Waverly
»Ein Pudel?«, fragte Waverly geistesabwesend. Sie versuchte, sich den Wortlaut des Briefes, den SB gefunden hatte, in Erinnerung zu rufen. Die Urpflanze sei des Pudels Kern, hatte es dort geheißen. Eine Redewendung aus Goethes berühmtem Werk Faust, wobei eigentlich der Teufel in Gestalt Mephistos als Kern des Pudels bezeichnet wurde. Doch vielleicht war es viel wörtlicher gemeint als gedacht. »So bin ich ihr Kerkermeister« hatte in dem Brief auch gestanden. Ein Kerkermeister sperrte andere ein. Oder etwas anderes.
»Ich gebe zu, der Pudel ist nicht besonders schön. Aber alt. Wenn ich mich nicht irre, stammt er aus dem Jahr 1788 .«
1788 , das Jahr, in dem Goethe mit den Bernsteinen aus Italien wiedergekommen war!
»Kann ich ihn mir anschauen?«, fragte sie.
»Nur zu. Mit den Bernsteinen sind wir fertig?«
Waverly antwortete nicht, sondern ging hinüber zu der Figur, die die Größe eines Toasters hatte. Der Pudel war grob gearbeitet, aber gar nicht so schlecht getroffen.
»Darf ich die Figur anfassen?«
»Tun Sie es!«
Sie hob den Pudel vorsichtig an. Er war schwerer als gedacht. Sie schüttelte ihn kaum merklich. Kein Klappern, keinerlei Geräusch. Sie konnte noch nicht einmal erfassen, ob er innen hohl war.
»Eine Auftragsarbeit aus der Meissener Porzellanmanufaktur. Eigentlich mochte Goethe das weiße Porzellan nicht besonders gerne, aber in diesen Pudel schien er ganz vernarrt. Ein interessantes Gegenstück zu dem schwarzen Pudel im Faust . Aufgrund des Konträren mag man bei Goethe nicht an einen Zufall glauben.«
Waverly suchte bei der Figur nach einer Naht oder Öffnung, doch sie schien in einem Stück gearbeitet zu sein. Sie erinnerte sich an die Reaktion des Professors, als sie die Urpflanze erwähnt hatte. Kurz überlegte sie, ihren Verdacht zu äußern, aber es klang zu verrückt. Nach dem Reinfall mit den Bernsteinen konnte sie den Porzellanpudel weder öffnen noch darum bitten, ihn mitzunehmen, um ihn im Institut röntgen zu lassen.
»Wollen wir?«, fragte ihr Begleiter. Sie stellte die Figur wieder zurück.
»Es ist kurz vor sechs. Wir schließen in wenigen Minuten. Ich muss noch eine Kontrollrunde drehen, unser Datenschutzbeauftragter hat uns die Videoüberwachung in den Räumen aus Datenschutzgründen verboten. Finden Sie allein hinaus?«
Sie nickte und bedankte sich bei ihm.
»Einfach den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind.«
Sie schien nun die Letzte im Museum zu sein. Sie durchquerte einen Raum mit weißen Skulpturen, weitere Räume mit antiken Möbeln und diversen ausgestellten Devotionalien des Dichters. Und dann, als sie die nach oben führende Treppe sah, folgte sie einer spontanen Eingebung, wich vom Rückweg ab, huschte die Stufen hinauf, schaute in den ersten Raum, in den zweiten, stieg im dritten Raum über eine hölzerne Absperrung, die den Zugang verhindern sollte, öffnete einen alten Kleiderschrank und versteckte sich darin.
