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Ava

Im Wald, Kanada, August 2023

Ihre Großmutter hatte ihr oft von Bukwus erzählt, auch bekannt als »Wilder Mann in den Wäldern«. Er beschützte die Wälder vor Eindringlingen und Schaden. Nach der Legende des indigenen Volkes der Kwakwaka’wakw, die in Vancouver Island lebten und deren Nachfahrin ihre Großmutter und somit auch sie war, lauerte Bukwus im Schatten des dunklen Waldes. Kaum größer als ein Kind und giftgrün, bot er verlorenen Wanderern Nahrung, um sie in seine Unterwelt zu locken. Die Seelen, die er für sich stehlen konnte, waren zu ewigem Elend, Hunger, Rastlosigkeit und Bosheit verdammt. Wenn man es wusste und genau hinsah, konnte man die von ihm gefangenen Seelen sogar um Bukwus’ Haupt herumschweben sehen.

Es war ihre Idee, ihn heimlich Bukwus zu taufen, weil Silva ihr irgendwann nicht passend vorgekommen war. Und die anderen hatten den Namen irgendwann aus Spaß übernommen. Sie hatten nicht ahnen können, dass sie vier, dass Alex, Juri, Zach und sie selbst, in Wirklichkeit die verlorenen Seelen waren, die die ganze Zeit um Silva alias Bukwus herumschwebten. Sie wusste nicht, ob er es mitbekommen hatte, dass sie ihn scherzhaft Bukwus nannten. Aber er hatte ohnehin keinen Sinn für Humor.

Jetzt lag sie verborgen im aufgegebenen Bau irgendeines Tieres, unter einem Haufen Blätter, die sich zunächst kühl und feucht angefühlt hatten, nun aber tatsächlich etwas Wärme spendeten. An ihren Armen und Beinen kribbelte und krabbelte es, vermutlich war das Laub voller Käfer, Spinnen und anderem Getier, sie traute sich jedoch nicht, nachzuschauen. Ihr Gesicht hatte sie mit Dreck beschmiert, sodass sie beinahe unsichtbar sein musste. Sie hatte nicht geschlafen, vielleicht ein wenig gedöst. Im Zwielicht der Morgendämmerung bildeten die wenigen Lichtstrahlen, die die Wipfel in den Wald ließen, immer neue Schemen vor den mit grünem Moos bewachsenen Bäumen, und für einen Moment glaubte sie sogar, darin Bukwus’ fratzenhafte Gestalt zu erkennen. Es musste der Hunger sein, der sie zusehends schwächte. Sie wünschte, sie könnte ein Eichhörnchen fangen und es über einem Feuer braten. Oder eines der Rehe, die ihr auf ihrem Weg dann und wann verwundert aus dem Unterholz entgegenblickten. Ihre Vorfahren hätten sie jagen können. Vielleicht sogar ihre Großmutter. Sie konnte so etwas nicht mehr, dafür konnte sie einen Computer bedienen. Aber sie musste sich sowieso vor den Männern vorsehen. Zwar hatte sie noch keinen von ihnen entdeckt. Aber sie war sich sicher, dass die Männer ihr dicht auf den Fersen waren. Silva hatte sie hergeholt, vor einer Woche hatten sie eines Morgens plötzlich schwer bewaffnet vor der Tür des Bunkers gestanden und ihnen die Nachricht gezeigt, die Silva ihnen über das Darknet geschickt hatte. Silva hatte sie in Bitcoins bezahlt, die einzige Währung, die er kannte. Erst hatte Juri sie nicht hereinlassen wollen, doch Silva hatte die Tür geöffnet und ihnen die Entscheidung abgenommen. Die Männer waren roh und gewalttätig, und einer hatte sie, begleitet von ordinären Sprüchen, mit seinem Gewehrlauf zwischen den Beinen berührt. Vielleicht war dies der Moment gewesen, wo sie hätten versuchen sollen, zu gehen. Doch bei Zach und Alex hatte die Freude über Silvas initiatives Handeln überwogen. »Seine Freunde sind auch unsere Freunde. Silva weiß schon, was er tut«, hatte Zach gesagt. O ja, er hatte es gewusst, aber anders als von Zach gedacht.

Sie nahm eine Bewegung wahr, keine drei Meter von ihr entfernt. Es war keine kleine grüne Kreatur. Kein Bukwus, der gekommen war, um ihr etwas zu essen anzubieten.

Es war einer der schwarz gekleideten Männer, der, eine Armbrust im Anschlag, mit vorsichtigen Schritten durchs Unterholz schlich. Auf der Suche nach ihr.

Um auch sie zu töten.