Waverly
Sie hatte versucht, Wagner zu konfrontieren, aber als sie auf den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite zulief, drehte er ab und war im nächsten Moment im Strom herannahender Schulklassen verschwunden. Schülertag, wie der Forschungsdirektor im Museum ihr erklärt hatte. Konnte es wirklich sein, dass der Mann aus Berlin ihr bis hierher gefolgt war? Oder war sie nun völlig paranoid geworden, sah Gespenster, wo keine waren? Ein Gefühl von Angst und Wut vermischte sich in ihrer Brust, schließlich nahm sie die Visitenkarte, die er ihr im Café gegeben hatte, und wählte die Mobilfunknummer darauf, doch niemand beantwortete ihren Anruf. So hatte sie schließlich eine Weile dort gestanden, unschlüssig, wie sie die Zeit bis zum Abend überbrücken sollte, ständig nach Wagner Ausschau haltend. In der Folge entschied sie sich für drei Dinge, die ihr später zum Verhängnis werden sollten: Als Erstes ging sie in ein Geschäft in der Innenstadt, dessen Schaufenster mit Gitterstäben geschützt war und das Waffen jeglicher Art führte. Der Verkäufer, ein unheimlicher Kerl mit stechendem Blick und einem zu Zöpfen geflochtenen Bart, empfahl ihr nach einigem Hin und Her den Kauf von Pfefferspray und eines sogenannten Kubotans. Ein etwa fünfzehn Zentimeter langer, gedrechselter, vorn spitz zulaufender Eisenstab, der als Schlüsselanhänger konzipiert war und, wenn man ihn auf bestimmte Weise zwischen die Finger klemmte, als effektives Schlagwerkzeug genutzt werden konnte. »Besonders für Frauen geeignet«, hatte der Mann gesagt und sie damit überzeugt. Mit den neuen Waffen zur Selbstverteidigung in der Handtasche fühlte sie sich augenblicklich sicherer, auch wenn von Wagner nichts mehr zu sehen war. Als Nächstes ging sie in ein Internetcafé und versuchte online, einen Plan der Räumlichkeiten des Museums zu finden, inklusive Nebenausgängen und etwaigen Fluchttüren, damit sie es am Abend vielleicht verlassen konnte, ohne dass Wagner sie beobachtete. Schließlich kam sie an einem Fossilien- und Mineralienhandel vorbei und beschloss, weil sie viel Zeit hatte, sich nach Bernsteinen zu erkundigen. Der Besitzer war ein aufgeschlossener und freundlicher Mann und bestätigte, was der Bernsteinexperte aus Italien ihr bereits mitgeteilt hatte: Bernsteine konnten ein Vermögen wert sein. Ob sie wertvolle Bernsteine besitzen würde, hatte der Verkäufer sie gefragt, und sie hatte, auch weil er sich mit der Beratung so viel Mühe gegeben hatte, geantwortet: »Noch nicht, aber vielleicht bald.«
Dies führte sie zu der berechtigten Frage, wie sie die Bernsteine aus dem Goethe-Museum, wenn sie denn die erwarteten Inklusen enthielten, loseisen konnte. Sie würde auf die Mitarbeit der dortigen Museumsleitung bauen und somit die vollkommene Wahrheit über die Steine und deren vermutliche Bedeutung offenbaren müssen. Die Reaktion des Professors auf den Begriff »Urpflanze« am Morgen stimmte sie allerdings nicht gerade zuversichtlich. Nach einem ausgiebigen Stadtbummel – Weimar war eine wunderschöne Stadt –, einem Besuch im Stadtschloss und einem Spaziergang durch den Park an der Ilm blieb sie vor dem auf Geheiß Goethes gepflanzten Ginkgo stehen. Er befand sich vor der Musikschule und war über zwanzig Meter hoch. Mit seinem Wuchs und dem Grün der besonderen Blätter verströmte er eine angenehme Aura. Neben ihr besichtigte eine Schulklasse den Baum und bekam gerade die Geschichte um dessen Entstehung sowie einige Fakten zum Ginkgo erzählt. Sie hörte eine Weile zu, dann schaute sie auf die Uhr und eilte zum Museum, wo sie um Punkt 17 :30 Uhr nach dem Professor fragte. Sie sah nur noch vereinzelte Jacken an der Garderobe hängen, der Besucheransturm schien abgeebbt. Der Professor begrüßte sie mit aufrichtiger Freundlichkeit. Als Erstes überreichte er ihr die Kopien von Goethes Briefwechsel mit den chinesischen Mönchen. Danach befragte er sie höflich, wie sie den Tag verbracht hatte, und führte sie schließlich in den Hauptteil des Museums, das Haus, in dem Goethe die letzten fünfzig Jahre seines Lebens gewohnt hatte. In achtzehn Räumen konnten viele originale Stücke und Möbel aus Goethes Nachlass besichtigt werden, doch sie steuerten direkt auf das Arbeitszimmer zu.
