Otto
Sie waren gekommen, um Ottos Schulsachen für die nächsten Tage zu holen. Heute hatte sie ihn auf einer Berliner Polizeiwache abholen müssen. Zusammen mit anderen Jugendlichen hatte er sich in Berlin an der Frankfurter Allee mit Sekundenkleber auf die Straße geklebt, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Es hatte ein riesiges Verkehrschaos gegeben, und Otto und die anderen waren, nachdem die Polizisten die Hände mühsam mit Sonnenblumenöl vom Asphalt gelöst hatten, in Polizeigewahrsam genommen worden. Obwohl sie die Natur liebte, seit Jahren die Grünen wählte und früher für Abrüstung demonstriert hatte, hatte sie Probleme, die Aktion gut zu finden. Es war ein Unterschied, ob man Parolen rief oder ob man sich aus Protest auf eine viel befahrene Straße klebte. Sie hatte mit ihm geschimpft und er gemault. Am Ende hatten sich beide darauf geeinigt, es besser nicht seinem Vater zu erzählen. Der hatte auf seiner Reise genügend Stress. Über zweihundert Euro würde die Aktion kosten, hatte der Polizist beim Abholen geschätzt, und sie hatte Otto klargemacht, dass er es von seinem Taschengeld würde zahlen müssen. Zudem drohte eine Anzeige. Nun saß sie mit Ärger im Magen am Tisch in der Diele und wartete, bis Otto fertig mit dem Umziehen war.
Sie hatte den Katzen bereits neues Futter und Wasser hingestellt und sortierte jetzt die in den vergangenen Tagen aus dem Briefkasten geholte Post nach Briefen und Werbung.
Ihr Blick fiel auf das aufgerissene Paket und die beiden Tüten mit den roten Kieseln. Sie nahm sie und hielt sie unter das Licht der Deckenleuchte. Als ehemalige Biologielehrerin war sie sich bei näherer Betrachtung sicher, dass es sich um besondere Samen handelte. Sie schaute noch einmal, kein Anschreiben, kein Absender. Als Förster erhielt Marcus vermutlich häufiger solche Zusendungen. Otto kam zurück, in der Hand hielt er sein Skateboard.
»Wo willst du hin?«, fragte Melissa.
»Zu Freunden.«
»Du hast Hausarrest«, entgegnete sie.
»Du bist nicht meine Mutter!«
»Das ist richtig. Sonst hätte ich dir die Leviten gelesen. Wir können auch deinen Vater anrufen …«
Otto zögerte. Ihr Blick fiel auf die Samen. In der Schule hatte sie mit den Schülern zweimal im Jahr Pflanzaktionen im Schulgarten durchgeführt und wusste, wie viel Spaß es den Kindern gemacht hatte, Gemüsesamen einzupflanzen und den Wuchs der Pflanzen bis zur Ernte zu verfolgen. Samen waren wie Wundertüten, besonders wenn man nicht wusste, um welche es sich handelte.
»Wollen wir deinen Vater überraschen?«, fragte sie und griff die Tüte. »Du und deine neuen Freunde, ihr seid doch so fürs Bäumepflanzen. Wir suchen uns jetzt einen schönen Platz im Garten, und dann pflanzen wir die hier ein! Und dann wollen wir mal schauen, was daraus wird.«
Begeisterung sah anders aus.