Holland
Holland saß in einem weiß getünchten Raum. Kein Spiegel, aber zwei moderne Kameras, in jeder Ecke eine. Vor ihm stand ein weißer Tisch, der wirkte, als sei er neu. Man hatte ihn vom Ort des Unfalls mit einem Mannschaftswagen der Polizei fortgebracht, in dessen Fond er eingepfercht zwischen acht Polizisten gesessen hatte. Greta hatte versucht, mitzukommen, war aber zurückgedrängt worden. Sie waren zurück nach Schanghai gefahren und hatten vor einem riesigen Gebäudekomplex gehalten, der sich als Zentrale der hiesigen Polizei entpuppte. Dort hatte man ihn in diesen Raum gebracht und seinen Reisepass inspiziert. Darüber waren vier der Polizisten in eine Art Diskussion verfallen und schließlich mitsamt seinem Pass verschwunden. Offenbar sprach niemand von ihnen genug Englisch, um sich mit ihm verständigen zu können.
Vor ihm auf dem Tisch lag säuberlich aufgereiht der Inhalt seiner Taschen. Erfreulicherweise trug er keine Handschellen, aber er wartete nun bereits seit gut zwei Stunden, ohne dass etwas geschah und ohne dass man ihn hatte auf die Toilette gehen lassen. Er wusste nicht genau, warum er hier war: weil er zur Verfolgung des jungen Mannes das Fahrrad gestohlen hatte – er würde von Leihen sprechen – oder weil der von ihm Verfolgte vor den SUV geraten war. Der Schock saß ihm noch in den Knochen. Einen so schrecklichen Unfall hatte er noch nie zuvor so hautnah erlebt. Er wusste nicht, ob der Mann den Unfall überlebt hatte, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Von dem Todesdrama einmal abgesehen, schien es so, als sei damit auch ihre letzte Spur zu den versandten Todessamen gestorben. Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat ein. Anders als die anderen Polizisten trug er zivile Kleidung. Jeans und Sakko mit hochgekrempelten Ärmeln. In der einen Hand hielt er eine Tüte, in der anderen einen Kaffeebecher, in den er etwas hineinspuckte, bevor er ihn begrüßte. Unter seinem Arm klemmte eine Akte. Er schloss die Tür mit dem Fuß, legte die Sachen auf dem Tisch ab, ging erst zu der einen Kamera, reckte sich und schaltete sie aus. Dann wiederholte er es bei der anderen Kamera und setzte sich schließlich auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. Holland wusste nicht, ob das Ausschalten der Kameras ihn beruhigen oder beunruhigen sollte.
»Mein Name ist Zheng Long«, stellte er sich in bestem Englisch vor. Sein Gegenüber nahm einen Kern aus der Tüte, steckte ihn sich zwischen die Lippen, zerbiss ihn gekonnt mit den Schneidezähnen und spuckte die Hülle in den Becher.
Holland entschied sich, erst einmal abzuwarten.
Der Polizist beugte sich vor, nahm einen Stift und notierte etwas in der Akte. »Wussten Sie schon, dass bei uns nicht mehr allein Staatsanwälte entscheiden, wer angeklagt wird, sondern Computer?« Wieder ertönte das laute Knacken berstender Samenschale. »System 206 heißt die Software, die wir gerade testen. Sie entscheidet ohne menschliche Beteiligung über eine Anklageerhebung. Die Trefferquote des Computers liegt bei 97 Prozent. Das heißt, dass nur 3 Prozent Unschuldige angeklagt werden. Das ist gut!« Wieder nahm sein Gegenüber einen der Kerne, Holland tippte auf Sonnenblumen, zerteilte ihn mit einem lauten Knacken und spuckte ihn aus. Holland glaubte, an den Vorderzähnen des Mannes eine kleine Kerbe zu erkennen, die verriet, dass er dies regelmäßig tat.
Der Polizist beugte sich vor und schaute in die Akte, in der Holland einen Folienumschlag mit seinem Reisepass entdeckte.
»In Ihrem Fall empfiehlt die Software eine Anklage wegen Fahrraddiebstahls. In Bezug auf Totschlag zweiten Grades, was in etwa dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung entspricht, rät 206 zur Einholung weiterer Informationen. Wissen Sie, wie eine KI funktioniert?« Er schaute ihn an, während er sich mit der Zunge über die Zähne fuhr.
»Grob«, entgegnete Holland. Seine Welt war im Freien, in der Natur. Computer empfand er als notwendiges Übel. Aber ihn beschäftigte, dass sein Gesprächspartner von Totschlag gesprochen hatte. Dies bedeutete wohl, dass der junge Mann gestorben war.
