Holland
Holland saß auf der Rückbank eines Polizeifahrzeuges, neben ihm der Polizist, der schon wieder Kerne knackte. Es war bereits nach Mitternacht. Holland fühlte sich wie gerädert. Hände und Gesicht waren noch immer gerötet von der Flucht durch die Pflanzen. Dazu begleitete ihn ein andauernder Hustenreiz, den er versuchte, zu unterdrücken. Er wusste nicht, ob vom Rauch oder den Pflanzen. Nach dem Einsteigen hatte er gefragt, wohin man ihn brachte, aber der Polizist hatte nicht darauf geantwortet.
»Sagt Ihnen der Name Taylor Foo etwas?«, fragte der Polizist.
Holland zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten.
»Wir haben ihn tot aufgefunden. So wie es aussieht, wurde er überfahren – mitten in einer Lagerhalle.«
Holland tat weiter ahnungslos.
»In der Lagerhalle hat es außerdem gebrannt, aber die Sprinkleranlage hat das Feuer gelöscht. Wir haben dort Hunderte der Killerpflanzen gefunden. Wissen Sie irgendetwas davon?«
Er verneinte.
»Mr Foo war hier in Schanghai ein bedeutender Mann. Derjenige, der ihn getötet hat, steckt in großen Schwierigkeiten.«
»Ich habe ihn nicht überfahren«, sagte Holland. Und dies war die Wahrheit.
»Ich weiß, dass Sie in der Lagerhalle waren und mit Taylor Foo gesprochen haben.«
Holland zögerte. Er wusste nicht, ob sein Sitznachbar nur bluffte. Dann traf er eine Entscheidung.
»Taylor Foo hat Pan Sun getötet, den Studenten aus dem Botanischen Garten.«
»Woher wissen Sie das?«
»Pans Schwester hat es mit angesehen. Sie hat es mir erzählt.«
»Und nun ist er selbst überfahren worden. Welch ein Zufall!«
»Ich würde eher sagen, Karma!«
Holland überlegte, ob er damit schon zu viel gesagt hatte.
»Wie heißen Sie?«
»Zheng Long.«
»Und was unternehmen Sie nun wegen der Pflanzen? Wie ich gehört habe, verbreiten sie sich mittlerweile auch hier. Das wollen Sie wohl kaum abstreiten, oder?«
»Sie stammen nicht von hier, sondern wurden illegal ins Land gebracht. Wir versuchen derzeit noch herauszufinden, wie sie hierhergekommen sind.«
Holland dachte an das Gespräch mit den Mönchen. »Jedenfalls wurden die Samen von hier in alle Welt verschickt.«
»Die Halle, in der die Pflanzen verbrannt sind, wurde von jemandem aus dem Ausland angemietet.«
»Aus dem Ausland?«
»Aber unter dem Namen ist nichts zu finden, und die Adresse liegt irgendwo im kanadischen Nirgendwo. Dort ist nur Wald.«
»Kanada?« Holland runzelte die Stirn. »Wie lautet der Name des Mieters?«
Long lächelte und schob sich statt einer Antwort einen Kern in den Mund. »Sagen Sie es mir«, erwiderte er dann.
»Silva?«
Das Lächeln verschwand. »Kennen Sie ihn?«
Kennen wäre übertrieben, dachte er. »Nein, aber der Name taucht immer wieder im Zusammenhang mit den Pflanzen auf.«
Holland schaute aus dem Fenster. »Wo fahren wir hin?«
»Pan Sun arbeitete auch in der Lagerhalle. Er erhielt seinen Lohn aus derselben Quelle im Ausland, die auch die Miete für die Halle bezahlt hat. Die Pflanzen in der Lagerhalle sind weitestgehend verbrannt, den Rest werden wir vernichten.«
»Und die Pflanzen in der Natur?«
Long zuckte mit den Achseln. »Das ist Sache des Landwirtschaftsministeriums.« Er stockte kurz. »Das Hauptproblem scheint zu sein, dass die Pollen …« Er nannte einen chinesischen Begriff und schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust.
»Asthma«, sagte Holland.
Er nickte. »Die Krankenhäuser sind voll. Sie haben sogar die Notbetten von der Covid-Krise wieder aufgebaut.« Der Gesichtsausdruck von Long verdunkelte sich. »Im Ministerium haben sie gesagt, wenn die Pflanze nicht geht, drohen wieder Lockdowns. Bis alle Pflanzen vernichtet sind. Erste Provinzen sind bereits abgeriegelt, damit die Pollen nicht verschleppt werden.«
»Sie kommen über die Luft«, entgegnete Holland.
Long hatte erstmals aufgehört, Kerne zu knacken, und schaute auf den Fahrer. Dann lehnte er sich zu Holland und fragte leise: »Sie sagten, Sie sind Botaniker. Wissen Sie, wie man diese Pflanze aufhalten kann?«
Holland dachte an den Mönch in Jiuhuajie, der von Waverlys Besuch im Kloster erzählt und berichtet hatte, dass sie ihm gegenüber behauptet hatte, zu wissen, wie man die Pflanze stoppte. Hatte sie ihn deswegen in Portland sprechen wollen? Und war sie deshalb von Dechambeau erschossen worden, der dies hatte verhindern wollen?
