Holland
Das Auto, das Li von ihrer Mutter geliehen hatte, entpuppte sich als ein alter Chery QQ . Holland hatte den Sitz nach ganz hinten stellen müssen und hatte dennoch Probleme, seine Beine unterzubekommen. Auch wenn Li den Kleinwagen unbesorgt und risikobereit durch den Verkehr lenkte, hatten sie über vier Stunden benötigt, bis sich endlich der heilige Berg des Buddhismus, der Jiuhuashan mit seinen neunundneunzig Gipfeln, vor ihnen erhob. Auf dem Weg hinauf nach Jiuhuajie hatte er über siebzig Serpentinen gezählt, die Li hinauffuhr, als sei der chinesische Neujahrsdämon Nian hinter ihnen her. »Bis vor vierzig Jahren gab es hier nur eine kilometerlange Steintreppe«, hatte Li erzählt. »Also seien Sie froh, dass wir nicht zu Fuß gehen müssen!« Von den Fliehkräften in seinen Sitz gepresst, hatte er über die atemberaubenden grünen Hänge des Gebirges geschaut, die sich mit ausladenden Terrassenfeldern und abstrusen Gesteinsformen abwechselten.
Wieder klingelte sein Handy.
»Mein Gott, wo bist du?«, hörte er Gretas aufgeregte Stimme.
»Unterwegs, in die Gelben Berge. Zu einem Kloster.«
»Zu einem Kloster? Sie suchen dich schon! Wir müssen ausreisen!«
»Wer sucht mich?«
»Die Polizei, Foo. Alle. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Ich dachte, du wärst verschleppt oder … sonst was!«
Dass sie sich um ihn sorgte, freute ihn. Gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Er schaute zu Li. »Ich bin noch einmal zur Unfallstelle gefahren, wo der junge Mann gestorben ist. Dort habe ich Li getroffen.«
»Die Frau aus dem Postamt? Was …?«
»Der Tote war ihr Bruder.«
»Ihr Bruder? Ich verstehe gar nichts mehr!«
»Und sie sagt, er wurde absichtlich überfahren. Außerdem glauben wir zu wissen, woher er die Samen hat. Von Mönchen in einem Kloster in den Bergen.«
Greta schwieg kurz. »Du solltest zurückkommen.«
»Wir sind bald da.«
»Warum hast du mich nicht informiert? Ich habe versucht, dich zu erreichen!«
»Weil ich Angst hatte, dass du es mir ausreden würdest.«
»Was ich auf jeden Fall getan hätte!« Wieder schwieg sie.
»Ich spreche mit Foo.«
»Nein! Mach das nicht!«, schoss es aus ihm heraus.
»Warum nicht? Er ist auf unserer Seite.«
Er wusste nicht, warum er es gesagt hatte. Es war nicht mehr als ein Bauchgefühl.
»Was soll ich nun tun?«
»Warte auf mich. Spiel auf Zeit. Ich versuche heute Abend wieder im Hotel zu sein, hoffentlich weiß ich dann mehr.«
»Foo kommt, ich muss auflegen«, hörte er sie sagen. »Pass bitte auf dich auf, Marcus!« Das Gespräch war beendet. Er steckte das Handy ein und schaute aus dem Fenster. Wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, ließ ihn nicht los. Voller Sorge, aber auch Vertrautheit. Was entwickelte sich gerade zwischen ihnen beiden?
»Alles okay?«, fragte Li.
»Ja«, antwortete er.
Je näher sie der Stadt mit den Tempelanlagen kamen, umso aufgeregter wirkte Li auf ihn.
»Die Buddhisten glauben an Wiedergeburt, oder? Es muss eine tröstliche Vorstellung sein, dass die Liebsten nicht einfach fort sind, sondern irgendwo wiedergeboren werden«, sagte er.
»Für die Buddhisten ist die Idee der ständigen Wiedergeburt eine Qual«, entgegnete Li. »Für sie ist das Leben von Gier, Hass und Verblendung geprägt. Dieses Leiden kann erst überwunden werden, wenn der Buddhist nach vielen Leben irgendwann das Nirwana, den Zustand des höchsten Glücks, erreicht. Es ist ein wenig wie mit der Steintreppe und der Straße.«
»Wenn Sie es so sagen, klingt es nicht mehr tröstlich.«
»Trost muss von innen kommen«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Damit hatte sie recht. Beide schwiegen eine Weile.
»Und Pan soll von den Mönchen hier oben diese Bohnen erhalten haben, die er in alle Welt verschickt hat? Bohnen, aus denen tödliche Pflanzen wachsen? Das klingt – irgendwie wahnsinnig!«
Es klang logisch. Pan war derjenige, der die Päckchen aufgegeben hatte. Er arbeitete in einem Samenarchiv im Botanischen Institut in Hangzhou. Li hatte erzählt, dass die Institutsmitarbeiter häufig Ausflüge in die Gelben Berge unternahmen und dass Pan vor nicht allzu langer Zeit hier in einem Kloster in Jiuhuajie gewesen war. Und dann der chinesische Brief, der wie ein Geschenk vom Himmel gefallen war, aus dem hervorging, dass Goethe, der große Dichter Johann Wolfgang von Goethe, mit einem Mönch in einem Kloster in Jiuhuajie Samen der Urpflanze getauscht hatte. Er erinnerte sich zum wiederholten Male an die Szene im Powers Book Store, daran, dass Waverly Park ihm etwas hatte sagen wollen. Vielleicht hatte sie ihm auch diesen Gedichtband überreichen wollen? Oder den chinesischen Brief? Aber warum ausgerechnet ihm? Er musste mehr über Waverly Park in Erfahrung bringen, wenn er hier fertig war.
