Smith blickte mit sorgenvollem Gesicht auf den Wandbildschirm vor ihnen. »Es schreitet schneller voran als gedacht«, sagte er mit ernster Stimme. »Unser Epidemiologe hat die Software mit neuen Daten gefüttert. Wir haben viel weniger Zeit, als wir dachten.«
Neben ihm saß Edgar Mortensen, beide hatten ein Glas Cognac vor sich stehen.
»Haben Sie von den Problemen mit den Kabeln gehört?«, fragte Mortensen.
»Sie meinen die weißen Fäden?«
»Nein, die Telefon- und Stromkabel. Eine Mitteilung vom US Forest Service. Berichten die nicht an Sie?«
Smith schaute auf den Stapel unbearbeiteter Meldungen auf seinem Schreibtisch, der täglich wuchs.
»Die Pflanze hat anscheinend großen Spaß daran, mit ihren Wurzeln die Wurzeln benachbarter Pflanzen zu malträtieren. Sie bildet einen Gewebering, auch Haustorium genannt, der die Wurzeln anderer Pflanzen in einem Umkreis von bis zu hundert Metern umschließt. In dem Gewebering befindet sich eine hydraulisch betriebene Klinge, die die Wurzeln der anderen Pflanzen kappt, damit Assassina incognita deren Saft trinken kann.«
»Eine Klinge?«, fragte Smith ungläubig.
»Sie besteht aus Lignin, ich habe hier Fotos, das sieht aus wie ein geschwollener weißer Ehering. So etwas kennt man wohl schon vom Australischen Weihnachtsbaum. Jedenfalls ist die Pflanze anscheinend dumm, denn sie umschließt auch ihre eigenen Wurzeln, auf den Boden gefallene Äste und leider auch Kabel. In Frankreich wurden bereits Hunderte von Kabeln zerstört. Vor allem Telefonkabel. Die Telefongesellschaften schieben schon Überstunden.«
»Was denkt die Pflanze sich denn noch alles aus?«, sagte Smith und nahm einen weiteren Schluck. »Irgendwelche Neuigkeiten aus China?«, fragte er.
Mortensen schüttelte den Kopf. »Die verschwenden dort ihre Zeit. Der Pflanzenflüsterer hat stundenlang seinen Verlag besucht. Das Postamt, von dem aus die Samen verschickt wurden, ist von den Behörden geschlossen worden, und er hat mit niemandem versucht, Kontakt aufzunehmen. Greta sagt, sie machen quasi Sightseeing. Als ich mit ihr sprach, saßen sie gerade in einer Bar.«
Smith hob die Augenbrauen.
»Ich sage Ihnen, es war ein Fehler, ihn dazuzuholen. Und Sie hätten ihn auf seinen Artikel ansprechen sollen. Wieso er in der Lage war, diese Katastrophe so detailliert vorherzusagen. Ich glaube nicht an Glaskugeln.«
»Wir haben ihn durchleuchtet, waren sogar in seinem Haus in Deutschland. Es spricht nichts dafür, dass er irgendwie involviert ist. Ihre Verlobte meinte, eine Ausbreitung invasiver Pflanzen, so wie es jetzt geschieht, sei gar nicht so unwahrscheinlich.«
»Ich sage Ihnen: Es war ein Fehler.«
Smith nahm einen Schluck vom Cognac. »Haben Sie mal den Fernseher eingeschaltet?«, fragte er.
