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Holland

Über dem Pazifik, 17 . August 2023

Der Hubschrauber hatte Meyers und ihn am frühen Morgen zum Flugfeld nach Marshall gebracht, von wo sie von Homeland Security weiter nach New York geflogen wurden. Es hatte sich herausgestellt, dass direkte Flugverbindungen aus den USA nach Schanghai rar waren. Beim Start des Helikopters hatten sie ein letztes Mal die Farm passiert, um die herum zum Sonnenaufgang bereits Hochbetrieb herrschte. Als der Learjet wenig später in Marshall mit ihnen an Bord gestartet war, hatte er am Horizont bereits schwarze Rauchschwaden aufsteigen sehen. Projekt Höllenfeuer hatte begonnen. Die Amerikaner mussten allem einen pathetischen Namen geben. Meyers war am Morgen wenig gesprächig. Vermutlich war Mortensen nicht begeistert gewesen, dass sie mit ihm reiste. In der Nacht hatte er aus Mortensens Wohnmobil, welches nicht weit von seinem entfernt parkte, einen lauten Streit gehört.

Holland hatte in der Nacht lange mit Otto gechattet und auch seinen Literaturagenten in Deutschland in alles eingeweiht. Dieser hatte dem Verlag in Schanghai, der die Auslandslizenz für sein Buch in China erworben hatte, seinen Besuch angekündigt. Dort war man überrascht, aber erfreut. So hatten sie für die chinesischen Behörden das perfekte Alibi für ihren Besuch in Schanghai. Am John F. Kennedy Airport hatte er vor ihrem Weiterflug mit Air China in einem Zeitungsständer für internationale Zeitungen die Kronen Zeitung aus Österreich gefunden. Meyers im Sitz neben ihm schien zu schlafen, und so nahm er die Zeitung und las.

Wie von Smith angekündigt, entdeckte er auf Seite drei einen großen Artikel mit der Headline »Mysteriöse Alien-Pflanze löst Allergie aus – 1 Tote«. Berichtet wurde von einer Familie aus Österreich, in deren Garten sich ein unbekanntes Gewächs ausbreitete, nachdem die kleine Tochter Samen eingepflanzt hatte, die per Post gekommen waren. Nach längerer Abwesenheit in den nahen Bergen hatte die Familie ihren gesamten Garten überwuchert vorgefunden. Bei dem Versuch, das Kraut zu entfernen, hatte die Mutter, die laut dem Artikel an Vorerkrankungen litt, einen Asthmaanfall erlitten, an dem sie später im Spital gestorben war. Vermutet würde ein Zusammenhang mit der »Alien-Pflanze«. Zitiert wurde ein Biologe, der eine solche Pflanze »noch niemals zuvor gesehen« hatte. Die Pflanzen würden von der Bezirkshauptmannschaft Umwelt entfernt, einzelne Exemplare vom Fachdienst am Institut für Botanik in Innsbruck weiter untersucht. Verwiesen wurde auf Berichte, dass auch in anderen Landesteilen Haushalte mysteriöse Samen per Post aus Asien erhalten hätten. Es wurde davor gewarnt, diese einzupflanzen. »Entsorgen Sie die Samen in der Tüte im Restmüll, auf keinen Fall im Biomüll, und informieren Sie die Behörden über den Erhalt«, riet der Biologe. Neben dem Artikel fanden sich Fotos der verstorbenen Mutter, eines idyllischen Hauses im typisch österreichischen Baustil, welches mit rot-weißem Warnband abgesperrt war, und ein Bild der Samentüte, die genauso aussah wie die, die man Holland in Cottonwood präsentiert hatte. Sein Blick verharrte einen Moment auf dem Porträt der Frau, die fröhlich in die Kamera lachte, dann faltete er die Zeitung zusammen und seufzte laut.

»Was ist?«, fragte Meyers mit verschlafener Stimme.

»Schlechte Nachrichten«, sagte er und fasste ihr die Meldung kurz zusammen. Dann verstaute er die Zeitung in dem Netz seines Vordersitzes.

»Es ist wirklich besorgniserregend«, sagte sie und presste die Lippen zusammen. Sie richtete sich in ihrem Sitz auf. Trotz der Müdigkeit sah sie auch heute wieder blendend aus.

