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Ava

Im Wald, Kanada, August 2023

Gerätehaus Nummer drei. Das Techniklager. Nach einigen Einbrüchen hatten sie sich bei der Auswahl der Fenster für Panzerglas aus Polycarbonat entschieden. Mit Durchbruchhemmung. Ava hatte die Rechnung gesehen, und sie war auch dabei gewesen, als Zach versucht hatte, es mit einer Axt einzuschlagen, und die zurückprallende Axt ihm beinahe den Schädel gespalten hätte. Der Schaft der Armbrust prallte auf das Glas, und auch jetzt riss der Rückstoß den Mann vor dem Fenster beinahe von den Beinen. Die Scheibe hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Das Schauspiel wiederholte sich mehrmals, das Gesicht des Söldners verzerrte sich vor Wut. Schließlich trat er mit seinem schweren Stiefel gegen die Scheibe, versuchte es auf der anderen Seite und zog sich dann schwer atmend zurück auf einen Fels, der keine zehn Meter vor der Hütte auf der Lichtung lag. Sie sah, wie er in ein Funkgerät sprach. Vermutlich würde er Hilfe holen. Der Wald war riesig, und es mochte einige Zeit dauern, bis die Verstärkung kam. Aber wie lange es auch dauern würde, sie saß in der Falle. Sie würden schon einen Weg finden, wie sie hier hineinkamen, oder vielleicht zündeten sie die Hütte auch einfach an und schauten gemeinsam mit Silva zu, wie sie darin verbrannte. Sie war sicher, dass Silva diese Hütte überwachte, auch wenn sie es nicht genau wusste, da sie die Kameras nicht installiert hatten.