»Dazu habe ich keine Zeit.«
»Die Medien sind außer Rand und Band! Mittlerweile findet man das Höllenkraut überall. Meist nur vereinzelte Pflanzen, selten haben sie sich so vermehrt wie hier, aber es gibt auch Berichte von Kolonien. In Manchester, New Hampshire, sollen die Pflanzen sich auf einem Hektar ausgebreitet haben, vier Bewohner sind im Krankenhaus, ein Farmer ist an einem Asthmaanfall gestorben. Verätzungen von Kindern einer Schulklasse in Fort Worth. Im Napa Valley hat das Höllenkraut einen Golfplatz besiedelt. Auf Vancouver Island in British Columbia ist eine Highschool geräumt worden, weil die Pflanze sich auf dem Schulgelände ausbreitet. Die Meldungen kommen minütlich. In Europa ist es nicht besser.« Smith schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ein Gegenmittel, irgendeine Idee, wie wir die Pflanzen stoppen können. Holland hat recht gehabt: Das Feuer hat es verschlimmert. Die Kapseln sind aufgesprungen, der Auftrieb der durch das Feuer erhitzten Luft hat die Samen in große Höhen und danach über weite Strecken transportiert. Wie Holland sagte, die Pflanze hat nur darauf gewartet, dass wir sie verbrennen. Und nun kommen Sie mit der Hiobsbotschaft, dass Pflanzenschutzmittel nicht hilft. Wie kann das sein? Was ist das für ein verdammtes Höllenkraut?!«
»Agent Orange funktioniert! Und kein Lebewesen ist unsterblich«, entgegnete Mortensen. »Gott sei Dank sind die Pflanzen noch nicht intelligenter als wir Menschen. Ich möchte nicht zu große Hoffnungen wecken, aber das, was ich von meinen Mitarbeitern aus Baltimore höre, klingt Erfolg versprechend. Das Heilmittel heißt ›Gene Drive‹.«
»Gene Drive?«
»Genetik. Wenn wir die Pflanze nicht von außen bekämpfen können, tun wir es von innen. Wir gehen in ihre DNA und verändern ihre Erbsequenz. Vereinfacht gesagt, schneiden wir einzelne Gene einfach heraus, wir nehmen ihr so die Möglichkeit, sich zu vermehren.«
»Und das funktioniert?«
»Bei invasiven Tieren wird es schon angewandt. Bei Pflanzen war die Wissenschaft noch nicht so weit. Aber mein Team und ich sind kurz vor dem Durchbruch.«
»Wie kurz?«
Mortensen deutete zwischen Daumen und Zeigefinger einen Abstand in der Größe einer Eincentmünze an.
»Irgendwelche Nachteile?«
Mortensen zuckte mit den Schultern. »Gesetzlich ist der Einsatz von genetisch veränderten Pflanzen nicht ganz einfach.«
»Gesetze kann man im Angesicht einer großen Gefahr rasch ändern. Man denke an Covid zurück. Unsere Behörde hat eine kurze Leitung zum Weißen Haus.«
»Und anders als bei invasiven Tieren wirkt der Gene Drive bei Pflanzen nicht sofort. Es kann länger dauern, bis die genetisch veränderte Population sich durchsetzt. Vielleicht sogar Jahre. Es scheinen bereits eine Menge Samen von Assassina incognita in der Atmosphäre, in der Erde zu sein. Die bekommen wir mit unserem Genetik-Werkzeugkoffer natürlich nicht weg. Einige davon werden auskeimen. Aber anscheinend bewirkt Glyphosat zumindest bei den Samen etwas. Wenn wir das breitflächig ausbringen und damit die natürlichen Samen von Assassina incognita vernichten, könnten die genetisch veränderten Pflanzen sich schneller durchsetzen.«
»Ist Glyphosat nicht auch problematisch?«, wollte Smith wissen.
»Alles auf der Welt ist problematisch. Hat man zwei Probleme, muss man sie gegeneinander abwägen und sich entscheiden, welches man lösen möchte.«
»Dann beeilen Sie sich mit Ihrem Gene Drive.«
»Ich werde nach Baltimore reisen müssen, sofort«, entgegnete Mortensen und trank den Cognac aus.
»Meinetwegen. Hier brechen wir die Zelte ohnehin ab. Ich fliege heute Abend zurück nach Washington.«
Beide erhoben sich und gaben sich die Hand.
»Vielleicht haben wir sehr bald etwas Bahnbrechendes zu verkünden«, sagte Mortensen mit einem Lächeln.
Smith’ Miene hellte sich auf. »Wenn Ihnen das gelingt, Mortensen, ist Ihnen der nächste Nobelpreis sicher!«