Sie erreichten Jiuhuajie, eine wuselige kleine Stadt, etwas unterhalb des Gipfels gelegen. Ein Zentrum buddhistischen Pilgertums, voller Souvenirläden und Menschen. Li parkte das Auto und zeigte auf eine Steintreppe, die hinauf in Richtung Gipfel führte. »Nun müssen wir doch ein wenig marschieren!«, sagte sie.
»Dort hinauf?«, fragte Holland ungläubig.
Er folgte mit seinem Blick dem Verlauf der Treppe. Vom Horizont näherte sich mit lautem Knattern ein Helikopter, der über dem Gipfel eine Ehrenrunde flog und dann hinter den Bergwipfeln verschwand, vermutlich, um eine neue Ladung Touristen hier heraufzuschaffen. Obwohl es noch nicht Mittag war, brannte die Sonne erbarmungslos, dazu war die Luftfeuchtigkeit hoch.
Li ging vor, und er hatte Mühe, hinterherzukommen. Sein Hemd klebte bereits nach wenigen Schritten nass an seinem Körper. Die feuchte Wärme und der mangelnde Schlaf zeigten ihre Wirkung. Er schnaufte und rang nach Luft, während Li die Stufen vor ihm hinaufzufliegen schien. So dauerte es eine gute Stunde, bis sie, eingebettet in die Landschaft, zwischen Bergmassiv und einem kleinen Fluss, eine beeindruckende Klosteranlage erreichten. Sie standen auf der Bergspitze, umgeben von dichten Pinien- und Kiefernwäldern. Holland rieb sich die Oberschenkel und schaute voller Selbstbewunderung die steile Steintreppe hinab, die sie gerade hinaufgekommen waren.
Die lackierten Ziegel des Tempels glänzten in der Sonne über den einzelnen Hallen der im Palaststil erbauten Anlage.
»Das Qiyuan-Kloster«, kommentierte Li, und zum ersten Mal bemerkte er, dass auch sie außer Atem war. »Ich komme gleich wieder!« Sie verschwand im Eingang des Klosters, während er die Gelegenheit nutzte, auf einer Steinmauer zu verschnaufen. Es war ein idyllischer Ort, hier oben auf dem Dach der Welt. Die verspielte Bauweise der gelb gestrichenen Gebäude mit den geschwungenen Dächern und aneinandergereihten Hallen verströmte Ruhe und Gelassenheit. Die Hallen waren durchaus geeignet, um eine kleine Plantage zu verstecken. Stammten die Pflanzen etwa von hier? Wurden die Samen hier gezüchtet, an diesem heiligen Ort? Mönche passierten zu zweit oder dritt den kleinen Vorplatz, aber niemand wirkte in Eile. Wie auch Li, die eine gefühlte Ewigkeit fernzubleiben schien, bis sie zurückkam und ihn in das Innere des Tempels führte.
»Hier, für Sie«, sagte sie und drückte ihm eine Flasche Wasser in die Hand, aus der er sofort gierig trank. Das Wasser war eiskalt. »Stolpern Sie nicht«, sagte Li, während sie erneut vorging, und zeigte auf ein schmales, an der Türschwelle befestigtes Brett, über das man hinwegsteigen musste. »Es soll die Dämonen fernhalten.« Ihm schlug der intensive Geruch von Weihrauch entgegen. Sie durchschritten mit Malereien und Schnitzereien verzierte Räume, passierten scheinbar endlose Reihen von goldenen Buddhastatuen.
»Guanyin, die Göttin der Barmherzigkeit«, erläuterte Li, als sie eine der goldenen Statuen passierten. Schließlich kamen sie in eine weitestgehend leere Halle. Holland vermutete, dass hier Versammlungen abgehalten wurden. In der Mitte hockte ein Mönch auf einem Teppich. Er war groß und beleibt, hatte einen rasierten Schädel und ein kreisrundes Gesicht. Er trug ein Gewand im selben Gelbton wie der Anstrich der Gebäude.
»Pinyin Hou, der Vorsteher des Klosters«, stellte Li ihn vor. Er begrüßte Holland mit einem Nicken und deutete auf den Boden vor sich. Holland machte es Li nach und ließ sich im Schneidersitz nieder.
»Vor über zweihundert Jahren hat Meister Wu Xia die Seele des Tigers empfangen. Zwei Jahrhunderte kam niemand, und nun seid Ihr bereits die Dritten in einem Jahr, die danach fragen«, eröffnete der Mönch das Gespräch.
»Die Seele des Tigers?« Holland schaute zu Li.
»Seele des Tigers ist die chinesische Bezeichnung für Bernstein.«
Holland kniff die Augen zusammen und versuchte, zu verstehen, was der Mönch ihnen gerade mitgeteilt hatte.
»Das ist ein Missverständnis. Wir suchen keinen Bernstein, sondern den Samen einer Pflanze.«
Der Mönch lächelte. »Wir dürfen Euch nur Auskunft geben, wenn Euch der Orden der Erleuchteten schickt. Oder aber wenn Ihr im Besitz dessen seid, was eins und doppelt ist!«
Holland schaute verdutzt zu seiner Begleiterin, die ebenso ratlos schien wie er.