In dem Schrank war es warm und muffig, und wieder überkam sie das gleiche klaustrophobische Gefühl wie im Militärarchiv. Plötzlich hielt sie es für eine dumme Idee, sie überlegte, ihren Plan aufzugeben, doch dann blieb sie einfach sitzen, die Arme um die Knie gelegt, und lauschte angestrengt. Durch einen schmalen Spalt zwischen Tür und Schrank fiel ein schwacher Lichtstrahl, ansonsten war es stockdunkel. Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Sie holte ihr Handy hervor, um zu schauen, wie spät es war. Eine halbe Stunde saß sie bereits im Schrank. Sie schaltete die Taschenlampe ihres Handys ein, um etwas Licht zu haben, doch irgendwann rächte es sich, dass sie in der Nacht zuvor kaum geschlafen hatte, und sie schlief ein. Als sie erwachte, war das Handy aus. Die Batterie war leer. Leise fluchend steckte sie es wieder ein. Sie wusste nicht, wie spät es war, doch das Licht draußen im Raum war erloschen. Vorsichtig öffnete sie die Schranktür, deren Scharniere laut quietschten, was ihr beim Hineinsteigen gar nicht aufgefallen war. Im Zimmer war es stockdunkel. Sie wartete, bis ihre Augen sich weiter an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie stand im Schlafzimmer Goethes, direkt vor dem Bett, in dem der Dichter gestorben war. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Waren dessen letzte Worte nicht »Mehr Licht!« gewesen? Ihr Blick fiel auf einen Kerzenleuchter, der mit fünf Kerzen bestückt war. Sie kramte in ihrer Handtasche, holte ein kleines Feuerzeug hervor und zündete eine der Kerzen an. Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Raum und malte unheimliche Schatten an die Wand über dem Totenbett. Die Kerze vor sich hertragend, sah sie zu, dass sie aus dem Zimmer kam. Die Dielen des alten Hauses knarrten unter ihren Schritten. Alle paar Meter blieb sie stehen und lauschte in die Dunkelheit, doch alles schien ruhig. Sie versuchte, sich zu orientieren, bog einmal falsch ab, durchquerte einen der Räume, in dem die Schatten der dort ausgestellten Büsten im Kerzenschein aufgeregt umherhuschten, zweimal, bis sie endlich wieder vor dem Arbeitszimmer stand, in dem sie Stunden zuvor mit dem Professor gewesen war. Auch hier musste sie über eine Absperrung steigen, was mit der Kerze kein leichtes Unterfangen war. Schließlich stand sie schwer atmend vor dem Tisch mit dem Pudel, der im warmen Licht der Kerze grau wirkte. Sie zögerte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Sie schlug den Pudel hier und jetzt entzwei und überprüfte ihren Verdacht, dass in ihm einer der Bernsteine mit dem eingeschlossenen Samen der Urpflanze versteckt war. Oder sie nahm ihn mit, lieh ihn quasi aus, und ließ ihn röntgen. Irrte sie sich, konnte sie ihn anonym zurückbringen, nachts vor die Tür des Museums legen oder sich ein Ticket lösen und ihn unbemerkt irgendwo abstellen. »Goethes Pudel ist wieder da!« würden die Zeitungen vermutlich titeln. Sie entschied sich für die zweite Variante. Vielleicht würde das Fehlen des hässlichen Tieres in den ersten Tagen noch nicht einmal bemerkt werden. Wenn ja, war es nicht unwahrscheinlich, dass der Professor sich an sie erinnern würde und sie die Hauptverdächtige wäre. Aber man würde ihr die Tat erst einmal nachweisen müssen. Das Museum hatte täglich Hunderte oder Tausende Besucher, und die Videoüberwachung war ausgeschaltet. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Bilderrahmen an der Wand. Sie kam näher, um ihn anzuleuchten. Sie hatte sich nicht getäuscht: Darin befand sich das getrocknete Blatt eines Baumes. Wenn sie nicht irrte, war es das halbe Blatt eines Ginkgos. Daneben war ein chinesisches Schriftzeichen gemalt. Es machte strafrechtlich wohl keinen Unterschied, ob man ein oder zwei Dinge auslieh. Sie hängte den Bilderrahmen ab und steckte ihn in ihre Jacke. Dann nahm sie den Pudel, als sie irgendwo draußen im Flur ein lautes Scheppern vernahm. Augenblicklich schoss Adrenalin in ihre Brust. Offenbar war sie nicht allein.