Waverly
Am Morgen war sie mit dem Zug vom Berliner Hauptbahnhof in Richtung Weimar gestartet. In Weimar befand sich Goethes Nachlass, bei dem sie auch das Kästchen mit den Bernsteinen vermutete.
Ihre Schicht in der Bar hatte sie wegen einer angeblichen Migräneattacke früher beendet und in der Nacht kaum ein Auge zubekommen. Am Bahnsteig hatte sie bis zuletzt gewartet, bis sie in den ICE in Richtung München gestiegen war. Ebenso war sie beim Umsteigen in Erfurt vorgegangen. Insgesamt dauerte die Fahrt mit der Bahn knappe drei Stunden. Genügend Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren.
Nach dem Gespräch im Café mit Wagner fühlte sie sich verfolgt. Sie hatte ihn entgegen seiner Bitte nicht in ihre neuesten Entdeckungen eingeweiht. Dabei war die von ihr in Moskau herausgefundene Tatsache, dass Goethe Mitglied der Illuminati war, eine wissenschaftliche Sensation. Allein diese Entdeckung würde ihr eventuell ein neues Stipendium bescheren. Aber sie wollte mehr. Die Illuminaten interessierten sie nicht. Sie wollte die Urpflanze finden. Ihr Schwerpunkt waren die Archäologie und die Botanik. Und für sie gab es keine großartigere Vorstellung, als eine urzeitliche Pflanze wiederzuentdecken. Die Erde hatte mehrere Aussterbeereignisse erlebt, wodurch frühzeitliche Pflanzen und Tiere für immer verloren gegangen waren – und mit ihnen deren schöpferische Geheimnisse und deren Potenzial für die Menschheit. Der wilde Reis, von dem unser heutiges Grundnahrungsmittel abstammt, war vom Aussterben bedroht – was, wenn wir diese Pflanze niemals für uns entdeckt und kultiviert hätten? Wer weiß, was die Urpflanze für Überraschungen bereithalten würde? Vielleicht enthielt sie wichtige heilmedizinische Stoffe, essbare Früchte oder Pflanzenteile? Nährstoffe, die wir heute gar nicht mehr kannten. Von der genetischen Bedeutung einer Hunderte Millionen Jahre alten Pflanze für das Verständnis der heutigen Flora gar nicht zu sprechen.
Sie war etwas früh, und so hatte sie auf dem Weg vom Bahnhof zum Goethe-Haus in einem urigen Frühstückslokal noch einen Cappuccino getrunken. Um Punkt zehn Uhr traf sie im Goethe-Nationalmuseum ein und wurde direkt zum Leiter des Stabsreferats Forschung vorgelassen. Sie hatte den Termin per E-Mail vereinbart, um im Vorwege unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen. Ihr Ansprechpartner war ein freundlicher älterer Herr mit langen schlohweißen Haaren, die zum Zopf gebunden waren. Auf seiner Nase thronte eine schmale eckige Brille. Sie hatte im Internet recherchiert, dass er Professor an der Universität in Leipzig im Fachbereich Literaturgeschichte war.
»Wir haben häufig Besuch von wissenschaftlichen Kollegen, aber ich denke, zum ersten Mal von einer Archäobotanikerin.« Sie saßen in einem modern eingerichteten Büro im Verwaltungstrakt des Museums. »Es geht mir um die Urpflanze«, kam sie ohne Umschweife zum Grund ihres Gespräches. Sie hatte sich entschieden, mit offenen Karten zu spielen, zumindest zum Teil.
»Die Urpflanze?« Über das Gesicht ihres Gegenübers huschte ein erfreutes Lächeln. »Ob ich nicht unter dieser Schaar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muss es denn doch geben!«
»Goethe, aus dem Tagebuch über die Italienische Reise 1786 «, gab sie zurück. Sie hätte es nicht auswendig aufsagen können, aber sie verfügte über so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis, und diese Zeilen hatte sie in den letzten Tagen bereits mehrmals gelesen. Goethe war nach Italien gereist, um dort nach der Urpflanze zu suchen. In seinen Reisetagebüchern und Briefen in die Heimat hatte er immer wieder von seiner Suche nach der Urpflanze geschrieben. Und nach ihren Informationen diese, oder zumindest ihre Samen, versteckt in jahrhundertealtem Bernstein in Sizilien auch gefunden. So zumindest das Ergebnis ihrer bisherigen Recherchen, die sie mithilfe von Ava, SCANDBOX und dem Bernsteinexperten aus Italien angestellt hatte. Aber dies alles behielt sie noch für sich.
»Sehr gut!«, lobte der Professor. »Sie wissen auch, dass Goethe seine Suche nach der Urpflanze später bereute? In seinem Brief an Nees von Esenbeck im Jahre 1815 schrieb er von seinen seltsamen vegetativen Umwandlungen bei der Suche nach der Urpflanze. Das zeichnete Goethe aus: Wenn er sich irrte, gab er es meistens auch zu.«
Auch das wusste sie bereits.
»Die Urpflanze war nur ein Konzept, ein theoretisches Modell, das er suchte. Aber es gab diese Pflanze nicht wirklich. Ich hoffe daher, Sie suchen keine echte Pflanze?«
All dies wusste Waverly natürlich. Zumindest ordnete die Wissenschaft es mittlerweile so ein: Goethes Urpflanze als Hirngespinst. Aber die Wissenschaft wusste eben nicht alles über den deutschen Dichterfürsten, oder zumindest nicht so viel wie sie.
