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Ava

Vancouver, August 2023

»Soll ich den Arzt holen?«

»Wie ich bereits sagte, es geht schon«, erwiderte Ava.

»Sie haben wirklich viele Verletzungen. Und auch ein kräftiges Schädel-Hirn-Trauma. Da kann schon einmal etwas durcheinandergehen.«

»Wollen Sie damit sagen, ich rede Unsinn?«

Die Polizistin schaute zu ihrem Kollegen, der neben ihr an Avas Bett saß. »Nein. Aber wie ich Ihnen gerade sagte: Ihren Freunden geht es gut. Ihre Familien hatten noch heute mit ihnen Kontakt.«

»Persönlich?«

»Per Videocall.«

»Das macht er. Schon einmal etwas von Deep Fake gehört?« Ava rückte im Bett noch ein Stück höher, sodass sie nun richtig saß. Von ihrem Arm führte ein Schlauch zu einem Tropf, an ihrer Brust klebten Elektroden, die ihre Vitalwerte maßen.

»Sie meinen diesen …« Sie schaute auf ihren Notizblock »Silva.«

Ava nickte. »Silva ist das lateinische Wort für Wald.«

Wieder nickte Ava. »Den Sie Bukwus nennen?«

»Das ist egal, das hätte ich nicht erzählen sollen. Alles, was zählt, ist, dass Silva gestoppt wird.«

»Der Wald?«

»So wie Sie es sagen, klingt es merkwürdig.«

»Wir haben die Stelle abgesucht, von der Sie uns erzählt haben, und keine Drohnen gefunden.«

»Weil seine Leute die Spuren beseitigt haben!«

»Die Waldleute?« Wieder tauschten die beiden Beamten Blicke aus.

»Wollen Sie denn nicht verstehen? Silva ist eine Gefahr für die Menschheit! Er wird nicht stoppen, bevor er sein Ziel erreicht hat.«

»Miss, vielleicht ist es wirklich sinnvoller, wir brechen dies hier ab und holen es später nach, wenn es Ihnen besser geht. Die Ärzte sagen, Sie stehen unter starken Medikamenten. Sie können froh sein, dass die Bauarbeiter sie dort gefunden haben! Es gibt dort draußen auch Bären, für die Sie ein gefundenes Fressen gewesen wären.«

»Ich weiß!«, schrie sie beinahe. »Ich habe doch erzählt, dass einer die Drohne zerstört hat!«

»Die Drohne, die Silva, der Wald, auf sie gehetzt hat?«

Ava schüttelte den Kopf, was hinter der Stirn schmerzte. In der Tat fühlte sie sich so, als stecke sie in einem Albtraum fest. Gleich nachdem sie wieder einigermaßen klar war, hatte sie danach verlangt, mit der Polizei zu sprechen. Und aufgrund der Tatsache, dass die Bauarbeiter sie schwer verletzt und besinnungslos am Rande der Baustelle zur Mainline gefunden und nach Edmonton gebracht hatten und sie von dort mit dem Rettungshubschrauber nach Vancouver geflogen worden war, hatte man auch bei der Polizei das Bedürfnis gehabt, mit ihr zu sprechen.

Ava spürte Wut in sich aufsteigen. »Es ist, weil ich indigener Abstammung bin, oder?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf.

»Es ist ja allgemein bekannt, dass die Polizei den Straftaten an der indigenen Bevölkerung nicht mit derselben Intensität nachgeht wie bei den Weißen. Was redet die Wilde da, denken Sie, oder? Von Bukwus und Silva. Bloß eine verwirrte Indigene!«

»Miss, bitte mäßigen Sie sich«, mischte der Polizist sich erstmals ein. »Passen Sie bitte auf, was Sie sagen.«

Seine Kollegin deutete ihm an, ruhig zu bleiben. Er erhob sich und verließ das Zimmer.

»Ich verstehe Ihre Verzweiflung. Irgendjemand hat Ihnen all das angetan. Ich habe mir notiert, dass Sie in einer Hütte im Wald überfallen worden sind … Ich glaube Ihnen, dass Sie Traumatisches durchgemacht haben.«

»Gerätehaus Nummer drei! Und es war kein Überfall! Ich habe mich versteckt!«

»Wie dem auch sei, Miss, wir werden das alles aufklären. Sie erholen sich jetzt erst einmal. Und wenn die Ärzte uns sagen, dass Sie wieder vernehmungsfähig sind, dann kommen wir wieder. Und dabei spielt es keine Rolle, dass Sie indigener Abstammung sind. Für uns sind alle Menschen gleich.«

Die Tür wurde geöffnet, und der Polizist kehrte mit einer Schwester zurück.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte diese besorgt, während sie den Infusionsbeutel wechselte.

»Mir geht es hervorragend«, sagte Ava. »Wenn Sie den beiden hier vielleicht einmal erklären würden, dass mit meinem Kopf alles in Ordnung ist und ich keinen Unsinn rede.«

Die Schwester lächelte verständnisvoll, während sich nun auch die Polizistin erhob. Ava spürte, wie sie plötzlich eine große Müdigkeit überfiel. »Was zum Teufel …?«

»Ich habe Ihnen noch einmal etwas zum Ausruhen gegeben«, sagte die Schwester und strich ihr über den Arm.

»Nein, ich will das nicht …«, brachte Ava noch hervor, dann schlief sie ein.