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Holland

Schanghai, 18 . August 2023

Es war sein erster Besuch in China. Er hatte bereits viele Teile der Welt gesehen, war sogar als Student in Neuseeland gewesen. Aber die Volksrepublik China war noch ein weißer Fleck auf seiner persönlichen Landkarte. Nach der langen Reise fühlte er sich erschöpft, anders als Meyers, die den größten Teil des Fluges neben ihm geschlafen hatte. Die Einreise in Schanghai absolvierten sie problemlos, und auch ihre Koffer waren mitgekommen, wobei sein Gepäck nur aus einer Reisetasche und dem Rucksack bestand. Sein Aufenthalt in den USA war nur auf eine Woche ausgelegt gewesen. Die Lesereise sollte während seiner Sommerpause als Förster stattfinden und hatte in Seattle begonnen. Als weitere Stationen waren nach der Lesung in Seattle und Portland die Städte Boston, New York und Washington geplant gewesen, bevor es zurück nach Berlin ging. Sein Agent war empört gewesen, als er ihn angerufen und die Veranstaltungen kurzfristig gecancelt hatte. Er hatte ihm die Wahrheit gesagt, ihm von der Pflanze erzählt, aber er wusste nicht, ob sein Agent die wahre Tragweite der Bedrohung erfasste. Man einigte sich darauf, eine plötzliche Erkrankung vorzuschieben. »Und wer ersetzt uns den finanziellen Schaden?«, hatte sein Agent verzweifelt gefragt. Eine gute Frage, aber Geld spielte für Holland nur eine untergeordnete Rolle. Er hatte genug davon, um das Leben zu führen, das er führen wollte, und er schrieb die Bücher nicht um des Geldes wegen. Nichtsdestotrotz versprach er seinem Agenten, ihm einen Kontakt zu Homeland Security zu vermitteln, damit dieser wegen einer Entschädigung verhandeln konnte. Seine Sorge galt vielmehr dem Wald in seiner Heimat. Der Frühherbst stand vor der Tür und damit das Auszeichnen der Bäume. Als Forstwirt markierte er in diesen Tagen jene kranken Bäume, die zur Durchforstung entnommen werden mussten. Aber er zeichnete auch die sogenannten Zukunftsbäume aus, bei denen ein besonders hoher Holzzuwachs zu erwarten war und die von bedrängenden Bäumen im Kronenraum befreit werden mussten. Zudem stand die Lese des Saatguts an. Nun geriet sein Zeitplan ins Wanken. Er hatte am Flughafen in New York bereits mit der Landeswaldoberförsterei telefoniert und um weiteren Urlaub gebeten. Für einen Moment dachte er darüber nach, was geschah, wenn die Pflanze sich in Deutschland ausbreitete und sein Zuhause in der Schorfheide erreichte. Seinen Wald. War die Pflanze in Deutschland bereits angekommen? Er hatte das Internet nach Meldungen dazu durchforstet, aber nichts gefunden. Vielleicht wurde es dort auch noch geheim gehalten. Er hatte sich vorgenommen, wenn die Zeitverschiebung es erlaubte, in Deutschland ein paar Freunde anzurufen, die es wissen mussten.

Sein Agent hatte zudem dafür gesorgt, dass ein Fahrer seines chinesischen Verlages sie am Flughafen abholte, und so hatten sie sich durch den Verkehr gequält und waren irgendwann am Jin Mao Tower angekommen. In den unteren fünfzig Stockwerken beherbergte er verschiedene Unternehmen, darunter auch seinen Verlag Yulin Publishing House. In den achtunddreißig Stockwerken darüber befand sich das Grand Hyatt, in dem sein Agent ihnen zwei Zimmer gebucht hatte. Nachdem sie eingecheckt hatten, hatte der Besuch beim Verlag auf dem Programm gestanden, der ihnen als Vorwand für die gesamte Reise diente und daher absolviert werden musste.

Man hatte ihm die chinesische Ausgabe seines Buches präsentiert, was für ihn unter anderen Umständen ein feierlicher Moment gewesen wäre. Er war verdammt stolz darauf, dass sein Buch mittlerweile in so vielen Ländern verlegt wurde. Dies bedeutete, dass er Menschen auf der ganzen Welt mit seinen Ideen begeistern konnte. Vor allem aber bedeutete es, dass er den Pflanzen mit seinen Büchern ein internationales Forum verschaffte. Er hatte einige Bücher signiert und verschiedenen Mitarbeitern des Verlages die Hände geschüttelt, bevor Meyers und er sich wieder auf den Weg machten. Nun saßen sie schwitzend in einem der Qiangsheng-Taxis auf dem Weg nach Hangzhou. Da die Fahrer der über 50 000 Taxis in Schanghai in der Regel kein Englisch sprachen, hatten sie sich vom Concierge die Adresse des Postamtes im Schanghaier Vorort in chinesischen Schriftzeichen aufschreiben lassen. Die Fahrt dauerte ganze zwei Stunden, und es war ein Wunder, dass sie sie überlebten, offenbar gab es in China keine Verkehrsregeln. Die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren, hatte gegen das schwülwarme Klima aber keine Chance. Die ersten Kilometer durchfuhren sie Downtown, wo sich Gigantismus und Flair abwechselten, die europäischen Einflüsse waren in der ehemaligen Koloniestadt auch heute nicht zu übersehen. Immer wieder ertappte Holland sich dabei, dass er vergaß, in China zu sein. Dieser Eindruck änderte sich, als sie die Stadt verließen und sich den Vororten näherten, wo Reihen großer Mietskasernen dominierten.

