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Waverly

Berlin, März 2023

Sie hatte wieder begonnen, in der Ehrbar zu kellnern. Man hatte sie mit offenen Armen empfangen. Niemand dort fragte, wo sie gewesen war. Und auch als sie ihrer Chefin hinter der Bar von dem Gefängnisaufenthalt erzählte, störte es sie nicht. »Barkeeper sind die besten Menschenkenner, und du bist unschuldig«, hatte ihre Chefin nur gesagt, und sie damit zu Tränen gerührt.

Von dem Geld leistete sie sich eine kleine Einzimmerwohnung in der Leipziger Straße. Für ihr Comeback als Archäologin wollte sie sich noch etwas Zeit lassen, aber nicht für ihr Comeback als Botanikerin. Sie hatte sich fest vorgenommen, den Samen aus dem Bernstein zum Keimen zu bringen. Zunächst hatte sie nach Methoden gesucht, Einschlüsse aus Bernsteinen zu befreien, aber außer einer obskuren Beschreibung eines Alchemisten aus dem Mittelalter keine gefunden. Sodann hatte sie die Aufzeichnungen der Mönche noch einmal studiert und dazu entgegen Avas Warnung SCANDBOX genutzt. Sie hatte die alten Briefe und Dokumente nur dort gespeichert, und was sollte schon passieren? Nach den Berichten der Glaubensbrüder hatten diese den Bernstein im 18 . Jahrhundert auf der Flucht vor den angreifenden Türken vergraben, und der eingeschlossene Samen war gekeimt und hatte dabei den Bernstein zum Bersten gebracht. Wenn sie den Bernstein in ihrer Hand betrachtete, eine unglaubliche Vorstellung. Aber sie kaufte einen Topf mit dem besten Pflanzsubstrat, das sie finden konnte, düngte die Erde zusätzlich mit Guano und hielt alles schön feucht. Ihre Wohnung stank bestialisch nach Vogelkot. Sie wartete Tage, sogar zwei Wochen, während deren sie beinahe vor Ungeduld platzte, und brach das Experiment dann ab. Sie las die Berichte erneut, kaufte weitere Erde mit anderen Nährstoffen, anderem Dünger, hielt die Erde trocken, weil sie gelesen hatte, dass ausgetrockneter Bernstein leichter Risse bekam. Wieder wartete sie Tage und am Ende eine ganze Woche, ohne dass etwas geschah. Warum keimte der Bernstein im Gemüsebeet hinter dem Kloster von Monreale, aber nicht in ihrem Topf in der Leipziger Straße in Berlin? Schließlich erwachte die Archäobotanikerin in ihr, die während der vielen Jahre im Gefängnis eingeschlafen war. Sie besorgte sich über das Internet Berichte und Studien über die Bodenqualität in Sizilien. Den regelmäßigen Ausbrüchen des Ätna sei Dank, wiesen die Böden dort eine besondere Fruchtbarkeit auf. Die Asche und Lava des Vulkans enthielten besonders viel Phosphor, Kalium, Calcium, Eisen und Kalk. Dies wirkte auf viele Pflanzen wie ein Wachstumsbooster. Doch Monreale lag auf der anderen Seite der Insel, weit weg vom Vulkan. Sie durchforstete Berichte der Mönche von Monreale, begann hundert Jahre vor dem Vorfall mit den Türken. SCANDBOX übersetzte ihr die italienischsprachigen Texte ins Deutsche, und sie las so lange, bis sie auf den Bericht eines Abtes stieß, der sich Bruder Enzo nannte und berichtete, wie die Karren mit der Vulkanasche aus Catania im Kloster eingetroffen waren. Über das Internet fand sie mithilfe von SCANDBOX Seiten, auf denen original Vulkanasche vom Ätna angeboten wurde, und kaufte einen kleinen Beutel davon. Sie pflanzte den Bernstein in Vulkanasche, hielt sie feucht und wartete. Am zweiten Tag vernahm sie ein Geräusch aus der Erde, am dritten Tag begann diese sich zu bewegen, und am vierten Tag stieß der Spross durch. Sie verspürte ein Glücksgefühl wie seit Jahren nicht mehr und genehmigte sich auf den Erfolg einen Gin Tonic. In der Folge wuchs die Pflanze bis zu zehn Zentimeter am Tag, was sie mit der Fotofunktion ihres Mobilfunkgeräts genau dokumentierte. Wenn sie nicht arbeitete und nachts aufschreckte, weil sie sich wieder in ihrer Gefängniszelle wähnte, saß sie oft vor dem Blumentopf und sah der Pflanze beim Wachsen zu. Es war ein schöner Stängel, dick, in sattem Grün, und wenn man das junge Pflänzlein betrachtete, konnte man nicht glauben, dass es gefährlich sein sollte. Aber sie hatte die Berichte gelesen und die von den Mönchen gezeichneten Bilder gesehen, und so begann sie sich damit zu beschäftigen, wie sie die Pflanze töten konnte. Sie hoffte, dass sie selbstbefruchtend war, denn sie hatte vor, ein Dutzend der Pflanzen großzuziehen, damit sie damit experimentieren konnte. Als die Pflanze zu blühen begann, bekam sie zum ersten Mal gesundheitliche Probleme. Sie erwachte mit Schnupfen, ihre Augen tränten, und abends vor dem Einschlafen rasselte es in ihren Bronchien. Sie überlegte und verfrachtete dann die Pflanze in ihre Badewanne. Dann kaufte sie am nächsten Tag Folie. Dazu erwarb sie zwei Pflanzenlichter, eine Rolle Panzertape und ein Paket mit FFP -Masken. Sie werkelte den ganzen Tag, und am Ende war aus ihrer Badewanne eine Art Gewächshaus geworden. Ihre Beschwerden gingen zurück, und nach einer Woche war sie sich sicher, dass ihre Konstruktion hielt. Zu ihrer Enttäuschung war die Pflanze nicht selbstbefruchtend. Somit brauchte es mindestens zwei Exemplare zur Fortpflanzung, sie hatte nur eine.