Sie fand den Lichtschalter neben der Tür. Die Lampe an der Decke benötigte mehrere Anläufe, bis sie flackernd ansprang und die Hütte in grellem Neonlicht ausleuchtete. Sie griff an ihre Schulter und betrachtete die Wunde. Der Pfeil hatte sie gestreift und auf einer Länge von vielleicht zehn Zentimetern die Haut fingerbreit aufgerissen. Jetzt erst spürte sie den brennenden Schmerz. Sie versuchte, Fetzen ihres T-Shirts aus der Haut zu entfernen, hielt den Schmerz aber nicht aus. Ihr Blick wanderte durch die Hütte. Wie das letzte Mal, als sie hier gewesen war, lagen noch immer Rollen mit Kupferkabeln und noch nicht verlegten Schläuchen auf dem Boden, daneben wetterfeste Rohre, Sprinkler, die auf ihre Montage warteten. Über den Kisten mit Relais stapelten sich originalverpackte Infrarotdetektoren für die Gasanalyse. Daneben reihten sich die Kartons mit Radio- und Dendrometern. Viele dieser Messgeräte hatte sie in den vergangenen Monaten mit Juri, Zach und Alex im Wald installiert, doch sie waren nicht fertig geworden, es gab einfach zu viele Bäume in diesem Wald. Auf einem der Regale fand sie, was sie suchte, eine Rolle mit Panzerklebeband. Sie bahnte sich einen Weg durch das Lager, nahm das Klebeband und biss mit den Zähnen einige Stücke ab, mit denen sie die Wunde an der Schulter zusammenklebte. Danach wickelte sie es sich um das Fußgelenk, immer wieder, bis es sich stabil anfühlte. Als sie fertig war, war ihr speiübel und schwarz vor Augen. Sie ignorierte es, ging zurück und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Der Kerl saß noch immer auf dem Stein und rauchte eine Zigarette, wobei er feindselig zu ihr hinüberstarrte. Die Armbrust lehnte neben ihm. An seinem Gürtel erkannte sie ein Halfter, aus dem eine Waffe herausragte. Offenbar wartete er noch immer auf Verstärkung. Seine Aufgabe war gewesen, sie zu finden, und das hatte er getan. Mehr noch: Er hatte sie in die Enge getrieben. Zwar kam er aktuell nicht hinein, aber sie kam auch nicht hinaus. Ihr Blick fiel auf das Nagel- und Klammergerät, mit dem sie Tausende von Krampen in Stämme geschossen hatte. Kurz stellte sie sich vor, wie sie damit hinauslief und auf den Kerl schoss, verwarf die Idee aber sofort wieder. Mit ihren Verletzungen war sie viel zu langsam, die Nägel viel zu harmlos. Er würde sie erschossen haben, bevor sie auch nur in seine Nähe kam. Sie war nicht bereit, hier zu sterben. Sie trat auf eine der riesigen Elektrodenmatten und blickte auf eine Reihe von Stromspeichern, sogenannte Powerwalls, die auf ihren Einsatz warteten. Jeder kostete zehntausend Dollar, aber Silva hatte genügend Bitcoins, um Tausende davon zu kaufen. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Sie lief zu dem Eisenschrank in der Ecke und öffnete ihn. Sie seufzte laut vor Erleichterung, als sie darin den besonders robusten Laptop für den Außeneinsatz fand. Sie wusste, dass Silva ihre Zugangsdaten zum System gesperrt hatte. Aber Juri hatte, wie bei allen Systemen, einen Hintereingang für sie programmiert. »Cat Door« hatte er es genannt. Einen Zugang, der vor der KI verborgen blieb. Wenn dieser noch funktionierte, würde sie unbemerkt von Silva ins System kommen. Der Computer fuhr hoch, und sie gab das Passwort, welches aus einer fünfzehnstelligen Buchstaben- und Zahlenfolge bestand, ein. Sie war schon immer gut gewesen im Merken von Gedichten, Zahlenreihen und eben Passwörtern. Einen Augenblick hielt sie die Luft an, dann war sie erfolgreich eingeloggt. Sie war nicht nur mit dem System verbunden, sondern auch mit dem Internet. Konnte es sein, dass Silva es nicht bemerkte? Ihr Blick fiel auf die Batterieanzeige des Laptops, sie war rot und blinkte. Daneben stand »3 %«. Der Laptop hatte kaum noch Saft, würde gleich auf Stand-by schalten. Sie suchte nach einem Netzkabel, fand aber keins. Die Batterie blinkte weiter. Sie hatte nicht mehr viel Zeit! Entweder würde Silva sie aus dem System werfen, oder die Batterie des Laptops ging zur Neige. Sie öffnete den Browser und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen. »Liebe Wave«, begann ihre E-Mail. Sie hatte keine Zeit für lange Erklärungen. »Juri, Zach und Alex sind tot.« Sie holte den USB -Stick aus ihrer Tasche und steckte ihn in den Laptop, lud die Dateien herunter, fügte sie der E-Mail an. »Wenn ich nicht überlebe, sorge bitte dafür, dass die anliegenden Dateien in die richtigen Hände kommen.« Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie schaute auf die Batterieanzeige. Gleich war der Akku leer. Sollte sie Wave wirklich hier mit hineinziehen? Sie zögerte eine Sekunde, dann drückte sie auf »Senden«. Wieder ertönte das Geräusch eines zischenden Pfeils, doch dieses Mal war es das E-Mail-Programm. Die E-Mail war versendet. Sie schloss alle Fenster und öffnete das Betriebssystem, das Juri geschrieben hatte. Es öffnete sich eine Karte, auf der ein Waldgebiet aus der Vogelperspektive zu sehen war. Sie suchte nach dem Gerätehaus Nummer drei, und der Bildausschnitt zoomte hinein, bis sie ihre Hütte von oben sah, davor die Lichtung. Ein Blick auf die linke Leiste zeigte ihr das Symbol eines Wassersprinklers. Sie wählte mit dem Cursor einen Ausschnitt und aktivierte ihn. Draußen erhob sich lautes Fluchen. Sie ging zum Fenster und sah, wie der Kerl aufgesprungen war und schimpfend auf den Sprinkler schaute, der jetzt die Lichtung, aber auch die Baumreihen darum herum bewässerte, ihn nass spritzte. Er warf die Zigarette fort und zog seinen Kragen höher. Wasser würde ihn nicht verjagen, das war klar. Jetzt wechselte sie das Menü und öffnete die Karteikarte mit dem Symbol, das einen Blitz zeigte. Wieder zoomte sie in eine Karte, wählte ein Areal des Waldes aus und begann auf eine Reihe von Bäumen zu klicken. Zehn, zwanzig, fünfzig, immer mehr. Ein Warngeräusch ertönte, ein Fenster öffnete sich, welches sie wegklickte. Sie umrahmte weitere Bäume aus der näheren Umgebung, die anschließend rot leuchteten, bis ein Areal von gut tausend Bäumen um die Lichtung herum rot markiert war. Dann zoomte sie zur Hütte, fand den Fels, der tatsächlich auf der Karte verzeichnet war, und markierte großzügig das Areal um ihn herum. Drei mal drei Meter. Sie wählte das Einsatzgebiet nicht zu groß und nicht zu klein. Sie schaute aus dem Fenster, versicherte sich, dass der Mann noch immer neben seiner Armbrust ausharrte, zusammengekauert, verärgert, nass. Dann zog sie mit der Maus einen Regler hoch, von einer Sekunde auf zwei, schließlich auf zehn Sekunden. Sie hatte keine Ahnung, ob die Energie genügte, wusste nicht, ob das System überhaupt schon funktionierte. Der Akku des Laptops hatte nur noch zwei Prozent. Sie wich vom Fenster zurück und klickte auf einen Button, auf dem »Power« stand. Wieder öffnete sich ein Fenster, und sie bestätigte ihr Vorhaben mit »O.K.«. Sie hockte sich in eine Ecke der Hütte und schaute auf das Fenster. Nichts geschah. Sie schaute auf den Laptop, der in dieser Sekunde ausging. Immer noch passierte nichts. Schon spürte sie, wie die Enttäuschung sich in ihr ausbreitete, als es vor dem Fenster einen Blitz und einen lauten Knall gab, dem ein entsetzlicher Schrei folgte, dann hörte sie ein lautes Knistern, schließlich flackerte es wie bei entfernten Blitzen. Sie zählte leise bis zehn, dann war wieder alles ruhig. Sie stieß den Computer von ihrem Schoß und ging vorsichtig zum Fenster. Draußen sah alles aus wie zuvor, nur dass dort, wo gerade noch der Söldner gestanden hatte, nun ein schwarz verkohlter Körper lag, von dem weißer Rauch aufstieg. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Der Geruch von verbrannten Haaren zog in ihre Nase. Sie streckte langsam den Fuß aus und berührte mit ihrer Fußspitze vorsichtig die nasse Erde. Nichts geschah. Sie musste hier so schnell wie möglich fort. Sie drehte sich um, griff die Druckluftnagelpistole und steckte sie in den Hosenbund. Dann lief sie auf die verkohlte Leiche zu, hielt die Luft an, legte sich die Hand vor die Augen, um nicht hinschauen zu müssen, und sah doch zu viel. Sie lief zu der Stelle im Wald, die sie eben auf der Karte im Computer als kürzesten Weg zur Küste identifiziert hatte. Noch war sie nicht besiegt.