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Holland

Schanghai, 19 . August 2023

»Sie können jetzt zu ihr!«

Holland und Li erhoben sich von den Wartestühlen und folgten der jungen Frau in das Hinterzimmer. Im Halbdunkel des Raumes sah Holland ein Bett, davor stand eine ältere Frau, die kaum größer war als einen Meter fünfzig.

»Mama Chen«, sagte Li, nahm deren Hände und drückte sie sanft gegen ihre Stirn. Die Frau strich ihr über die Haare und wandte sich an Holland. Sie sagte etwas auf Chinesisch und wirkte dabei streng und ärgerlich. »Mama Chen fragt, ob Sie sie so zugerichtet haben«, übersetzte Li und antwortete für ihn, bevor er etwas sagen konnte. Das Gesicht der alten Frau nahm einen milderen Gesichtsausdruck an.

»Sie war in einem schlimmen Zustand«, übersetzte Li weiter. Die Dame drehte sich zum Bett, wo Holland nun im gesiebten Licht der Jalousien erstmals Gretas Gesicht sah. Die Schläfe war verbunden, unter dem Verband erkannte er ein Bündel Kräuter. Sie hatte die Augen geschlossen. »Sie muss sechs Tage liegen, aber sie wird es überleben!«, übersetzte Li weiter.

»Kann ich mit ihr sprechen?«, fragte Holland und schaute erneut auf Greta.

Mama Chen nickte und zeigte ihre Hand mit den gespreizten Fingern. »Fünf Minuten«, sagte Li.

Holland setzte sich an das Bett. Die Matratze war weich und gab nach. Es war ein kleiner, stickiger Raum mit nur einem Fenster, in der Luft lag der Duft ätherischer Öle. Auf dem Nachttisch sah er allerlei Tinkturen und Pillendöschen stehen. Die chinesische Medizin war berühmt für ihre Heilmethoden.

Chen und Li verließen den Raum, ohne dass Holland sie darum bitten musste. Er griff nach Gretas Hand und streichelte sie sanft. Es dauerte eine Weile, bis sie die Augen öffnete.

»Hallo«, sagte sie. Man sah, dass das Lächeln ihr schwerfiel.

»Hey!«

»Was ist passiert?«

»Du weißt es nicht mehr?«

»Das Letzte, was ich erinnere, ist, dass wir im Büro waren und mit diesem, wie hieß er …?«

»Silva.«

»Genau! Wir haben mit Silva gesprochen. Und dann wollte Taylor Foo uns umbringen …«

»Es gab eine Explosion«, sagte er.

»Eine Explosion?«

»Dummerweise habe ich beim Betreten der Halle einen Sack mit Dünger zu nahe an eine der Pflanzenlampen geschoben. Das hat zusammen mit den Isopren-Ausgasungen der Pflanzen eine Katastrophe ausgelöst.«

Greta deutete erneut ein Lächeln an. Jeder Botaniker wusste von der Brand- und Explosionsgefahr, die von Dünger ausging.

»Du wurdest durch die Druckwelle verletzt, und das tut mir unendlich leid. Ich habe dich dann nach draußen getragen und hier ins … Krankenhaus gebracht.«

»Du hast mich getragen?« Sie verzog das Gesicht, offenbar hatte sie irgendwo Schmerzen.

»Du wiegst ja fast nichts«, sagte er und lächelte. Einen Moment schwiegen beide, und sie schloss die Augen. Er spürte, wie sich eine riesengroße Erleichterung in ihm ausbreitete. Greta war ihm in den vergangenen Tagen mehr ans Herz gewachsen, als er es sich hatte eingestehen wollen.

Er glaubte schon, dass sie wieder eingeschlafen war, als sie leise »Danke« sagte.

»Ich würde sagen, es steht eins zu eins.«

»Was ist mit Foo und den anderen Männern?«

»Die hatten weniger Glück«, fasste er das Geschehen knapp zusammen. Er hielt es für besser, Li aus der Sache herauszuhalten.

Greta nickte nur.

»Wer ist dieser Silva?«, fragte sie nach einer Weile.

