Waverly
Sie schlief kaum und verließ die Wohnung am frühen Morgen, noch bevor ihre Mutter erwachte. Sie setzte sich in die nahe Filiale einer Bäckereikette, aß ein Croissant und trank dazu einen Kaffee. Den Bernstein aus dem Museum hatte sie vorsorglich bei ihrer Mutter gelassen. Gut versteckt, an einem Ort, wo man ihn nicht so schnell finden würde. Er war kleiner als eine Walnuss und tropfenförmig, vollkommen klar und ohne jede Blase. Darin eingeschlossen befand sich ein Samen, der Waverly an eine rote Bohne erinnerte und der den eigentlich gelben Stein dunkelorange schimmern ließ. Sie schaute auf die Uhr: Um kurz nach neun war sie mit Wagner im Meissener Porzellan-Museum verabredet. Er hatte sie mitten in der Nacht auf ihrem Mobiltelefon angerufen und sich sofort mit ihr treffen wollen. Doch sie hatte abgelehnt. »Die Polizei wird sehr schnell darauf kommen, dass Sie während des Brandes im Museum waren, ich kann Ihnen helfen«, hatte Wagner am Telefon gesagt, und ihr war das Blut in den Adern gefroren. Ihr fiel die Kerze ein, die Dose mit Pfefferspray, die sie zurückgelassen hatte. Der Pudel aus Porzellan. Dort mussten überall ihre Fingerabdrücke drauf sein und ihre DNA . Oder war das alles verbrannt? Was war mit ihrem Treffen mit dem Professor, das mit Sicherheit in seinem Terminkalender vermerkt war. Zudem hatte es eine Handvoll Zeugen gegeben, die sie im Museum gesehen hatten.
Schließlich hatten sie sich auf ein Treffen im Porzellan-Museum geeinigt. Sie wusste, dass es dort nur so von Touristen und Schulklassen wimmelte. Ein hupendes Auto riss sie aus ihren Gedanken. Einer der Handwerker, der gerade ein paar belegte Brötchen bestellte, hatte in zweiter Reihe geparkt und sorgte vor der Bäckerei für ein kleines Verkehrschaos.
Sie stand auf, zog ihre Jacke an und verließ die Bäckerei. In den letzten Tagen hatte sie sich schon daran gewöhnt, Schleifen und Umwege zu gehen, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurde. Doch seit gestern war sie sich nicht mehr sicher, ob sie damit Erfolg hatte. Hatte man sie tatsächlich überwacht? Auch darauf erhoffte sie sich Antworten von Wagner.
Sie wechselte hinüber zum Busbahnhof und musste nicht lange auf den Bus warten. An der Haltestelle in der Talstraße war sie nicht die Einzige, die ausstieg. Sie musste nur dem kleinen Strom von Menschen zum modernen Bau des Meissener Porzellan-Museums folgen. Das Meissener Porzellan genoss Weltruf, die Touristen kamen von weit her. Als sie das Museum erreichte, war es genau neun Uhr. Von Wagner war nichts zu sehen. Sie hatte nicht vor, draußen, auf dem Bürgersteig, auf ihn zu warten, löste eine Eintrittskarte und betrat die Ausstellung.
Zu ihrer Erleichterung waren die Räume auch zur frühen Tageszeit bereits gut gefüllt. Es gab eine Sonderschau zum dreihundertsten Jubiläum der Manufaktur, aber die Exponate interessierten sie heute nicht. In Gedanken war sie bei dem anstehenden Gespräch mit Wagner. Vielleicht sollte sie sich doch besser selbst der Polizei stellen? Das, was er in der Nacht am Telefon zu ihr gesagt hatte, hielt sie davon ab. »Ich kann Ihnen helfen.« Es war vermutlich eine Lüge, um sie hierherzulocken, aber sie griff nach diesem Strohhalm.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, hörte sie seine Stimme und fuhr herum. »Verzeihen Sie die kleine Verspätung, aber ich musste noch etwas erledigen.« Wieder trug er einen schwarzen Anzug, der wie eine Uniform an ihm wirkte.
»Sie kommen aus Meißen, ich vermute, Sie waren schon häufig hier?« Sie setzten sich langsam in Bewegung.
»Nicht so oft«, antwortete sie einsilbig. »Warum waren Sie gestern in Weimar? Ich habe Sie dort gesehen.« Seine Miene wechselte augenblicklich von freundlich zu ernst.
»Es tut mir leid, was gestern dort geschehen ist«, sagte er.
»Warum waren Sie dort?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Ich bin Ihnen gefolgt.« Er hatte mit der Antwort noch nicht einmal gezögert.
