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Waverly

Dresden, November 2016

Für die Kriminalpolizei war es eine klare Angelegenheit. Nachdem man sie von Meißen in das Landeskriminalamt nach Dresden gebracht hatte, war sie in einem Verhörraum eingeschlossen worden, was bei ihr zu einer neuerlichen Panikattacke geführt hatte. Ein lustloser, für einen guten Anwalt viel zu junger Mann mit schlechten Zähnen und Föhnfrisur war gekommen und hatte sich als ihr Pflichtverteidiger vorgestellt. Dann hatten zwei Polizisten, von denen einer überaus freundlich und der andere sehr gemein war, sie mit den Vorwürfen konfrontiert: Sie hatte am Tattag, wie der Polizist es ausdrückte, morgens das Goethe-Haus besucht. Danach hatte man ihren Weg durch Weimar rekonstruiert. In einem Waffengeschäft habe sie einen sogenannten Kubotan und eine Dose Pfefferspray erworben, entsprechendes Videomaterial, die Zeugenaussage des Verkäufers und die Kaufbelege würden vorliegen. Danach habe sie im Internetcafé am Markt zur Vorbereitung der Tatausführung den Gebäudeplan des Museums einschließlich der Notausgänge studiert, was dort im Browser gesichert werden konnte. Schließlich habe sie sich in einem nahen Mineralienhandel nach dem Wert von Bernstein erkundigt, ebensolchen Bernsteinen, die laut Exponatenliste im Goethe-Haus verwahrt worden sind. Gegenüber dem dortigen Verkäufer habe sie zudem angekündigt, schon bald im Besitz wertvoller Bernsteine zu sein. Ihre Ankunft im Museum um Punkt 17 :30 Uhr konnte die Dame am Eingang bestätigen. Dass sie das Haus wieder verlassen hatte, nicht. In der Brandruine habe man umfangreiche DNA -Spuren gesichert, die nun ausgewertet würden, wobei man keinen Zweifel habe, dass es Übereinstimmungen mit ihrer DNA gab. Schließlich habe man in der Ruine eine Leiche gefunden, die aufgrund des Feuers in das Kellergeschoss durchgebrochen und daher auf wundersame Weise vom schlimmsten Feuer verschont geblieben sei. Die Verletzungen an deren Schädel, die zum Tod oder zumindest einem schweren Schädel-Hirn-Trauma geführt haben mussten, passten zu einem Kubotan wie dem, den sie in Weimar erworben habe. Ob man glauben solle, dass das alles Zufall sei, hatte der böse der beiden Polizisten gepoltert. Ob sie ihr Gewissen erleichtern wolle, hatte der andere Polizist gefragt, der es scheinbar gut mit ihr meinte. Dinge könnten schließlich anders ablaufen als geplant. Es müsse nicht alles Vorsatz sein, was auf den ersten Blick so aussehe. Sie habe sich einschließen lassen, wurde vom Professor, der an diesem Abend länger arbeitete, weil er eine Veranstaltung am Goethe-Institut in Malaysia vorbereitete, überrascht, es kam zu einem Gerangel, bei dem sie den Kubotan einsetzte. Sie solle am besten gestehen, hatte ihr Rechtsanwalt ihr in einer Pause zugeflüstert, während deren sie vergeblich versuchte, ihre Mutter zu erreichen.

Schließlich hatte sie die ganze Geschichte erzählt und auch Wagner nicht unerwähnt gelassen. Einen Mann namens Wagner habe man nicht finden können, hatte man ihr bei einer späteren Vernehmung eröffnet. Die von ihr genannte Freimaurerloge als Eigentümerin der Schwedenkiste habe glaubhaft versichert, dass man auch dort niemanden dieses Namens kannte. Das Porzellan-Museum in Meißen habe an jenem Tag ihrer Verhaftung keine Videoaufzeichnungen gemacht, weil es angeblich eine mysteriöse Störung des internen Netzwerks gegeben habe, die vermutlich auf einen Schaden am nahen Knotenpunkt der Telekom zurückzuführen sei und erst am Folgetag behoben werden konnte. Angebliche Anrufe Wagners auf ihrem Handy stammten von einem Prepaidhandy, welches sich nicht zurückverfolgen ließ. Die angebliche Visitenkarte Wagners in ihrer Handtasche enthielt nur eine tote Telefonnummer. Und man fand auch keinerlei GPS -Tracker in ihrer Kleidung oder sonst wo. Als sie den Beamten von den Illuminaten und den Desperaten erzählte, lachte man sie aus und bemühte sich noch nicht einmal, in diese Richtung zu ermitteln.

Am Ende war sie einem Haftrichter vorgeführt und zum aufrichtigen Bedauern ihres mit der Situation überforderten Rechtsanwalts von dort in die Justizvollzugsanstalt Dresden gebracht worden. In der schriftlichen Begründung für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls, der auf dem Bett in ihrer Einzelzelle lag, war schließlich neben einem besonders schweren Fall des Diebstahls, dem Hausfriedensbruch, der Brandstiftung und anderen Delikten auch Mord als Vorwurf aufgeführt. Da sie gerade nicht mehr unter das Jugendstrafrecht falle, drohe ihr lebenslängliche Haft, hatte ihr Anwalt ihr mit mitleidigem Gesichtsausdruck bei einem Besuch im Gefängnis eröffnet. Seine Einsicht in die Ermittlungsakte hätte ergeben, dass ihre DNA -Spuren am Opfer entdeckt worden seien, ebenso wie an einer verkohlten Dose Pfefferspray, die man gefunden habe. Ob sie nicht vielleicht während der Tat unter Drogen gestanden habe, hatte er noch gefragt. Und ihr geraten, besser nichts mehr von diesem Wagner zu erzählen, der offensichtlich nicht existiere. Die Beweislast gegen sie sei erdrückend. Nur mit aufrichtiger Reue habe sie eine Chance, vor ihrem vierzigsten Lebensjahr das Gefängnis zu verlassen. Als ihre Mutter sie das erste Mal im Gefängnis besuchte, weinte sie, aber Waverly blieb stark. Als Archäologin ließ sie sich weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft einschüchtern.