»Ich weiß nicht, wie man die Pflanze stoppen kann, aber ich kenne eine Frau, die es vielleicht weiß.«
»Und wo ist das Problem?«, fragte sein Begleiter.
Das Problem ist, dass Waverly Park tot ist und es mir nicht mehr erzählen kann. Und dass ich in einem chinesischen Polizeifahrzeug sitze, auf dem Weg wohin auch immer, dachte er, aber sagte es nicht laut. Plötzlich hatte er eine Idee.
»Ich habe nur ihren Namen. Haben Sie die Möglichkeit, auch außerhalb von China Adressen zu recherchieren?« Er wusste nicht, wie weit die Datenbanken der chinesischen Behörden reichten. Aber die Adresse einer Person in Deutschland herauszufinden sollte doch möglich sein.
Long zückte sein Mobilfunkgerät, rief eine App auf und gab es Holland. »Geben Sie einfach den Namen ein.« Er tippte den Namen von Waverly Park ein. Der Polizist las, nahm das Handy, gab seinerseits etwas ein, runzelte die Stirn. »Der Computer sucht«, sagte er dann und legte das Handy zwischen sie. Holland schaute hinaus, sah hinter einem Zaun parkende Flugzeuge.
»Wir fahren zum Flughafen?«, fragte er. »Was ist mit meinem Gepäck?«
»Im Kofferraum.«
Wieder sah Long zum Fahrer, der den Kopf leicht im Rhythmus der Musik bewegte und sich für ihre Unterhaltung nicht zu interessieren schien, vermutlich verstand er noch nicht einmal Englisch.
»Meine Eltern haben eine Farm. Sie züchten Sonnenblumen, oben in Jiyuan in der Provinz Henan.« Hollands Blick fiel auf die Tüte mit den Kernen. Offenbar war er immer noch deren bester Kunde. »Vor vielleicht zwei Monaten fand einer der Arbeiter eine Pflanze am Rande der Felder, wo ein kleiner Bach verläuft, den wir zum Bewässern nutzen. Da er ein solches Gewächs noch nie zuvor gesehen hatte, schnitt er einen Trieb ab und brachte ihn nach Hause, um ihn meinem Vater zu zeigen.« Holland ahnte, wie die Geschichte weiterging. »Der Arbeiter erlitt dabei so schwere Verbrennungen an den Armen und im Gesicht, dass er ins Krankenhaus musste. Mein Vater verbrannte die Pflanze hinter dem Haus und befahl, sie zu vernichten, wo man sie sah. Doch es war zu spät: Sie hatte sich bereits zu stark ausgesät. Die Setzlinge waren überall, und es schien so, als hätte die Pflanze unterirdische Vernetzungen in Form weißer Fäden entwickelt. Bald starben die ersten Sonnenblumen, und dort, wo sie auf den Feldern wuchsen, breiteten sich jetzt die Pflanzen aus. Mein Vater suchte Hilfe bei dem örtlichen Landhandel, beim Agrarministerium und sogar beim Parteibüro. Doch niemand konnte helfen. Heute ist bereits ein Drittel der Farm verloren. Meine Mutter musste sich wegen Asthma im Krankenhaus behandeln lassen, mein Vater hat eine schlimme Nesselsucht. Die Hündin meiner Eltern verletzte sich an einer der Dornen und lahmt seitdem. Die meisten der Arbeiter aus der Mongolei haben die Farm verlassen; bald werden meine Eltern sie aufgeben müssen, wenn nicht jemand einen Weg findet, diese Pflanzen loszuwerden.«
»Das tut mir leid«, sagte Holland.
»Und Sie sagen, diese Waverly Park weiß, wie man die Pflanze bekämpft?«
»Sie war vor einigen Monaten hier in China, oben bei den Mönchen in Jiuhuajie. Und da hat sie es zumindest behauptet.« Dass sie tot war, verschwieg er weiterhin.
Das Handy neben Long gab einen Ton von sich. Er nahm es und zeigte Holland das Display, der versuchte, sich die Adresse, die es anzeigte, einzuprägen. Waverly Park wohnte in der Leipziger Straße in Berlin. Nicht weit entfernt von seinem Zuhause.
Der Wagen hielt vor einem der Terminals.
»Wohin fliege ich eigentlich?«, fragte Holland.
»Das können Sie sich aussuchen«, sagte Long, während der Fahrer ausgestiegen war und ihm die Tür öffnete.
»Dann Berlin«, entschied Holland, als sie am Kofferraum des Autos standen und er sein Gepäck in Empfang nahm. »Was ist mit meiner Kollegin?« Die Tatsache, dass er Greta zurücklassen sollte, bereitete ihm schon die ganze Fahrt über ein flaues Gefühl im Magen.
»Sie fliegt, sobald sie kann. Das verspreche ich Ihnen.« Mehr war in ihrem Zustand nicht möglich, das sah er ein.
»Die weißen Fäden, von denen Sie mir berichtet haben. Können Sie mir ein Foto davon schicken? Ich gebe Ihnen meine Handynummer.«
»Nicht nötig«, sagte Long. »Die habe ich.«
Holland wunderte sich nicht.
»Glauben Sie, man kann die Pflanze noch stoppen?«, fragte Long.
»Ich werde es herausbekommen.«
»Nehmen Sie das, für den Flug«, sagte Long und steckte ihm eine Tüte mit Sonnenblumenkernen zu.