»Sie geben es zu?«
»Sie haben mich gesehen! Wie soll ich es da leugnen?«
»Wie ist es Ihnen gelungen, mich zu verfolgen? Ich habe mich immer wieder umgeschaut und niemanden entdeckt!«
»Ein GPS -Tracker. Darf ich?« Er griff nach dem Mantel, den Waverly mittlerweile ausgezogen über ihrem Arm trug, öffnete mit geschickten Handgriffen eine kleine Naht im Futter, entnahm einen glänzenden Gegenstand von der Größe einer Zweieuromünze, hielt ihn kurz in die Luft und steckte ihn ein.
»Nichts, was man nicht mit ein paar Stichen wieder nähen kann«, sagte er, während er über das aufgetrennte Futter strich und ihr den Mantel zurückreichte.
Waverly starrte ihn mit offenem Mund an.
»Im Archiv, lautet die Antwort, falls Sie fragen wollen, wann ich Ihren Mantel so präpariert habe.«
Waverly erinnerte sich daran, dass er, nachdem sie von einer kleinen Pause ins Archiv zurückgekehrt war, mit ihrem Mantel in der Hand, der angeblich heruntergefallen war, an ihrem Arbeitsplatz gestanden hatte. Sie fühlte sich hintergangen, ausspioniert, gedemütigt.
»Und ich soll Ihnen glauben, dass Sie mit der Sache gestern Abend im Museum nichts zu tun haben? Warum sind Sie mir nach Weimar gefolgt? Und in die Bar in Kreuzberg, wo ich arbeite? Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?«
»Ich wollte Sie beschützen. Das ist es, was ich die ganze Zeit über versuche.«
»Beschützen vor wem?«
»Wo ist der Bernstein?«
Sie stockte. »Welcher Bernstein?«, schauspielerte sie.
»Sie wissen genau, was ich meine. Haben Sie ihn, oder ist er verbrannt?«
Sie überlegte, was sie darauf antworten sollte. Dass er von dem Stein wusste, deutete darauf hin, dass er doch heute Nacht mir ihr im Museum gewesen war, vielleicht war er der Fremde, der sie angegriffen hatte. Aber wenn sie diesen Verdacht äußerte, gab sie zu, dass es einen Bernstein überhaupt gab.
»Sie ahnen nicht, mit wem Sie sich anlegen«, zischte Wagner.
Während sie leise sprachen, waren sie weiter durch die Ausstellung geschlendert. Sie spazierten vorbei an Projektionen, die begleitet von Raumklängen die Besucher in die Welt der Alchemie einführen sollten. Infostationen erklärten, wie Porzellan entsteht.
»Mit wem denn?«, fragte Waverly und blieb stehen. Wagner schaute sich um, schien kurz nachzudenken. Dann packte er sie am Arm und zog sie zu einem der Glasschaukästen.
»Sehen Sie die Figur dort?«
Er zeigte auf ein faustgroßes Porzellanmodell, das zwei Männer im Gespräch zeigte, beide trugen die typische Kleidung des 18 . Jahrhunderts, neben ihnen stand ein großer Globus.
»Schauen Sie: Zwei Freimaurer, vertieft in eine Diskussion. Achten Sie auf die typischen Symbole der Freimaurer: Zirkel, Winkelmaß und Schurzfell.«
»Ja und?«, fragte Waverly.
»Freimaurer waren Männer mit Ideen, Weltverbesserer, aber auch Feiglinge!« Plötzlich klang er verächtlich.
Waverly sagte nichts, wusste noch immer nicht, worauf er hinauswollte.
»Aber damals gründete sich auch ein Orden sehr viel tapfererer Männer, als die Freimaurer es waren. Männer, die an die Wissenschaft glaubten, die aber nicht nur redeten, sondern etwas verändern wollten! Sie wollten politisch aktiv sein. Sie forderten damals Kirche und Staat heraus und planten als geheime Elite eine Neugestaltung der Welt!«
»Sie meinen die Illuminaten?«, fragte Waverly.
Ein breites Lächeln kehrte auf Wagners Gesicht zurück.
»Wollen Sie mich jetzt ernsthaft vor Illuminaten warnen? Die gibt es nicht mehr! Sie wurden vor Jahrhunderten verboten und haben sich lange aufgelöst! Alles andere sind Verschwörungstheorien oder Geschichten à la Dan Brown.«
Erneut lächelte Wagner. »Der Gründer der Illuminati, Adam Weishaupt, schrieb damals sinngemäß: Von allen Mitteln, die ich kenne, um Menschen zu führen, ist die geheime Gesellschaft die wirkungsvollste. Die Betonung liegt auf geheim«, fuhr er fort. »Sollten die Mitglieder des Illuminatenordens heute also als Netzwerk immer noch bestehen – der Orden wäre geheim, und somit würden Sie es nie erfahren. Es sei denn, Sie achten auf die Spuren, die sie hinterlassen.«
Waverly schüttelte den Kopf. Für sie waren die Illuminaten nichts weiter als eine Legende. »Ich muss mir das nicht anhören!«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
In diesem Augenblick griff Wagner nach ihrem Handgelenk.
