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Holland

Schanghai, 19 . August 2023

Die Explosion erfolgte, als Foo sich gerade zur Tür wandte. Holland sah noch, wie dessen Körper wie eine Puppe durch den Raum geschleudert wurde, als die Scheiben des Büros unter der gewaltigen Druckwelle zersplitterten. Halb flog er, halb sprang er auf Greta und begrub sie auf dem glücklicherweise weichen Sofa unter sich. In seinem Rücken spürte er einen Regen aus Glassplittern. Sein Kopf stieß hart gegen ein Regal. In seinen Ohren sauste es, er vernahm einen lang gezogenen Piepton, sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen, dann bemühte er sich, als Erster wieder auf den Beinen zu sein. Er hatte als Einziger im Raum eine gute halbe Stunde Zeit gehabt, sich gedanklich auf die Explosion vorzubereiten. Seit er den Sack mit dem Dünger unter die heiße Pflanzenlampe geschoben hatte. Er hatte die Inhaltsstoffe gelesen: Harnstoff, Ammoniumsulfat, Phosphate, Kalisalze. Zur Verhinderung der Selbstentzündung mit Gemischen aus Wasser und Ethanol vermischt. Die Hitze der Lampen hatte, wie von ihm erhofft, die Befeuchtungsmittel im Dünger verdampfen und das explosive Restgemisch schließlich sich selbst entzünden lassen. Das allein genügte noch nicht für die erhoffte Explosion. Aber er hatte gut zugehört, als Greta ihm von der neuesten Studie erzählt hatte: Assassina incognita produzierte, wie beispielsweise der gemeine Aschwurz auch, ätherische Öle, die Isopren enthielten, welches schwerer als Luft war und daher direkt über dem Boden schwebte. Also dort, wo der Sack mit dem Dünger stand. Doch Assassina incognita schien dies in sehr viel höherer Konzentration zu tun als der Aschwurz. Er hatte nach dem Betreten den typischen Geruch des Isoprens wahrgenommen. Das Gas und der sich selbst entzündende Dünger erzeugten die chemische Reaktion, auf die er gehofft hatte: eine Explosion. Er hatte nur nicht gewusst, wie lange das Befeuchtungsmittel brauchte, um zu verdunsten, und wie heftig sie ausfallen würde. Daher hatte er bei den Gesprächen mit Foo und diesem Silva auf Zeit gespielt.