Meyers nahm ihr Smartphone und hielt es ihm entgegen. »Jetzt geht es los«, sagte sie und zeigte ihm eine Website von Yahoo. »Killerpflanze bedroht Amerika« stand auf der Titelseite, und darunter war ein Foto der Pflanze zu sehen, wie Holland sie in Cottonwood kennengelernt hatte. Meyers wischte zur Seite, und es erschien die Titelseite von CNN : »Neophyt bedroht die heimische Natur«. Auch dort waren die Pflanzen zu sehen, daneben ein Feuer, welches eine Luftaufnahme aus Cottonwood zu sein schien. Meyers wischte weiter, und er sah die Titelseite der New York Times . Auch hier eine reißerische Schlagzeile. Er griff nach seinem Smartphone und öffnete einige deutsche Nachrichtenseiten. Auf der dritten fand er einen ähnlichen Bericht. »Killerpflanze auch in Deutschland?« Er überflog den Artikel, der über das Auftauchen der Pflanzen in den USA , in Österreich und anderen Ländern berichtete, aber die Lage in Deutschland noch als unklar bezeichnete. »Nach Auskunft des Umweltministeriums in Berlin gibt es erste Verdachtsfälle.« Auf internationalen Websites fand er mehr. Kommentare von Experten, Liveberichte aus Cottonwood. Er schloss den Browser und steckte das Handy zurück in seine Tasche. »Der Geist ist aus der Flasche«, sagte Meyers. »Nun werden die Medien uns alle überrennen.«

Meyers’ Telefon vermeldete mit einem lauten Ping den Eingang einer Nachricht. »Sie haben recht«, sagte sie. »Es ist ein Pyrophyt. Nach dem Abbrennen finden sich überall in Cottonwood Sprösslinge in der Asche.« Diese Mitteilung überraschte ihn nicht. Dasselbe hatte er bereits im Brandgürtel gesehen. »Aber es kommt noch schlimmer«, fuhr Meyers fort. »Edgar schreibt, neue Laborergebnisse weisen darauf hin, dass die Pflanze resistent gegen die meisten herkömmlichen Herbizide ist.«

»Erstaunlich«, entgegnete Holland.

»Erstaunlich ist ja wohl bodenlos untertrieben! Feuer verschlimmert das Problem, Herbizide wirken nicht. Wie sollen wir die Pflanze jemals wieder loswerden?«

Eine berechtigte Frage, dachte er. Zunächst mussten sie erst einmal verstehen, woher die Pflanze so plötzlich kam, deshalb waren sie hier. Stammten die Samen von hier, musste es irgendwo hier eine riesige Plantage geben. Und Leute, die sie pflegten.

Der Taxifahrer bremste plötzlich scharf und deutete nach rechts: Sie hielten vor einem gelben Backsteingebäude, an dessen Front ein großes grünes Schild prangte, auf dem unter gelben chinesischen Schriftzeichen die Wörter »China Post« und »Postal Savings« geschrieben standen. Holland bezahlte, und sie stiegen aus. Die Luft war warm und feucht, und es roch nach den typischen Abgasen von Zweitaktmotoren. Sie gingen auf die Tür zu und entdeckten erst jetzt das blau-weiße Plastikband, das den Eingang versperrte. Weiße Papiere mit großen chinesischen Schriftzeichen waren auf der Tür aufgeklebt und über dem Türspalt zwei längliche Siegel angebracht. Meyers ignorierte dies alles, griff über das Band und ruckelte an der Tür, die verschlossen war.

»Abgeriegelt«, sprach Holland das Offensichtliche aus.

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Meyers und schaute sich hilflos um. »Scheint, als wären wir umsonst hierhergekommen.«

»Vielleicht auch nicht!« Holland deutete auf eine ältere Frau, die keine zehn Meter von ihnen entfernt mit einem Rollator langsam über den Bürgersteig lief. Im Korb der Gehhilfe lag ein großes Paket. Mit langsamen Schritten folgten sie der Frau, die hinter dem Postamt nach links abbog und schließlich vor einem Kellerabgang stehen blieb. Dort stellte sie ihren Rollator ab und begann mühselig, das Paket herauszunehmen. Holland eilte ihr zu Hilfe. Als die ältere Dame den Europäer sah, huschte einen Moment lang Verwunderung über ihr Gesicht, dann überwog die Dankbarkeit. Sie zeigte auf die Treppen, die hinunter zu einer offen stehenden Eisentür führten, und Meyers und Holland halfen ihr hinab. Unten angekommen, betraten sie einen Kellerraum, der vom fahlen Licht der Neonlampen beleuchtet war. Hinter einem Tresen aus gestapelten Kisten stand eine junge Frau, in ihrem Rücken türmten sich Pakete. Ein provisorisches Postamt. Sie warteten, bis die Frau ihr Paket abgegeben hatte, dann traten sie an den Schalter. Meyers deutete auf die alte Chinesin, die sich am Treppenaufgang, an dem ein Geländer fehlte, mit der ersten Stufe mühte. Holland eilte erneut zu Hilfe und begleitete sie die Treppe hinauf, während er hörte, wie Meyers versuchte, die Angestellte auf Englisch anzusprechen. Er hatte die alte Dame nach scheinbar endlosen Minuten der Dankesbezeigungen auf den Weg gebracht und wollte gerade wieder hinuntergehen, als Meyers ihm bereits entgegenkam. »Komm, gehen wir«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter, um ihn fortzuziehen. »Sie hatte Bedenken, mit uns zu sprechen, weil wir Ausländer sind. Ich konnte sie überzeugen. Aber nicht jetzt und nicht hier, in einer Stunde hat sie Pause«, konterte sie seinen verdutzten Blick. »Sie sagt, ihr Kollege sei unschuldig, und sie könne das beweisen.«