»Aua, Sie tun mir weh!«, rief sie und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch er war zu stark.
Eine ältere Frau schaute skeptisch zu ihnen hinüber.
»Alles in Ordnung!«, sagte Wagner in ihre Richtung und ließ Waverly wieder los.
»Denken Sie an gestern Abend«, flüsterte er. »Besser, Sie erregen kein Aufsehen! Aber Sie haben natürlich recht: Tatsächlich existieren die Illuminaten heute nicht mehr. Denn sie haben sich, wie die Welt um sie herum, weiterentwickelt. Heute nennen sie sich anders.«
Waverly rieb ihr Handgelenk, überlegte, zu gehen, einfach davonzulaufen, entschied sich dann aber dagegen. »Anders?«, fragte sie.
»Schon vor zweihundert Jahren war die Aufklärung der Menschheit das Ziel der Illuminaten. Sie wollten von Vorurteilen und religiösen Einflüssen geprägtes Denken reformieren und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften Geltung verschaffen. Und das tun sie auch heute noch, dort, wo die Wissenschaft noch immer nicht gehört wird!«
»Und wo soll das sein?«
Wagner lächelte. »Die Wissenschaft warnt uns seit Jahrzehnten einhellig davor, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Sie hat uns immer wieder belehrt, das 1 ,5 -Grad-Ziel einzuhalten, um den Klimawandel zu stoppen. Doch die Regierungen dieser Welt wollen nicht auf die Wissenschaftler hören. Zeit für die Illuminaten, einzugreifen. Heute nennen sie sich nicht mehr so. Es geht nicht mehr um Erleuchtung, die Menschen auf dieser Erde leben nicht mehr, wie damals, im Dunkeln. Sie sind vielmehr geblendet. Geblendet von Gier und Macht.«
»Sie meinen, die Illuminaten sind heute … eine Gruppe von Klimaaktivisten?«, fasste sie zusammen.
Wagner lachte laut auf. »Das wäre eine groteske Untertreibung. Sie sind keine Aktivisten. Sie sind eine mächtige Gruppe an den Lenkhebeln der Macht, die den Planeten vor dem Untergang bewahren will.«
»Und wie nennen sie sich heute?«
»Desperaten.«
»Die … Verzweifelten?«, übersetzte Waverly.
»Der Name ist auch ihr Programm. Sie nehmen die verzweifelte Lage des Planeten als Rechtfertigung für ihre Aktionen.«
Waverly versuchte das Gehörte einzuordnen.
»Sie meinen also, die Illuminaten, oder besser Desperaten, sind heute eine Gruppe von mächtigen Klimaaktivisten. Sie sind es, die den Bernstein von mir haben wollen?« Sie dachte weiter nach. »Und Sie sind einer von denen?«
»Wo ist der Stein?«
Waverly trat einen Schritt zurück. »Ich weiß es nicht …«, log sie erneut.
Wagner griff nicht wieder nach ihr, sondern fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. »Hören Sie, Waverly«, setzte er an. »Ich möchte Ihnen nicht wehtun und auch nicht Ihrer liebreizenden Mutter. Aber dieser Stein ist für uns von überragender Wichtigkeit!«
»Warum?«, fragte sie. Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Wenn dieser Stein für die Illuminaten oder Desperaten, oder wie auch immer sie sich heute nannten, so wichtig war, schien sie auf der richtigen Spur zu sein. Sie musste nach Hause zu ihrer Mutter und den Bernstein aus dem Versteck holen. Und dann so weit weg, wie sie konnte.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie und wandte sich in Richtung der Tür, über der das Wort »Ausgang« stand.
»Wie sieht es aus, wenn die Polizei den Stein bei Ihnen findet, Waverly?«, sagte Wagner, der nun einen Schritt machte und sich somit zwischen sie und den Ausgang stellte. »Man wird denken, Sie haben den Professor getötet und den Brand gelegt, um Ihre Tat zu vertuschen.«
»Mit dem Tod des Professors habe ich nichts zu tun! Und das wissen Sie! Die Polizei muss zudem erst einmal auf mich kommen!«, sagte sie, doch es klang nicht besonders überzeugend.
»Ich fürchte, das ist sie schon.« Wagner deutete durch die große Glasfront nach draußen, wo vor dem Eingang zwei Streifenwagen parkten. Vier Polizeibeamte machten sich gerade auf den Weg zum Eingang des Museums. Waverly fühlte einen Stich in der Brust.
»Sagen Sie mir nun, wo der Stein ist?«
»Sie können mich mal«, zischte sie und schaute zu dem Eingang des Raumes, durch den die ersten beiden Polizisten hereingestürmt kamen.