»Die meisten Leute haben keine Ahnung davon. Sie stellen sich eine KI wie einen als Roboter verkleideten Menschen vor oder glauben, künstliche Intelligenz sei vergleichbar mit der unseren. Tatsächlich ist ein Algorithmus nur ein Wiederkäuer. Wie eine Kuh. Er kann nur das verarbeiten, womit er vorher gefüttert wurde. Wie effektiv eine künstliche Intelligenz ist, hängt davon ab, wie gut die Daten sind, die ihr zur Verfügung stehen. Ich habe von einem mit wissenschaftlichen Daten gespeisten Algorithmus gehört, der ein Kuchenrezept erfinden sollte und dafür Limonade, Chilis und Pilze empfahl, aber Butter und Backpulver vergaß. Weil er zwar in seiner Datenbank Millionen von komplizierten Daten speicherte, aber kein einziges Backrezept. Wir haben also 206 mit Daten von Millionen von Kriminalfällen gespeist, und daraus berechnet er im konkreten Fall die Wahrscheinlichkeit, ob ein Vergehen vorliegt, das zu einer Verurteilung führt.« Er machte eine Pause und steckte sich einen weiteren Kern zwischen die Lippen, dessen Reste kurz darauf in der Kaffeetasse landeten. Der Polizist musste Hollands Blick bemerkt haben. »Wollen Sie auch?« Er hielt ihm die Tüte entgegen, doch Holland lehnte dankend ab.
»Am Ende des Tages hängt die Frage, ob Sie angeklagt und womöglich verurteilt werden, also davon ab, was ich zu dem Fall in den Computer tippe«, fuhr der Polizist fort. »Sie verstehen?«
Holland war sich nicht ganz sicher, ob er tatsächlich verstand. Ob sein Gegenüber ihm nun helfen wollte oder ihm gerade drohte.
»Wir müssen nun gemeinsam entscheiden, was wir in den Computer eintragen, und dafür wäre es wichtig, dass Sie mir die Wahrheit erzählen. Verstanden?« Diesmal knackte er keinen der Kerne.
»Sie haben von der invasiven Killerpflanze gehört?«, fragte Holland. Jetzt benutzte er selbst schon diesen populistischen Begriff.
»Killerpflanze?«
»Ein Gewächs, das sich derzeit auf der ganzen Welt verbreitet.«
»Was haben Sie damit zu tun?«, entgegnete Long.
Holland dachte an den geschönten Artikel in dem chinesischen Newsblatt, den die Angestellte aus dem Postamt ihnen übersetzt hatte. »Diese Pflanze sorgt überall auf der Welt für Chaos, und es sterben sogar Menschen, die mit ihr in Kontakt geraten, zum Beispiel weil sie allergisch gegen die Pollen der Pflanze reagieren.«
Der Polizist presste die Lippen aufeinander. »Und was hat das mit dem … Unfall zu tun, weshalb wir Sie zu diesem Gespräch hier eingeladen haben?«
Eingeladen war gut, dachte Holland. Sie hatten ihn verhaftet.
»Ich bin Botaniker. Meine Kollegin Greta Meyers und ich sind nach China gekommen, um nach dem Ursprung der Pflanze zu suchen. Die Samen wurden nach unseren Informationen alle von einem Postamt in Hangzhou versandt. Wir haben das Postamt besucht und dort erfahren, dass sämtliche verdächtigen Päckchen von einem jungen Mann aufgegeben wurden, der offenbar im Botanischen Garten in Hangzhou arbeitet. Also sind wir dorthin gefahren, um mit dem Mann zu reden. Aber als er uns entdeckte, lief er weg. Ich habe die Verfolgung aufgenommen und mir dabei ein Fahrrad ausgeliehen.« Das letzte Wort betonte er. »Der junge Mann geriet auf der Flucht leider unter ein Auto. Ist er tot?«
Der Polizist starrte ihn an, ohne zu antworten, griff in die Tüte und aß einen weiteren Kern.
»Das ist alles. Ich habe nichts getan, außer mir das Fahrrad auszuleihen. Das mit dem jungen Mann tut mir unendlich leid. Tragisch ist aber auch, dass er offenbar die einzige Spur zur Herkunft der Samen ist.«
Sein Gegenüber verschränkte die Arme und schien einen Moment nachzudenken. »Und wer schickt Sie?«, fragte er schließlich.
»Niemand. Wir sind Wissenschaftler und aus fachlichen Gründen hier. Eine Pflanze wie diese ist zuvor noch niemals beschrieben worden. Und wir haben keine vier Wochen mehr Zeit, sie zu stoppen. Das ist die Wahrheit.«
»Und wer hat Ihnen erzählt, dass der junge Mann die Samen im Postamt eingeliefert hat?« Der Polizist hielt den Stift wieder schreibbereit.
Holland zögerte. Sein Bauchgefühl meldete sich.