»Warum wollten Sie mich unbedingt begleiten? Ich denke, er war davon nicht begeistert.«

Sie lächelte. »Waren wir so laut?«, fragte sie und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Edgar neigt oft zu Dramatik, aber glauben Sie mir, er hat auch seine guten Seiten. Wir kennen uns schon sehr lange, und er war für mich da, als sich niemand sonst um mich gekümmert hat.«

Eine Erklärung, um die Holland gar nicht gebeten hatte. Insgeheim rechnete er zurück, wie alt Meyers wohl war und wie lange die beiden ein Liebespaar sein konnten, wenn sie sich bereits sehr lange kannten. Er schätzte sie auf vielleicht Mitte dreißig.

»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie.

»Ich war.«

»Geschieden?«

»Meine Frau ist gestorben.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Ich danke Ihnen. Es ist schon länger her.«

»Wie hieß sie?«

»Hanna.«

»Ein schöner Name.«

Er nickte. »Sie war ein toller Mensch.«

Einen Moment schwiegen beide. »Ich schulde Ihnen noch die Antwort, warum ich Sie begleiten wollte«, sagte Meyers schließlich und lächelte. »In Cottonwood werde ich aktuell nicht mehr gebraucht. Ich kann diese Pflanze offen gestanden auch nicht mehr sehen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir in China Antworten finden. Die eine Frage ist, wie wir die Pflanze stoppen können. Diese muss vermutlich im Labor beantwortet werden. Die andere Frage ist aber: Wer verschickt diese Samen, und wo kommen sie her? Tierähnliche Lebewesen fallen schließlich nicht einfach so vom Himmel.«

Sie hatte die Pflanze ein tierähnliches Lebewesen genannt, eine Bezeichnung, auf der er seit Jahren bestand, wenn die Menschen Pflanzen wie Steine behandelten.

»Und ich mag Ihre Bücher«, ergänzte sie und schenkte ihm erneut ein Lächeln.

Die Stewardess erreichte ihre Sitzreihe und schenkte Getränke aus. Meyers nahm einen Tomatensaft mit Salz, er einen Wein. Er trank nicht oft Alkohol, aber er flog nicht gern, und Wein half.

»Und warum haben Sie mich mitgenommen?«, fragte sie.

Um Ihren Verlobten zu ärgern, lag ihm als Antwort auf der Zunge. Aber es war nicht die Wahrheit. Er schätzte ihre Gegenwart. Sie schien nicht nur fachlich bewandert zu sein, sondern er fühlte sich einfach wohl in ihrer Nähe.

»Offenbar benötige ich ab und zu jemanden, der mir das Leben rettet«, sagte er.

Sie lachte, beugte sich vor, kramte in ihrer Handtasche und holte ein Asthmaspray hervor. »Ich bin vorbereitet.«

Er mochte es, wie ihre Augen mitlachten.

Einen Moment nippten beide an ihren Getränken.

»Neophyten«, sagte Holland schließlich.

Meyers schaute irritiert auf.

»Ihr Tomatensaft. Tomatenpflanzen sind auch Neophyten. Sie waren in Europa nicht heimisch, sondern sind bewusst eingeschleppt worden. Anders als meine Trauben im Wein.« Er hob seinen Plastikbecher mit dem Weißwein. »Wobei Trauben ursprünglich nur rot waren und erst durch eine doppelte Mutation in zwei nebeneinanderliegenden Genen in einem einzigen Rebstock auch weiß wurden. Hätte es diese zufällige Mutation nicht gegeben, hätten wir heute nur Rotwein.«

Der Alkohol auf nüchternen Magen ließ ihn dozieren. Er musste sich zusammenreißen.

»Nur sind Tomaten nicht invasiv«, sagte Meyers. »Sie schaden unserer heimischen Ökologie nicht. Wir unterscheiden ja immer noch gute und böse Neophyten. Absichtlich eingeschleppte Pflanzen und Pflanzen, die sich ungebeten ausbreiten.«

Er nickte. Natürlich wusste sie das alles.

