: Wenn von dort immer wieder neue Samen verteilt werden, werden wir erfolglos sein. Wie wollen Sie einen Fluss zum Versiegen bringen, wenn Sie die Quelle nicht trockenlegen?«
»Wir könnten dort vor Ort in China nicht viel für Sie tun. Sie wären auf sich allein gestellt«, sagte Smith. »Sollte man in China den Eindruck gewinnen, dass Sie in unserem Auftrag ermitteln, kann dies zu politischen Verwicklungen führen. Vielleicht würden Sie sogar als ausländischer Agent verhaftet.«
»Mein neues Buch ist bislang in einigen Ländern erschienen, darunter auch in China. Ich werde meinen Verlag in Schanghai besuchen und bei der Gelegenheit eine kleine Rundreise unternehmen. Wenn ich innerhalb von zweiundsiebzig Stunden weiterreise, kann ich mich in China sogar visafrei bewegen. Ich kann also beispielsweise auch das Postamt aufsuchen, das sie erwähnten. Meine Kenntnisse der Pflanzenwelt helfen mir, ich weiß, wonach ich suchen muss. Ich schicke Ihnen eine Postkarte.«
Smith schien zu einer Entscheidung gelangt zu sein. »Dann bin ich einverstanden. Wie lange brauchen Sie, bis Sie reisefertig sind?«
Holland dachte an seinen Sohn Otto, von dem er nun bereits einige Tage getrennt war und den er, wenn er nach China flog, noch deutlich länger nicht sehen würde. Er dachte an die Fotos von der Leiche der Farmerin, die Smith ihm gezeigt hatte. Daran, wie er heute Morgen auf der Farm beinahe erstickt wäre. An die Grafik mit der Prognose zur weiteren Ausbreitung der Pflanzen. Früher oder später würde die Pflanze auch nach Deutschland kommen, zu ihm nach Hause. Es musste alles dagegen unternommen werden, was möglich war. »Ich bin reisefertig«, sagte er. »Es wäre hilfreich, wenn mir jemand die schnellste Verbindung nach Schanghai heraussuchen und ein Ticket buchen würde. Und ich brauche alle Informationen, die Sie bislang zu der Pflanze zusammengetragen haben.«
Smith nickte und schaute fragend zu Mortensen. »Keine Einwände«, sagte der. »Ich bin froh, wenn er weg ist.«
Smith’ Blick wanderte zu Meyers. »Ich reise mit ihm«, sagte sie und drehte sich zu Mortensen, dessen Gesichtszüge entgleisten.