Ihr fiel der zweite Bernstein mit dem Samen wieder ein, den Goethe nach China geschafft hatte. Sie schaute in SCANDBOX , las den von ihr dort archivierten Briefwechsel zwischen Goethe und dem Mönch, den der Professor ihr in Goethes Wohnhaus gegeben hatte. »Händigt demjenigen den Bernstein aus, der sich als mein Ordensbruder der Erleuchteten auszuweisen vermag, oder dem, der die zweite Hälfte des einen Blattes bei sich führt, welches ich diesem Brief beilege. So ist es eins und doppelt!«, las sie und spürte, wie ihre Hände zu kribbeln begannen. Sie schlug den Gedichtband auf, las das Gedicht über den Ginkgo und rief gleich danach ihre Mutter an, in deren Wohnzimmer noch immer das eingerahmte, getrocknete Blatt hing, das sie in jener Nacht im Museum hatte mitgehen lassen und das sie am liebsten vergessen hätte. Nun war sie plötzlich froh darüber, dass sie es mitgenommen hatte und es nicht mit all den anderen Sachen Goethes verbrannt war. Offenbar war dieses getrocknete Blatt der Schlüssel. Sie betrachtete es als Vorsehung, sie musste nach China. Fand sie dort tatsächlich den Bernstein mit dem zweiten Samen, standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass er ein anderes Geschlecht hatte als die Pflanze, die sie großgezogen hatte. Dann könnte sie versuchen, weitere Pflanzen zu züchten, die Pflanze zu vermehren. So musste sie jederzeit befürchten, dass die Pflanze ihr einging. Das Hunderte Millionen Jahre alte Gewächs für immer vernichtet wurde. Zudem brauchte sie mehrere Exemplare, wollte sie damit experimentieren. Eines Abends, als ihr die Enge des Zimmers wieder einmal Angst bereitete und die vier Wände ihres Apartments langsam auf sie zuzukommen schienen, beschloss sie, nach China zu reisen. Es musste eine gut geplante, kurze Reise sein, da sie noch unter Bewährung stand und sich regelmäßig bei ihrem Bewährungshelfer melden musste. Sie brauchte Geld für die Flugtickets und legte Extraschichten in der Bar ein. Sie plante alles bis ins Detail. Sie ging nicht davon aus, dass sie auf irgendeiner Liste stand und am Flughafen ein Alarm losgehen würde, wenn sie versuchte, auszureisen. Und so war es auch. Als sie endlich flog, hielt sie niemand auf. Nicht am Flughafen in Berlin, nicht beim Umsteigen in Dubai und auch nicht bei der Ankunft in Schanghai. Sie hatte sich sogar ein Touristenvisum besorgt. Die Reise zum Kloster war aufregend und anstrengend zugleich. Sie hatte das getrocknete Blatt in den Gedichtband von Goethe gelegt, den sie aus der Gefängnisbibliothek entliehen und den ihr die Leiterin beim Abschied aus dem Gefängnis geschenkt hatte. So hatte sie es problemlos nach China bringen können. Auf dem Flug las sie in dem Band, Goethes Gedichte beruhigten sie, einige kannte sie bereits auswendig. Der Aufenthalt in China war kurz, intensiv, berauschend und – enttäuschend. Sie fand das Kloster, wurde von den unendlich geduldigen Mönchen angehört, aber musste zu ihrem Schrecken erfahren, dass der Bernstein mit dem Samen, den der Mönch »die Seele des Tigers« nannte, bereits von jemand anderem abgeholt worden war. Zweihundert Jahre waren sie dort verwahrt worden, und dann kam sie nur ein paar Monate zu spät. Sie versuchte, ihre Enttäuschung vor dem Mann zu verbergen, da sie es unangemessen fand, einen buddhistischen Mönch mit negativen Gefühlen zu belasten. Aber sie spürte einen unendlichen Abgrund. Sie hatte wieder einmal alles riskiert und nichts gewonnen. Sie fragte danach, wer den Samen abgeholt hatte, aber erhielt keine Antwort. Sie beschrieb Wagner, doch an der Reaktion des Mönchs sah sie, dass er es nicht gewesen war.