»Unsere Assassina incognita ist, anders als die Tomate, extrem invasiv, ein Neophyt, wie er im Drehbuch eines Horrorfilms steht. Der aktuell offenbar weltweit gleichzeitig durch die Paketsendungen verteilt wird. Was ich mich die ganze Zeit über frage«, kam er endlich zum Punkt seiner Überlegungen, »wer profitiert davon, wenn diese Pflanze, dieser Krieger unter den Neophyten, sich unkontrolliert auf unserem Planeten ausbreitet? Außer der Pflanze selbst gibt es meines Erachtens nur Verlierer. Aber die Pflanze kann ihre Samen ja nicht selbst verschickt haben.«

Meyers starrte ihn an und zuckte mit den Schultern.

»Ich meine, es würde am Ende kein Landstrich verschont bleiben. Letztlich ist die Verbreitung einer solchen Art ökologischer Selbstmord. Aber irgendwer muss die Päckchen gepackt und verschickt haben.«

»Vielleicht wusste derjenige nicht, was er damit anrichtet?«, warf Meyers ein.

»Das glaube ich nicht. Dazu ist die Aktion zu koordiniert. Wer würde Hunderte oder sogar Tausende Samen in alle Welt verschicken, wenn er nicht wüsste, welche Gefahr von diesen Samen ausgeht?«

»Vielleicht eine Weltuntergangssekte? Klimafanatiker? Es gibt genügend Menschen, die der Natur ein Comeback und der menschlichen Rasse den Niedergang wünschen.«

»Comeback der Natur ist gut«, sagte Holland. Er dachte an die Simulation, die Smith ihm gezeigt hatte, einen möglichen Ernteausfall von Getreide, seinen Asthmaanfall, den Artikel in der Zeitung aus Österreich. »Es ist eher ein Feldzug.«

»Fest steht, dass sie jemand gezüchtet, verpackt und versendet haben muss«, sagte Meyers. Sie hatten entschieden, nachdem sie dem Verlag einen Anstandsbesuch abgestattet hatten, als Erstes das Postamt in Hangzhou aufzusuchen, in dem die Samen nach den Ermittlungen der chinesischen Behörden aufgegeben worden waren. »Und wir werden denjenigen finden!«

»Eine solche Menge Pflanzen, wie man für die Produktion der Samen braucht, kann man jedenfalls schwer verstecken«, entgegnete Holland.

»Wenn überhaupt, dann allerdings in so einem großen Land wie China. Smith sagte, man habe einen der Angestellten verhaftet. Mit ihm werden wir wohl kaum sprechen können«, bemerkte Meyers.

»Ich habe von Dechambeau vor dem Abflug einen Kontakt zur chinesischen Polizei erhalten«, sagte Holland und kramte aus der Tasche einen kleinen Zettel hervor, auf dem Dechambeau den Namen und eine Telefonnummer notiert hatte.

»Ich dachte, wir sollen uns von der Polizei fernhalten?«

»Es wirkte so, als wüsste Smith nichts davon.«

»Na super!« Meyers lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Ich versuche lieber noch ein bisschen zu schlafen!« Sie wickelte sich in die Decke der Fluggesellschaft und schloss die Augen.

Er nahm einen weiteren Schluck vom Wein und beschloss, zu arbeiten. Er erhob sich und holte aus dem Gepäckfach über ihnen seinen Rucksack hervor. Einen alten Rucksack aus seiner Zeit als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr, von dem er sich seit fünfundzwanzig Jahren nicht trennen konnte. Er öffnete ihn und kramte im engen Flugzeuggang nach seinem iPad, als er etwas Hartes fühlte. Er zog ein kleines schwarzes Büchlein hervor. Es gehörte nicht ihm. Angestrengt dachte er nach, dann sah er plötzlich das Bild vor sich, wie er im Büro des Managers vom Powers Book Store auf der Couch gelegen hatte, noch wie betrunken von der Ohnmacht, und der Buchhändler ihm seine Sachen von der Lesung überreicht hatte, darunter dieses Büchlein, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Holland nahm sein iPad und das Büchlein und rutschte zurück in seinen Sitz. Es musste an seiner Ohnmacht oder der Beule am Kopf gelegen haben, dass er nicht mehr daran gedacht hatte. Vielleicht hatte er den Vorfall auch einfach nur verdrängt. Er knipste die Leseleuchte über seinem Sitz an.

»Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Gedichte « stand auf dem Einband. Er musste schmunzeln. Wie lange war es her, dass er sich mit Goethe befasst hatte?

Er öffnete das Buch. Auf der ersten Seite stand in ordentlicher Mädchenschrift »Waverly Park«. War dies der Name der erschossenen Frau? Das schlechte Gewissen packte ihn, dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte. Wusste die Polizei in Portland überhaupt ihren Namen? Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Nach wie vor fand er es merkwürdig, dass er so wenig über sie erfahren hatte. Er hatte mehrmals bei Dechambeau nachgehakt, aber es schien beinahe so, als wollte der ihn von der Sache fernhalten. Vielleicht tatsächlich, damit er sich auf das Problem mit den Pflanzen konzentrieren konnte. Oder Dechambeau mochte sich selbst nicht darum kümmern, weil er es gewesen war, der die Frau erschossen hatte. Man merkte ihm zwar nicht an, dass es ihn in irgendeiner Weise berührte, aber wenn er etwas im Wald gelernt hatte, dann, dass sich hinter der scheinbar dicksten Borke die meisten Käfer einnisteten. Holland schloss kurz die Augen und erinnerte sich an die Szene bei der Lesung, wie die Frau auf ihn zugekommen war, plötzlich etwas Schwarzes in der Hand gehalten hatte. Er öffnete die Augen, betrachtete das Buch. Eine Waffe hatte er nicht gesehen, allerdings erinnerte er sich daran, wie Dechambeau, seine Pistole in der rechten Hand, über die Frau gebeugt stand, eine zweite Pistole in der anderen Hand. Er nahm sein Handy, wählte das WLAN des Flugzeugs an und gab den Namen »Waverly Park« ein. Die Suchmaschine spuckte mehrere Porträtfotos aus. Gleich auf dem ersten Foto erkannte er die junge Frau aus dem Buchladen. Er klickte das Bild an und vergrößerte es mit zwei Fingern. Es zeigte eine junge Frau asiatischer Abstammung, mit einem Blick, der gleichermaßen Zurückhaltung wie auch Neugierde verriet. Ihre Haare waren zum Zopf gebunden, dazu trug sie eine weiße Bluse. Er öffnete die Website, die zu dem Foto gehörte. Es war der Internetauftritt des Archäologischen Instituts Potsdam, für das Waverly Park offenbar an einem Projekt gearbeitet hatte. Also war sie Archäologin oder Biologin oder beides. Er seufzte und nahm sich wieder den Gedichtband vor.

Er blätterte weiter, fand nur wenige Gedichte, die er kannte. Zwischen zwei Seiten entdeckte er das getrocknete Blatt eines Baumes. Auf einer der Seiten war ein Gedicht Goethes mit dem Titel »Gingo biloba« abgedruckt.

Holland, der eine Lesebrille als Eingeständnis seines Alterns ansah und sich daher bislang dagegen wehrte, streckte den Arm noch ein wenig weiter aus und las:

Gingo biloba

Dieses Baum’s Blatt, der von Osten

Meinem Garten anvertraut,

Gibt geheimen Sinn zu kosten,

Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen?

Das sich in sich selbst getrennt,

Sind es zwei, die sich erlesen,

Dass man sie als eines kennt.

Solche Fragen zu erwidern

Fand ich wohl den rechten Sinn;

Fühlst du nicht an meinen Liedern

Dass ich eins und doppelt bin?

Daneben befanden sich Notizen, die er nicht entziffern konnte.

Er las das Gedicht noch einmal, dann nahm er das gepresste Laubblatt und betrachtete es. Es war knochentrocken und schien sehr alt. Es sah aus, als habe es jemand zwischen den Seiten eines Buches getrocknet. Er glaubte, darin eine Hälfte eines Ginkgo-Blattes zu erkennen, was zum Gedicht passte. Vielleicht hatte Waverly Park es vor langer Zeit in das Buch zum Trocknen hineingelegt.