»Denken Sie daran, Mister Holland: die Wahrheit!«
»Eine ältere Frau, die dort ein Päckchen abgegeben hat, erzählte mir von einem jungen Mann, der jeden Tag Pakete abgeben würde. Ich hatte ihr die Treppe zum Postamt hinauf- und hinabgeholfen, und wir kamen ins Gespräch.«
Der Polizist kniff die Augen zusammen. »Und woher wusste die Dame, dass er im Botanischen Garten arbeitet?«
»Das Lastenrad, das er benutzt hat, trug eine Aufschrift vom Botanischen Garten«, log er, ohne zu zögern.
Sein Gesprächspartner hob die Augenbrauen. »Dann hatten Sie großes Glück, die ältere Frau dort zu treffen.«
»Und großes Pech, weil der junge Mann vor uns weggelaufen und unter das Auto geraten ist.«
Sein Gegenüber lächelte. Er beugte sich vor und starrte auf die Akte.
»Ich denke, wenn ich die Geschichte, wie von Ihnen geschildert, in den Computer eingebe, wird das Programm Ihre Freilassung und Abschiebung empfehlen.«
»Abschiebung?«
»Es ist besser für uns und besser für Sie, wenn Sie das Land rasch verlassen.«
»Und was ist mit den Samen und dem jungen Mann?«
»Ich danke Ihnen für Ihre Hinweise. Ich werde dem persönlich nachgehen.«
»Die Polizei hat bereits einen Mitarbeiter aus dem Postamt verhaftet?«
»Woher wissen Sie das?«
»Die alte Frau …«, log er erneut.
»Die alte Frau«, wiederholte der Polizist und notierte erneut etwas.
»Was ist mit dem verhafteten Mitarbeiter aus dem Postamt?«, hakte Holland nach.
Sein Gesprächspartner zögerte kurz, dann gab er sich einen Ruck. »Er hatte eine der ›Killerpflanzen‹, wie Sie sie nennen, bei sich zu Hause.«
»Eine einzige?«
»Er sagt, er habe eines der Päckchen geöffnet und einen der Samen gestohlen.«
»Und der gestorbene junge Mann – kennen Sie seinen Namen?«
»Er war ein Informatikstudent, der in dem Botanischen Garten jobbte. Schwer zu glauben, dass er etwas mit den Samen zu tun hatte.«
»Was ist mit dem SUV , der ihn überfahren hat?«
»Wir suchen noch nach ihm. Es gibt eine Menge Autos in China. Vielleicht hat er den Unfall gar nicht bemerkt.«
»Das kann nicht sein!«, warf Holland ein. »Es war ein schwarzer SUV , die Marke konnte ich nicht erkennen.«
»Zurück zur Killerpflanze«, setzte der Polizist an. »Gibt es ein Gegenmittel?« Plötzlich klang der Ton seiner Frage anders. Weniger bestimmend, eher verbindlich.
In diesem Moment klopfte es, und die Tür öffnete sich. Greta trat in Begleitung eines Polizisten und eines weiteren Mannes ein.
Holland spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er hatte keine Zeit gehabt, sich mit ihr abzustimmen. Sollte sie von der jungen Angestellten im Postamt erzählt haben, wäre er der Lüge überführt. Als sie ihn sah, kam sie zu ihm und umarmte ihn kurz. Sie roch gut nach einem leichten Parfüm.
»Kommen Sie«, sagte Greta zu ihm gewandt. »Ich habe mit der deutschen Botschaft gesprochen.« Der Mann, der sie begleitete, überreichte dem Polizisten ein Dokument, das dieser aufmerksam durchlas und dann zurückgab.
»Sie können gehen, Mr Holland«, sagte er mit einem undurchsichtigen Lächeln. Er erhob sich und reichte ihm seinen Reisepass aus der Akte. »Denken Sie daran, dass Sie China in weniger als 48 Stunden verlassen müssen. Ohne Visum können Sie sich als Transittourist hier maximal 72 Stunden aufhalten, bevor Sie weiterfliegen. Hören Sie auf meinen Rat und sehen Sie zu, dass Sie weiterkommen. Und denken Sie besser nach, bevor Sie sich wieder etwas leihen.« Er nahm die Tüte vom Tisch und steckte sich einen neuen Kern in den Mund. Holland raffte seine Sachen vom Tisch zusammen, verabschiedete sich und folgte Greta und dem Mann nach draußen in den Gang.
»Der arme Junge«, sagte Holland, als sie vor der Tür standen. »Er ist gestorben.« Mittlerweile war es tiefe Nacht.
»Es war schrecklich«, entgegnete Greta und strich ihm über die Schulter. »Wie geht es dir?«
»Alles gut«, seufzte er.
Greta wandte sich dem Mann zu, der sie begleitete und ihm nun lächelnd die Hand entgegenstreckte. »Ich bin Taylor Foo, Mr Holland, vom Ministerium für Sicherheit. Schön, Sie kennenzulernen. Mein Freund Dechambeau hat Ihr Kommen bereits angekündigt.«