Ob sie wisse, dass die Pflanze böse sei, hatte der Mönch sie noch gefragt, als wollte er ihre Enttäuschung durch ein freundliches Gespräch abmildern.

Ja, sie wisse es, hatte sie geantwortet und angefügt, sie wisse auch, wie man sie bekämpfe. Das war nicht die Wahrheit, aber auch nicht ganz gelogen. Wenn man ihr den Namen desjenigen verraten würde, der den Samen abgeholt hatte, könne sie ihn warnen und ihm helfen, die Pflanze im Zaum zu halten. Dies war ihr letzter Versuch gewesen, an den Namen zu gelangen. Doch die Mönche schwiegen. Tatsächlich hatte sie durchaus eine Idee, wie man der Pflanze beikommen konnte. Es war nur ein zarter Funken, und es klang absurd. Auch als sie kaum mehr als vierundfünfzig Stunden nach ihrem Aufbruch wieder in Berlin landete, hielt sie keiner auf.

Zu Hause angekommen, erschöpft von dem Kraftakt und der Zeitverschiebung, fand sie die Tür zu ihrem Apartment aufgebrochen vor. Von der Tür bis ins Badezimmer führte eine Spur aus Erdbröckchen.

Der große schwere Tontopf, in dem sie die Pflanze in ihrer Badewanne aufgezogen hatte, war umgekippt, die Pflanze offenbar aus der Erde herausgerissen und gestohlen worden. Hatte sie gehofft, nach ihrer Reise nach China über zwei Pflanzen zu verfügen, besaß sie nun nicht mehr eine einzige.