Er schaute zu Meyers, die noch immer ruhig und gleichmäßig atmete. Dann blätterte er weiter, fand ein weiteres, wie ein Lesezeichen in das Buch hineingelegtes Blatt und erstarrte. Es zeigte die feine Zeichnung einer Pflanze, welche allerdings eher wie ein Schaubild aus der Schule wirkte. Von einem langen Pflanzenstiel, der auch ein Stamm hätte sein können, gingen allerlei Pflanzenteile ab, wie Wurzeln, Blätter und Äste, die zum Teil Früchte trugen. Kurioserweise war dabei so ziemlich alles an Wurzel- und Blattformen sowie Fruchtarten vertreten, was die Pflanzenwelt hergab. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte, und brauchte einen Moment, bis er verstand, dass die Abbildung durch die Vereinigung von Merkmalen verschiedener Pflanzenfamilien etwas mit der Pflanze in Cottonwood gemein hatte. Er strich über das Bild, als wollte er die Darstellung erfühlen. Ein Unwohlsein erfasste ihn. Er kannte diese Zeichnung, die gar keine war. Es handelte sich um einen alten Holzschnitt von Turpin, entstanden Anfang des 18 . Jahrhunderts, und er zeigte die nach den Vorstellungen Goethes erstellte Urpflanze. Er hatte in einem seiner ersten Bücher ein Kapitel über die Urpflanze aufgenommen, und sein Verlag und er hatten selbst überlegt, diese Abbildung in sein Buch mit aufzunehmen, sich dann aber dagegen entschieden. Er nahm das Bild heraus und hielt das Büchlein ein wenig weiter entfernt, um im Halbdunkel der Flugzeugkabine besser sehen zu können. Die Pflanze ähnelte tatsächlich der Assassina incognita. Konnte es sein, dass es sich dabei um diese Urpflanze handelte? Jene Pflanze, von der der vielen nur als Dichter bekannte Naturforscher Goethe seinerzeit behauptet hatte, sie sei die Mutter aller Pflanzen, und nach der er sein Leben lang gesucht hatte?

Naturwissenschaftlich betrachtet, glaubte wohl niemand, dass es eine solche Urpflanze einmal gegeben hatte. Aber er hatte die Pflanze in Cottonwood selbst gesehen! Und es würde passen: Die Urpflanze musste ein Generalist gewesen sein, das heißt eine Pflanze mit vielen verschiedenen Eigenschaften. Die Pflanzenwelt hatte sich erst danach, im weiteren Verlauf der Evolution, weiter spezialisiert und diversifiziert, in der Folge hatten die vielen Eigenschaften sich auf einzelne Pflanzenarten verteilt. Er schloss das Buch und lehnte sich zurück. Zu gern hätte er sich mit dieser Waverly Park unterhalten. Plötzlich erfasste ihn eine große Trauer um die erschossene Frau, obwohl er sie gar nicht gekannt hatte. Waverly war ein besonderer Name. Park deutete auf eine asiatische Abstammung hin, vielleicht koreanisch. Wer war diese Frau gewesen, und was hatte sie von ihm gewollt? Er erinnerte sich an die Frage, die sie ihm auf der Veranstaltung gestellt hatte. Sie wollte seine Meinung über die invasiven Pflanzen erfahren, die sich seinerzeit überall ausbreiteten. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er noch nichts davon mitbekommen, anders als sie. Und sie hatte, wie Dechambeau meinte, gesagt, dass sie ihn töten wolle. Aber warum? Sein Kopf begann zu schmerzen, noch immer spürte er die Beule am Hinterkopf, die von seinem Ohnmachtsanfall während der Lesung stammte. Er steckte auch den Gedichtband in das Gepäcknetz des Vordersitzes und schaute auf den Rest des Tomatensafts, der beinahe dieselbe Farbe wie Waverly Parks Blut auf dem Teppich hatte. Ihm wurde schlecht. Er schloss die Augen und versuchte zur Ablenkung im Kopf die Zeilen des Ginkgo-Gedichts aufzusagen. »Dass ich eins und doppelt bin«, sagte er leise und fühlte sich davon merkwürdig berührt.