»Ich habe noch einmal über Goethes Passion für die Urpflanze nachgedacht«, sagte der Professor, während sie durch die langen Gänge des Hauses schritten. »Und ich glaube, ich weiß, warum er sich damals so sehr nach ihrer Existenz gesehnt hat.«
»Warum?«, wollte Waverly wissen.
»Es war sein Streben, die Welt in ihren Grundfesten zu verstehen. Wenn man nicht zurück zum Ursprung geht, wird man die Gegenwart niemals verstehen.«
Die Sätze berührten Waverly auf merkwürdige Weise. Sie dachte an ihren Vater, den sie niemals kennengelernt hatte.
»Hier sind wir«, sagte ihr Begleiter. »Es ist der authentischste Raum, hier wurde kaum etwas verändert. Die türkisgrüne Farbe an der Wand sollte für wenig Ablenkung sorgen und stand nach Goethes Farbenlehre für die Natur. Am großen Tisch in der Mitte saßen die Schreiber, während Goethe durch das Zimmer lief und diktierte. In den Regalen und Schränken finden sich Goethes persönliche Bibliothek, Utensilien zum Experimentieren und einige Erinnerungsstücke – und die Bernsteine. Der Professor ließ sie an einer Sperre vorbei in das Zimmer, während er die Schränke mit einem Plan in seiner Hand abglich.
»Diese müsste es sein«, sagte er und öffnete eine der langen Schubladen unter einem Rednerpult.
Das Schubfach war voll mit kleinen Gegenständen, Waverly erkannte Schreibfedern, Tintenfässchen, eine Schnupftabakdose – und mehrere Bernsteine. »Wenn Sie einmal selbst schauen mögen, aber bitte nichts anfassen«, sagte der Professor und trat einen Schritt zur Seite.
Sie kam heran und beugte sich hinunter. Die Bernsteine waren viel kleiner, als sie erwartet hatte. Es war dunkel, und so nahm sie die Taschenlampenfunktion ihres Smartphones zu Hilfe. Im Licht wirkten die hellgelben Steine durchsichtig, sodass der Blick auf die Inklusen frei war. Hätte es denn welche gegeben. Keine Einschlüsse. Keine Samen der Urpflanze. »Das sind nicht die richtigen«, stellte sie irritiert fest.
Ihr Begleiter hob die Schultern. »Das sind nach unserem Inventar die einzigen.« Er beugte sich vor, um selbst einen Blick darauf zu werfen. »Es tut mir leid!«
Waverly fühlte eine Mischung aus Enttäuschung und Scham. Das kam dabei heraus, wenn man einem Computer vertraute. Sie richtete sich auf und spürte eine unendliche Leere in sich aufsteigen. Dies war ihre derzeit einzige Spur gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie jetzt weitersuchen sollte.
Plötzlich erstarrte sie.
»Was ist das?«, fragte Waverly und deutete auf eine weiße Skulptur auf dem Schreibtisch gegenüber.
Ihr Begleiter folgte ihrem Blick. »Sie meinen die Porzellanfigur? Das ist ein Pudel!«
Waverly spürte, wie ihr Herz zu pochen begann.