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Waverly

Meißen, November 2016

Sie presste den Eisbeutel an ihr Kinn. »Der Kiefer könnte gebrochen sein«, sagte ihre Mutter, während sie Teewasser aufsetzte. »Was hast du nur wieder getan, Honi?«

Waverly saß an dem kleinen Küchentisch im fünften Stock des ehemaligen Plattenbaus und starrte ins Leere.

Das Radio spielte Musik. Doch all das drang nicht durch zu Waverly. Nachdem sie sich im Park nahe Goethes Wohnhaus versteckt gehalten hatte – sie wusste nicht mehr, wie lange – und von dort das Heranrasen von einem Dutzend Rettungsfahrzeugen mit anhören musste, war sie schließlich, wie in Trance, zum Bahnhof gelaufen. Mit den angesengten Haaren, dem vom Ruß geschwärzten Gesicht, der Verletzung und dem leeren Blick musste sie den Mitreisenden in der Bahn wie ein Junkie vorgekommen sein. Aber sie konnte das Bild des auf dem Boden liegenden Professors nicht vergessen. Alles war in Flammen aufgegangen, der Feuerschein über dem Museum von überall in der Stadt zu sehen. Sie hatte nach Rauch gestunken, und nachdem ihre Mutter sie in Meißen vom Bahnhof abgeholt hatte, war ihre Kleidung in die Waschmaschine und sie in die Badewanne gewandert. Nun saß sie im Bademantel in der Küche ihrer Mutter und fühlte sich unendlich leer.

»Es ist in Ordnung, wenn du mir nicht erzählen möchtest, was passiert ist«, fuhr ihre Mutter fort. Sie sprach mit ihr koreanisch. »Vermutlich möchte ich es auch gar nicht wissen. Aber du musst besser auf dich aufpassen, Honi!« Sie setzte sich zu ihr an den Tisch und nahm ihre Hand, deren Fingerknöchel aufgeschürft waren. »Wenn dir etwas passiert, habe ich niemanden mehr!« Sie strich ihr sanft über die Schläfe.

Waverly legte ihre andere Hand auf die ihrer Mutter. »Ich weiß, Eomma. Ich bin vorsichtig!«

Als der Wasserkessel pfiff, goss ihre Mutter weißen Tee auf.

Waverly erhob sich und schaute wie beiläufig aus dem Fenster, hinab auf den Innenhof. Seit dem Treffen mit Wagner war sie das Gefühl nicht mehr losgeworden, verfolgt zu werden. Nachdem sie ihn auch in Weimar gesehen hatte und nach dem Überfall im Museum, war sie sich sicher, dass es so war. Es konnte kein Zufall gewesen sein, dass man ihr dort aufgelauert hatte. Dass der Mann im Museum versucht hatte, ihr die Porzellanstatue zu entreißen. War das Wagner gewesen? Wegen des blendenden Lichts der Taschenlampe hatte sie nichts erkennen können. Und das war es, was sie am meisten belastete: Sie war überzeugt davon, dass der Professor wegen ihr ermordet worden war. Hätte sie Weimar nicht besucht, wäre er vermutlich noch am Leben. Auch wenn sie ihn nicht getötet hatte, so war sie doch dafür verantwortlich. Ein Gedanke, der ihr immer wieder die Kehle zuschnürte und Tränen in die Augen trieb.

»Was guckst du?«, fragte ihre Mutter.

»Nichts«, entgegnete sie. »Ich gehe rüber. Gute Nacht!«

Sie gab ihrer Mutter einen Kuss. Dann nahm sie sich einen Becher mit Tee, klemmte den alten Laptop ihrer Mutter unter den Arm und verzog sich ins Wohnzimmer. Es war eins von nur zwei Zimmern in der kleinen Wohnung. Im anderen ging ihre Mutter zu Bett. Sie würde, wenn sie überhaupt ein Auge zubekam, heute Nacht auf dem Sofa schlafen. Das Internet war voll mit Meldungen und Nachrichten über den Brand. »Goethes Wohnhaus Opfer der Flammen«, »Eine kulturgeschichtliche Katastrophe«, »In den Trümmern des ausgebrannten Hauses sei ein nicht identifizierter Leichnam gefunden worden. Die Brandermittler des Landeskriminalamtes hätten die Ermittlungen aufgenommen«.

