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Waverly

Dresden, September 2019

Mehr als zwei Jahre waren seit dem Urteil vergangen. Acht Jahre und neun Monate Gefängnis lautete es, wegen schwerer Brandstiftung und Körperverletzung mit Todesfolge. Nach zwei Dritteln der Strafe konnte Waverly auf eine Freilassung auf Bewährung hoffen. Bei guter Führung. »Es hätte deutlich schlimmer ausgehen können. Sie müssen einen Schutzengel haben«, hatte der Rechtsanwalt gemeint, und danach hatte sie ihn nie wieder gesehen.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie sich rasch an den Gefängnisalltag gewöhnt. Sie leitete einen Computerkurs, was ihr nicht nur gute Führung bescheinigen sollte, sondern auch die Möglichkeit gab, das Internet häufiger zu nutzen als die anderen Insassinnen. Zudem hatte sie damit begonnen, ein Tagebuch zu führen. Eine ältere Mitinsassin hatte es ihr empfohlen. »Ein Tagebuch ist hier drin der einzige Zuhörer, der dich nicht verrät«, hatte sie gesagt. Vorsorglich schrieb sie auf Englisch, hoffte, dass es dadurch weniger leicht zu lesen war, wenn andere es fanden oder die Wärter es ihr abnahmen.

Die Suche nach Wagner war erfolglos verlaufen. Selbst SCANDBOX hatte zu den verfügbaren Daten keinerlei Spur von dem Mann gefunden. Er war ein Phantom, hatte nicht nur einen falschen Namen, sondern auch eine falsche Identität benutzt. Sie hatte keine Ahnung, wer der Kerl, mit dem sie sich zweimal getroffen hatte, wirklich war. Seit die Gefängnispsychologin ihr deutlich gemacht hatte, dass mangelnde Reue einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen konnte, behauptete sie nicht mehr, unschuldig zu sein. Und auch wenn sie sicher war, im juristischen Sinne keine Schuld am Ableben des Professors im Goethe-Haus zu tragen, so fühlte sie doch eine Mitschuld an dessen Tod: Wäre sie nicht zu ihm gekommen, würde er noch leben. Sie hatte keine Ahnung, wer hinter seiner Ermordung steckte, ob es Wagner war, wie immer er auch wirklich heißen mochte, oder jemand ganz anderes. Aber auch wenn sie nach außen den Eindruck vermittelte, ihre Strafe anzunehmen, hatte sie die Suche nach der Wahrheit keineswegs aufgegeben. Die Nächte in der Zelle waren dunkel und einsam, und so hatte sie die Zeit genutzt, aus der gefängniseigenen Bibliothek Bücher über Pflanzen zu lesen, hatte alles verschlungen, was es zu dem Thema gab.

Die Frauen im Gefängnis durften E-Mails empfangen, auch wenn diese aus Sicherheitsgründen ausgedruckt wurden. Die Antwort erfolgte dann per Brief, der, wenn man Glück hatte, eingescannt und per E-Mail zurückgesendet wurde. Der »E-Mail-Brief-Austausch« mit Ava war ihr größter Trost. Nachdem Ava von ihrer Verurteilung erfahren hatte, hatte sie gleich von Kanada hinüberfliegen und sie besuchen wollen, doch es ging nicht: Ava steckte in ihrem neuen Projekt fest. »Wir sind mitten in der Wildnis«, hatte sie lachend gesagt, und Waverly hatte nicht verstanden, wie das zu Avas Job als Programmiererin passte. Aber sie wollte auch nicht, dass Ava sie so sah.

Und so vergingen die Tage, Wochen und Monate hinter Gittern, in denen es nicht einen Abend gab, an dem sie nicht das Versteck hinter dem herausgebrochenen Putz unter dem Waschbecken öffnete und das Kleinod herausholte, das ihre Mutter ihr kurz nach der Verurteilung bei einem ihrer ersten Besuche hatte übergeben dürfen: den Bernstein aus dem Museum in Weimar, den sie vor ihrer Verhaftung in weiser Voraussicht bei ihrer Mutter versteckt und den sie Wagner nicht herausgegeben hatte. In ihrer Hand fühlte er sich weich und glatt und ein bisschen warm an. Und auch wenn er es nicht wert war, dass man dafür ins Gefängnis ging, so war er doch das orange Licht am Horizont, das sich jede Gefangene laut der Gefängnispsychologin suchen sollte, um eine Perspektive für die Zeit nach der Haftentlassung zu haben. Nachts lag sie mit dem Bernstein in ihrer Faust auf der harten Pritsche ihrer Zelle. In ihrer Vorstellung pflanzte sie den Bernstein samt Samen ein, ganz so wie es die italienischen Mönche beschrieben hatten. In ihren Träumen wuchs eine Pflanze, stolzer, grüner und größer als alle Pflanzen, die sie je gesehen hatte. Doch dann verwandelte die Pflanze sich in die fleischfressende Pflanze aus Der kleine Horrorladen und verschlang sie, wobei sie stets aufwachte.

»Darf ich derweil eine Warnung aussprechen? Es darf unter keinen Umständen sprießen, denn es ist den Menschen und der Natur nicht so wohlgesinnt wie anderes Kraut«, hatte Goethe über die in den Bernsteinen gefangenen Samen an den Chinesen geschrieben. »Biohazard, Virus, Atomwaffe, Naturkatastrophe, Weltuntergang« hatte SCANDBOX auf Grundlage aller ihr bekannten Informationen als Synonyme für den Begriff der Urpflanze vorgeschlagen. Konnte es sein, dass Goethe die Pflanze in dem zweiten Bernstein, den er zu den Mönchen geschickt hatte, in den einsamen Bergen im entfernten China nicht vor der Welt versteckte, sondern die Welt vor der Pflanze? Der Gedanke passte nicht zu einer Pflanze, aber als Archäologin wusste sie, dass die Zeit auch unsere Blickwinkel veränderte. Und wenn es so war, wie passten Goethe, dieser Wagner, die Desperaten dort hinein? Wie passte alles zusammen? Fragen, die sie SCANDBOX in unbeobachteten Momenten nach ihren Computerkursen immer wieder über das Internet stellte, ohne befriedigende Antworten zu erhalten.