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Ava

Vancouver, August 2023

»Kann ich das einmal benutzen?« Ava zeigte auf das große Mobilfunkgerät in der Brusttasche der Krankenschwester.

Die blickte an ihrer Schwesterntracht hinab und wurde rot. »Entschuldigung, wir dürfen es im Dienst gar nicht bei uns tragen. Ich habe es nach der Pause vergessen.«

»Das macht nichts, ich möchte nur einmal kurz meine E-Mails checken.«

Die Schwester zögerte.

»Bitte, zwei Minuten. Sie bekommen auch die Pralinen.« Ava zeigte auf den Karton mit Süßigkeiten, ein Geschenk des Krankenhauses.

»Ich möchte versuchen, meine Mutter zu erreichen«, log sie. »Sie weiß nicht, dass ich hier bin, wir hatten lange keinen Kontakt!«

Die Schwester zögerte, griff dann in ihre Brusttasche, entsperrte das Handy und gab es ihr. »Fünf Minuten, ich gehe raus und passe auf, dass keiner kommt.«

»Danke«, sagte Ava. Es war ein neues Handy mit großem Display. Als Erstes gab sie den Namen des Waldgebiets beim Wood-Buffalo-Nationalpark ein und checkte die Suchergebnisse, fand aber nichts Spektakuläres außer den Berichten zu den jahrelangen Streitigkeiten rund um die Teersandmine. Das Abbaugebiet des sogenannten Öl- oder auch Teersandes erstreckte sich mitten in Alberta über fast hundertfünfzigtausend Quadratkilometer, eine Fläche so groß wie England. Ölsand war eine Vorstufe des Erdöls, eine Mischung aus Sand, Öl und Schwefel. Zunächst musste man die darüberliegenden Urwälder roden. Danach konnte man das Ölgemisch fördern und mithilfe von Dampf in seine Bestandteile zerlegen. Sand, Ton, unerwünschte Stoffe wurden abgetrennt, das gewonnene Öl schließlich zur Veredelung über Hunderte Kilometer lange Pipelines in die USA gepumpt. An der Mündung des Athabasca River waren so bereits in der einst dicht bewaldeten und unberührten Natur riesige Kraterlandschaften aus giftigem Schlamm entstanden, das Ökosystem auf den Kopf gestellt. Als die ersten Krater an den Wald herangerückt waren und die Ölgesellschaft, angeblich versehentlich, einige Bäume aus Silvas Revier gefällt hatte, war Silva eskaliert. Für sie war jener Tag der Auslöser gewesen, an dem Silvas Verhalten sich grundlegend geändert hatte. Doch danach hatte sie nicht gesucht. Sie suchte nach unbekannten Toten oder nicht identifizierten Leichen, die in Alberta aufgefunden worden waren, nach Spuren, die Silvas Söldner hinterlassen haben mussten. Doch sie fand nichts. Gerade wollte sie ihren E-Mail-Account aufrufen, als sie die Hauptüberschrift entdeckte: »Mysteriöse Pflanze breitet sich auch in Kanada aus. Erste Landstriche unter Quarantäne. Regierung ruft Notstand aus.« Sie überflog den Text und blieb an einer Passage hängen. »Erste Nachforschungen hatten ergeben, dass die Samen von einem kleinen Postamt in Hangzhou in der Provinz Zhejiang in China versendet worden sind.« Ihr Atem stockte. Der Ort kam ihr bekannt vor. Hatte Silva nicht dorthin Geld überwiesen? Diesmal keine Bitcoins, was bereits ungewöhnlich war, aber nicht jeder Empfänger verfügte über ein entsprechendes Wallet, um mit Kryptowährung zu handeln. Sie war quasi für die Buchhaltung verantwortlich gewesen, hatte die Ausgaben kontrolliert, bis Silva ihr von einem Tag auf den anderen den Zugang gesperrt hatte. Sie hatte ein schlechtes Namensgedächtnis, konnte sich aber eine Zahl bis auf hundert Stellen merken. Sie öffnete Google und suchte nach dem Postcode von Hangzhou: 310000 . Der war es. Silva hatte sogar mit jemandem in Hangzhou korrespondiert, allerdings auf Chinesisch, sodass sie kein Wort verstanden hatte. Sie las den Artikel noch einmal, dann öffnete sich die Tür, und die Schwester steckte den Kopf hinein. »Fertig?«, fragte sie.

»Eine Sekunde!«, bat Ava und öffnete den Browser und dann ihr Postfach.

»Eine Minute! Aber wirklich!« Widerwillig schloss die Schwester die Tür hinter sich.

Ava checkte erstmals seit Tagen wieder ihre E-Mails, seit Silva sie vom Netz getrennt und die Söldner ihr Handy weggenommen hatten. Sie hatte aus dem Gerätehaus an Waverly all die Beweise gegen Silva versendet und wollte schauen, ob sie darauf geantwortet hatte. Doch sie schien die E-Mail noch nicht gesehen zu haben. Gerade versuchte sie, mit ihrer Enttäuschung klarzukommen, als sie eine ältere Nachricht von Waverly entdeckte, die Wave ihr vor einer guten Woche geschrieben hatte. Sie öffnete sie. »Wo bist du?!?!?!?! Kann dich nirgends erreichen. Ich mache mir Sorgen. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Habe ein großes Problem. Bitte melde dich möglichst bald. Gruß Wave.«

Sie überlegte zu antworten, dann öffnete sie die Telefonfunktion und wählte stattdessen Waverlys Nummer in Deutschland. Sie ließ es lange klingeln, dann rief sie auf ihrem Handy an. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Schwester kam zum Bett geeilt, riss ihr das Telefon aus der Hand und steckte es in die Tasche ihres Schwesternkittels. »Die Visite kommt!«, flüsterte sie und schaute mit roten Wangen zur Tür.

Ava starrte an ihr vorbei ins Leere und wusste plötzlich, was sie zu tun hatte: Sie musste zu Waverly nach Deutschland fliegen, am besten noch heute.