Man hatte also bislang nur einen Leichnam gefunden, nicht zwei. Ihr Angreifer hatte also vermutlich auch entkommen können. Auf dem gefliesten Wohnzimmertisch lag der Inhalt ihrer Handtasche, in die ebenfalls der Rauch gezogen war und die ihre Mutter zum Lüften auf den Balkon gehängt hatte. Sie schaute auf den Schlagstock, der ihr im Gegensatz zum Pfefferspray nicht hatte helfen können. Daneben lagen ein Lippenstift, ein Kugelschreiber, eine fossile Kastanie aus Griechenland, die sie als Glücksbringer bei sich trug, und ihre Geldbörse. Ihr Blick fiel auf den kleinen Bilderrahmen mit dem Ginkgo-Blatt. Nun bereute sie es, ihn mitgenommen zu haben. Sie schaute sich um, hängte eines der Bilder ihrer Mutter, die asiatische Sonnenuntergänge zeigten, ab und stattdessen das Bild auf. Hier würde es erst einmal niemand suchen. Sie schaute auf die kopierten Blätter mit den chinesischen Schriftzeichen, die der Professor ihr gegeben hatte. Sie nahm ihr Handy, machte Fotos von den Briefen in chinesischer Sprache und schickte sie per E-Mail an ihren E-Mail-Account. Dann öffnete sie den Laptop ihrer Mutter und verband sich via VPN -Tunnel mit SCANDBOX . Sie würde die chinesischen Schriftzeichen nicht übersetzen müssen, diese Aufgabe übernahm SB , der viele verschiedene Sprachen verstand. Mit dem Laptop dauerte es allerdings eine gefühlte Ewigkeit, bis alle Scans der Briefe in die Cloud, in der SB auf Arbeit wartete, geladen waren.

Ihre trotz des Bades vom Rauch gereizten Augen brannten vor Anstrengung. Sie lauschte: Ihre Mutter schien zu schlafen.

Nachdem fünf von sechs der Briefe erfolgreich an SB übermittelt waren, öffnete sie das Programm und schaute, wie die KI begann, die ersten Seiten zu analysieren. Sie wechselte in den von Ava so genannten »Live-Modus« und konnte zusehen, wie der Computer Schriftzeichen übersetzte und im Hintergrund Wörter und Begriffe in den erkannten Texten sortierte.

»Wie die Zweigliedrigkeit der Blätter die beiden Enden des Lebens und der Liebe darstellt, so steht der Stamm für die Ewigkeit«, »Er ist jung und alt zugleich, Sie werden viel Freude an ihm haben«, »Derweil manche Exemplare tausend Jahre und mehr zählen«, »So sind die beiden Gewächse wie die Blätter des Mädchenhaarbaumes, eines gut und bejahend und eines böse und verneinend«, »Danke ich für das Vertrauen«, »Gesegnet seien diejenigen, die mit der Natur sich vereinen«, »Wie die Saat des Ginkgo werden wir auch das, was Ihr Gewächs aus ferner Zeit nennt, behüten über die Jahrhunderte, wenn Ihr sie unserer Halle der Inkarnation verantwortet, im besten Sinne«, »Ist es mir eine Freude, Ihnen den Schatz zu überlassen«, »Weiß ich keinen besseren Ort, ihn zu verwahren, als Euer Kloster«, »Manchmal braucht etwas nur Zeit, um gut zu werden«, »Darf ich derweil eine Warnung aussprechen: Es darf unter keinen Umständen sprießen, denn es ist den Menschen und der Natur nicht so wohlgesinnt wie anderes Kraut«, »Verbleibe ich in westlicher Ehrerbietung für die östliche Gewandt- und Verschwiegenheit. Mögt Ihr es verwahren, bis jemand kommt und das Doppelte des Einen vorzeigt.«

Waverly lehnte sich zurück. Glaubte man diesen Zeilen, hatte der Professor wohl recht: Goethe schien den Bernstein gegen den Samen eines Mädchenhaarbaums getauscht zu haben. Dies war eine andere Bezeichnung für einen Ginkgo-Baum. Das Ergebnis des Tausches war noch heute in Weimar zu besichtigen.

Der Begriff »Pflanze aus ferner Zeit« wurde von SB im Text grün unterlegt und von der KI als Urpflanze übersetzt. Sie klickte auf den so gekennzeichneten Begriff, landete in einer Art digitalem Wörterlexikon. Dort war das Wort »Urpflanze« aufgeführt. Sie klickte mit der Maus auf die Schaltfläche »Ähnliche Begriffe«, welche die künstliche Intelligenz hinter SCANDBOX dem Wort »Urpflanze« aufgrund der Informationen, mit denen sie bis heute gefüttert worden war und auf die sie selbstständig im World Wide Web zugreifen konnte, zuordnete.

Verwirrt starrte Waverly auf die von SCANDBOX vorgenommene Begriffsauswahl: Biohazard, Virus, Atomwaffe, Naturkatastrophe, Weltuntergang, Weltherrschaft.

In diesem Moment klingelte ihr Mobiltelefon. Sie schaute auf die Uhr. Es war 2 :45 Uhr nachts. Eine unbekannte Telefonnummer. Sie zögerte kurz, dann drückte sie die Taste zum Annehmen. Die Stimme erkannte sie sofort.

»Wir müssen reden, Frau Park. Jetzt! Aber wecken Sie Ihre Mutter nicht.«

Es war Wagner.