»War Goethe eigentlich Illuminat?« fragte sie.
Sie erntete schallendes Gelächter.
»Wie kommen Sie denn darauf? Goethe war zwar Geheimer Legationsrat im Staatsdienst, aber sicher kein Geheimniskrämer. Er muss die Illuminaten für eine Gruppe von Spinnern gehalten haben.«
Waverly musste innerlich schmunzeln. Der Professor lag das zweite Mal daneben. Nun nahm er die Brille ab und legte die Stirn in tiefe Falten. »Sind Sie deshalb hier, weil Sie glauben, Goethe sei Illuminat gewesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir geht es um etwas aus seinem Nachlass, was laut Inventarliste hier bei Ihnen verwahrt wird. Die Bernsteine, von denen ich schrieb.«
»Und was sollen die mit der Urpflanze zu tun haben?« Immer noch wirkte ihr Gesprächspartner skeptisch.
»Ich hoffe auf archäologisch wertvolle Inklusen. Einschlüsse!«
Endlich hellte sich die Miene des Museumsforschers auf.
»Jetzt verstehe ich! Und ich hatte schon befürchtet, Sie meinen es ernst mit der Urpflanze. Die werden Sie in den Bernsteinen hier wohl kaum finden. Ich weiß, dass Goethe einen seiner Bernsteine nach China gesandt hat. Lassen Sie uns schauen.« Er setzte sich die Brille wieder auf, zog die Tastatur seines Computers heran, bediente ihn mit der Maus, gab mit erstaunlicher Geschwindigkeit etwas ein und betrachtete den Monitor über seine Brille. »Raum 7 , Schublade 4 A im Arbeitszimmer«, sagte er schließlich.
Waverly war beeindruckt. Sie spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Die Bernsteine waren also tatsächlich hier, SCANDBOX hatte recht gehabt.
»Mir sind die Steine gar nicht als etwas Besonderes erinnerlich. Wie kommen Sie gerade auf diese?«
Im Laufe des Gesprächs hatte Waverly ihren Entschluss, ehrlich zu sein, revidiert. »Ich bin in Briefen auf sie gestoßen. Nach meinen Informationen stammen sie aus den Dolomiten, könnten zweihundert Millionen Jahre alt sein. Ich möchte schauen, was sie beinhalten. Solche Steine sind selten. Sie sagten, Goethe übersandte auch einen nach China?«
Er erhob sich mit einem sibyllinischen Lächeln, ging zu einem Aktenschrank im hinteren Teil des Büros und kam mit einigen Papieren zurück.
»Vielleicht haben Sie schon einmal von Goethes Spätwerk West-östlicher Divan gehört, seinem Gedichtband Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten oder seinem Gedicht Der Chinese in Rom? Seit er 1783 Pierre Sonnerats Reise nach Ostindien und China gelesen hatte, war er fasziniert von China. Und der chinesischen Botanik.«
»Der chinesischen Botanik?« Dieser Satz weckte ihr Interesse.
»Aus diesem Briefwechsel hier geht hervor, dass Goethe im engen Austausch mit einem Missionar in Schanghai stand. Dieser besorgte ihm in einem buddhistischen Kloster auf seinen Wunsch hin Samen eines Ginkgo-Baumes. Sie können den Baum heute noch besichtigen, er steht hier in Weimar hinter der Hochschule für Musik, im Osten von Goethes Garten.«
»Und die Bernsteine?«
»Er bezahlte den Ginkgo mit einem Bernstein. Der Missionar vermittelte einen Briefwechsel zwischen Goethe und den Mönchen, übersetzte Goethes Briefe ins Chinesische und die Mitteilungen der Mönche ins Deutsche. Die Briefe liegen heute leider nur noch in chinesischer Schrift vor. Ich habe sie vor einiger Zeit vom Goethe-Institut in Schanghai zugesandt bekommen und noch nicht inventarisieren können.«
Er gab ihr die Blätter, die zum Schutz in Folie eingeschweißt waren. Chinesische Schriftzeichen zogen sich in senkrechter Anordnung über das Papier. Während die einen kunstvoll auf goldmeliertem Papier aufgebracht waren, wirkten die Zeichen auf dem anderen, einfachen Papier eher etwas ungelenk.
»Kann ich davon eine Kopie haben?«
»Sehr gern! Aber lassen Sie uns erst einmal nach den Bernsteinen in unserer Sammlung schauen.« Der Professor erhob sich. »Es wäre nicht das erste Mal, dass wir in der Sammlung des Alten Kurioses entdecken.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Die Ausstellung ist jetzt allerdings für den Publikumsverkehr geöffnet, und wir haben heute Schülertag, eine ganze Reihe von Schulklassen ist hier. Würde es Sie stören, kurz vor Museumsschluss, so gegen 17 :30 Uhr, noch einmal wiederzukommen?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie fühlte, wie die Erregung in ihr zusammenfiel. Aber sie hatte wohl keine Wahl, und die Steine würden nicht davonlaufen.
»17 :30 Uhr ist prima«, sagte sie und erhob sich ebenfalls.
»Melden Sie sich bitte am Eingang, ich komme dann zu Ihnen!«
Sie bedankte sich, und kurz darauf stand sie vor dem Museum und atmete tief die kühle Herbstluft ein. Auf der anderen Straßenseite stand jemand in einem schwarzen Mantel. Sie erkannte ihn sofort: Es war der Mann aus dem Archiv – Wagner.