Waverly
Sie stand regungslos im dunklen Museum, doch zunächst blieb es bei dem einen Geräusch. Vorsichtig stieg sie über die Absperrung und hob den Pudel auf, den sie zuvor durch das Gitter in den Flur geschoben hatte. Die Kerze in der einen, den Pudel in der anderen Hand, wendete sie sich in Richtung des Notausgangs an der Westseite des Hauses, den sie sich auf dem Raumplan im Internet herausgesucht hatte. Sie hoffte, dass er nicht verschlossen war. »Hallo!«, hörte sie einige Räume hinter sich eine Stimme rufen, die sie sofort erkannte: der Professor. »Ist dort jemand?«
Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie plötzlich ein lautes Stöhnen vernahm, dann ein Geräusch, als fiele etwas Schweres zu Boden. Sie blieb stehen und drehte sich um. Hinter ihr der Gang, der durch Goethes lang gestrecktes Haus führte. Einige Räume zurück sah sie einen Lichtkegel, direkt auf den Dielen, der sich nicht bewegte. Er schien von einer Taschenlampe zu stammen, die auf dem Boden lag. Dahinter erhob sich, ebenfalls auf dem Boden liegend, die Silhouette eines Körpers. Außer ihrem lauten Atem war es gespenstisch still. Alles in ihr befahl ihr, fortzulaufen, doch sie machte einen Schritt in Richtung des noch fernen Lichts. Das Holz knarrte unter ihrem Fuß. Wenn derjenige, der dort lag, der Professor war, dann konnte sie ihn hier nicht einfach liegen lassen. Bis zum Morgen würde ihn vermutlich niemand finden. Sie beschleunigte ihre Schritte. Mit der Kerze in der Hand wurde ihr Arm langsam lahm, die Muskeln begannen zu zittern. Sie durchquerte den nächsten Raum, dann noch einen, vor dem Raum mit der Taschenlampe blieb sie stehen und streckte den Arm aus, um die Szenerie vor ihr besser auszuleuchten. Keine vier Meter entfernt lag eine Stabtaschenlampe, dahinter, wie vermutet, der Professor. Sie erkannte ihn an seinem grauen Zopf. Er lag auf dem Bauch, leicht verkrümmt. »Hallo?« Ihre Stimme klang fremd und hohl.
Sie machte einen weiteren Schritt, beugte sich herunter und erschrak, als sie die blutende Wunde am Hinterkopf bemerkte. Irritiert versuchte sie, zu verstehen, was passiert war, und als sie es verstand, war es zu spät. Sie fuhr herum, als sie das Geräusch hinter sich vernahm. Ein Knarren, wie sie es in den letzten Minuten hundertfach gehört hatte, während sie über die alten Dielen geschlichen war. Sie sah die dunkle Gestalt, die hinter einer der Statuen auf sie zukam, wurde im nächsten Moment vom gleißenden Licht einer Lampe geblendet. Sie schrie laut auf, machte einen panischen Schritt zur Seite, trat auf einen Arm, kam ins Stolpern. Heißes Wachs tropfte auf ihre Hand, die sich öffnete und die Kerze zu Boden fallen ließ. Die brennende Kerze rollte über den Holzboden, unter die Vitrine, in Richtung Vorhang.
Im nächsten Augenblick vernahm sie nahe bei ihrem Ohr ein Schnaufen, spürte eine Hand, die versuchte, ihr den Pudel unter ihrem Arm zu entreißen. Sie hielt ihn fest umklammert, riss ihren Körper mit aller Kraft zur Seite, spürte, wie der Pudel ihr entglitt und ebenfalls zu Boden fiel. Sie machte einen großen Ausfallschritt, sah, wie die Porzellanfigur auf dem Boden zerschellte und ein oranger Gegenstand über die Dielen rollte. Für einen Moment bewegte sich niemand, dann reagierte sie geistesgegenwärtig. Ohne denjenigen zu beachten, der sie attackiert hatte, warf sie sich auf den Boden, griff nach dem Stein. Ein Schuh kam in ihr Blickfeld, trat auf ihre Hand. Sie schrie vor Schmerz auf, versuchte, ihre Hand zu befreien, bekam ein Bein zu fassen, zog es zu sich heran, ignorierte einen harten Schlag in ihrem Rücken, biss durch stabilen Stoff in festes Fleisch. Ein lauter Schmerzensschrei ertönte, ein Knie traf sie an der Schläfe, doch der Druck auf ihre Hand löste sich. Kurz sah sie ihn genau vor sich, den Bernstein, auf dem Holzfußboden liegend, orangegelb erleuchtet, im hellen Schein des Vorhangs, der Feuer gefangen hatte. Sie wollte erneut danach greifen, doch ihre Hand versagte ihr den Dienst. Die Gestalt über ihr beugte sich herunter, sie schnellte herum, drehte sich, kickte den Stein mit einer Bewegung ihres Fußes zur Seite, irgendwo in Richtung der Tür. Eine heruntersausende Taschenlampe verfehlte ihren Kopf nur knapp, sie robbte schreiend zurück, spürte die Hitze des Feuers neben sich. Der nächste Schlag traf sie am Kinn. Schmerzen und Rauch ließen ihre Augen tränen, verhinderte, dass sie die Gestalt vor sich erkennen konnte. Während sie laut ächzend und kreischend zurückrobbte, kramte sie mit der linken Hand in ihrer Handtasche, die noch immer um ihre Brust gebunden war, fand endlich, was sie suchte, griff die Dose mit dem Pfefferspray und sprühte es dem sich jetzt erneut auf sie stürzenden Angreifer entgegen. Mit einem Aufschrei ließ er von ihr ab, die Stimmlage verriet, dass es sich um einen Mann handelte. Sie rollte sich zur Seite, kam dem Feuer gefährlich nahe, konnte nicht mehr atmen. Mit letzter Kraft kam sie endlich auf die Knie, dann auf die Füße, suchte den Boden ab, bückte sich und begann zu rennen.