Er schaute sich um: Die Explosion war gewaltiger als erwartet. Das Büro war komplett verwüstet. Die Fensterrahmen hingen verbogen aus der Leichtmetallkonstruktion, die Tür war aus den Angeln gerissen und hatte einen von Foos Männern unter sich begraben, von dem nur noch die Beine herausragten. Foo selbst konnte er nicht erblicken, aber drei weitere seiner Männer. Einer lag stöhnend über dem Schreibtisch, ein anderer in verdrehter Körperhaltung auf dem Boden. Aus dem Rücken des Dritten, desjenigen, der Greta mit der Pistole bedroht hatte, ragte ein großes Stahlteil. Staub und Rauch lagen in der Luft, Papierschnitzel und Pflanzenblätter segelten zu Boden. »Komm!«, sagte Holland und zog an Greta, die sich nicht rührte. »Wir müssen hier weg! Schnell!« Er packte ihre Schultern und wollte sie anheben, doch ihr Körper war schwer wie Blei. Langsam drehte er sie auf den Rücken und erschrak. An ihrer rechten Schläfe klaffte, direkt neben ihren geschlossenen Augen, eine blutende Wunde. »Greta!«, rief er und schüttelte sie, was nur dazu führte, dass ihr Kopf nach hinten fiel. Mit zitternder Hand fühlte er an ihrem Hals nach dem Puls, fand ihn aber nicht. Er beugte sich hinunter und hievte ihren Körper über seine Schulter. Als er sich aufrichtete, zitterten seine Knie unter der Anstrengung. Er stolperte über Trümmer zur Tür, als er links von sich ein lautes Stöhnen vernahm und sah, wie Foo, noch auf allen vieren, begann, sich aufzurappeln. Er beschleunigte seinen Schritt, knickte ein, stieß mit ihrem Oberkörper gegen den Türrahmen und erreichte das Podest der Eisentreppe. Ein Teil der Pflanzen, nahe dem Eingang, dort, wo er die Düngerbombe platziert hatte, brannte lichterloh. Dunkler Rauch stand in der Halle und stieg ihm in Nase und Augen. Seine Maske hatte er schon lange verloren. Er dachte an Gretas Worte, wonach der Rauch der Pflanze blind machte. Die Eisentreppe vor ihm wirkte viel steiler, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Gretas Körper lag schwer auf seiner schmerzenden Schulter. Hinter ihm erhob sich das wütende Gebrüll mindestens zweier Männer. Er setzte den Fuß auf die erste Stufe, sah wegen seiner tränenden Augen die zweite Stufe kaum. Er erinnerte sich daran, wie Greta ihm in Cottonwood das Leben gerettet hatte, und spürte neue Kräfte in sich wachsen. Zwei Stufen rutschte er auf einmal hinab und bekam das Geländer zu fassen. Er wusste nicht, wie, aber er schaffte es die Treppe hinunter. Als er unten angekommen war, erschien auf dem Treppenabsatz Foo, in der Hand eine Waffe. Er schien verletzt, hinkte stark. Holland hörte einen Schuss, drehte sich zur Seite, um Gretas Körper aus der Schussbahn zu nehmen, und lief seitwärts auf die Pflanzen zu. Der Rauch wurde dichter und nahm ihm den Atem. Vor seinen Augen flogen schwarze Flocken. Weitere Schüsse fielen, und er sah, wie der zweite Kerl Foo auf der Treppe überholte, er schien besser zu Fuß zu sein. Die Pflanzen gaben ihm Deckung. Sie standen dicht, aber nicht so dicht, dass er sich wirklich in ihnen hätte verstecken können. Er hielt sich an der Wand der Halle, um die Orientierung nicht zu verlieren. Sein Rachen begann zu kitzeln, erste Anzeichen einer allergischen Reaktion. Einerseits musste er weg von den Pflanzen, andererseits war die Deckung, die sie ihm gaben, seine einzige Chance. Der Durchgang war eng, doch die Pflanzen schienen sich zu einer Seite zu neigen und ihn so freizugeben. Sie neigten sich in Richtung des Feuers. Dennoch streifte er Blätter und Stängel, fühlte das Brennen der Härchen. Er schaute sich um: Der Mann hinter ihm holte weiter auf, war nur noch wenige Schritte entfernt. Plötzlich begann es zu regnen, und Holland brauchte einen Moment, bis er begriff, dass die Feuersprinkleranlage angegangen war. Dichter Regen prasselte auf die Pflanzen um ihn herum, spritzte von den Blättern auf ihn. Er dachte daran, dass der Regen, der von den Pflanzen tropfte, ätzend war. Doch auf all das konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Im Laufen griff er nach einer Pflanze, riss am Stängel und kippte sie samt Topf um, versperrte so den Weg hinter sich. Seine Handfläche brannte wie Feuer. Er griff die nächste, wiederholte es. Dann versuchte er, Meter zu machen, drehte sich mit Greta auf der Schulter um, sah, wie sein Verfolger über die Pflanze stieg, stolperte, die Waffe hob und das Mündungsfeuer aufblitzte. Er warf sich zur Seite, kam ins Straucheln, blieb mit Gretas Beinen in einer Pflanze hängen, fing sie gerade noch auf, musste dem Gewicht nachgeben und stürzte mit ihr auf den Boden. In seinen Augen brannte der Regen, große schwarze Felder vor seinen Augen nahmen ihm die Sicht, er beugte sich über Greta, sah, wie der Mann, dessen Gesicht voller Blut war, mit der Waffe in der Hand auf ihn zukam. Er schaute sich um, suchte nach etwas, das er zur Verteidigung nutzen konnte, doch er konnte kaum sehen. Es war zu spät. Wenige Meter vor ihnen blieb der Mann stehen, Foo erschien neben ihm, hob die Hand mit der Waffe und begann wieder zu grinsen. Im nächsten Augenblick stürzte mit ohrenbetäubendem Lärm die Hallenwand neben ihnen ein, und ein riesiger Kühlergrill erschien, dann eine Fahrerkabine und dort, wo eben noch der Mann und Foo gestanden hatten, war nun die vordere Hälfte eines riesigen Lastwagens. Türen schlugen, und er sah durch die schwarzen Flocken in seinem Sichtfeld, wie Li um das Führerhaus herum auf ihn zukam.

»Das war für Pan«, hörte er sie sagen. Er brachte nur ein Wort hervor: »Greta!«