»Das müssen wir herausfinden. Ich denke, er ist nicht hier in China, sonst hätte er persönlich mit uns gesprochen und nicht diese Nummer mit dem Laptop abgezogen.«

Noch hatte er nicht viel Zeit gehabt, über das Gespräch mit Silva nachzudenken. Dieser hatte die Verteilung der Samen dieser todbringenden Pflanze mit seinen Thesen verteidigt. Sich als verlängerter Arm seiner Vision von einer Welt bezeichnet, in der Pflanzen mehr Macht haben. Ihm war, als habe Silva ihm einen Spiegel vorgehalten, und das, was er darin gesehen hatte, hatte ihm nicht gefallen. Wenn man ehrlich war, hatte Silva die zugegebenermaßen etwas provokanten Thesen seines Buches mit dem Untertitel »Pflanzen sind die wahren Herrscher« nur zu Ende gedacht.

Plötzlich begann Greta laut zu schluchzen.

»Er ist tot«, sagte sie. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie Mortensen meinte. Sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, darüber zu sprechen.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Die Polizei glaubt, es sei ein Eifersuchtsdrama. Ein erweiterter Suizid, bei dem er erst seine Mitarbeiterin und dann sich selbst erschossen hat. Angeblich hatten sie ein Verhältnis.« Ihre Stimme stockte.

»Und kann das sein?«

»Das mit dem Verhältnis ja, erweiterter Selbstmord niemals.«

Holland nickte stumm und versuchte zu verstehen, was Greta gerade gesagt hatte.

»Er hat dich also betrogen?«

»Er war zu eitel für nur eine Frau.«

In Hollands Kopf tauchten eine Menge Fragen auf, aber es war nicht der richtige Augenblick, sie zu stellen.

»Er hat dich für verdächtig gehalten«, fuhr Greta fort.

»Für verdächtig?«

»Wegen deines Artikels im International Journalof Botany Studies . Du hast darin das Szenario einer Invasion gefährlicher Pflanzen genau so vorhergesagt, wie es jetzt gekommen ist. Wie ich schon sagte: Selbst die Pflanze, die du in dem Artikel erdacht hast, ähnelt der Assassina incognita. Edgar hatte mir den Artikel gezeigt, und er meinte, dass es aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse unmöglich war, dass du das so genau vorhersagst. Er meinte, du seist entweder ein Zeitreisender oder hättest die Invasion von Assassina incognita mit initiiert, wie auch immer.«

»Mit initiiert?« Holland konnte nicht glauben, was er da hörte.

»Edgar hat versucht, auch Smith davon zu überzeugen, aber ohne Erfolg. Wie viele hochintelligente Menschen sah Edgar manchmal Gespenster, wo keine waren.«

Er ließ ihre Hand los. »Und du? Was hast du geglaubt?«

Sie drehte langsam den Kopf zu ihm. »Ich habe deine Bücher gelesen und Lesungen von dir auf YouTube angeschaut, bevor wir uns kennengelernt haben. Mir war immer klar, dass du ein guter Mensch bist und deshalb die Pflanzen liebst.«

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Mama Chen trat ein. Von draußen drangen aufgeregte Stimmen zu ihnen. Hinter der alten Chinesin erschien Lis Gesicht.

»Sie kommen besser einmal raus!«, sagte sie zu ihm. An ihrer Miene sah er, dass etwas nicht stimmte. Er beugte sich zu Greta, gab ihr einen Kuss und drängte sich an Mama Chen vorbei. In diesem Augenblick fühlte er erneut eine große Erschöpfung in sich aufsteigen. Eine Erschöpfung, die über die Anstrengungen der vergangenen Tage hinausging. Der Mönch in Jiuhuajie hatte recht gehabt. Er trug eine riesige Last mit sich herum, und das bereits seit Jahren, seit dem Tod seiner Frau. Der Mönch hatte ihn davor gewarnt, dass er irgendwann in die Knie gehen würde, und in diesem Moment fühlten sich seine Knie unendlich weich an. Er hatte eine Sehnsucht danach, für Wochen zu schlafen. Einfach davonzugehen und alles hinter sich zu lassen. »Mr Holland?«, hörte er eine Stimme vor sich, als er wieder in den Warteraum der Tierklinik trat, in dem drei Männer standen, wovon einer der Sonnenblumenkerne knackende Polizist war, der ihn nach dem Tod des Studenten verhört hatte. »Guten Abend, Mr Holland. Ich hatte gehofft, dass wir uns nie wieder sehen.«