Holland
Waverly Parks Apartment konnte warten.
Er saß mit der jungen Frau, die er auf der Tischtennisplatte entdeckt hatte, in der Lobby des »Motel One«-Hotels gegenüber dem Wohnblock. Sie hatte sich auf seinen Rat hin die Augen auf der Damentoilette ausgespült. Sie hielt einen Beutel mit Eis, den sie an der Bar bekommen hatte, auf ihre verbrannten Hände. Ihren Ausruf, wonach er an allem schuld sei, hatte er zunächst ignoriert und sie auf die andere Straßenseite ins Hotel gelotst. Er war sicher, dass er die Frau nicht kannte. Sein ursprünglicher Plan war es gewesen, von dem Hotel aus einen Krankenwagen zu rufen und sie in ein Krankenhaus bringen zu lassen, doch dagegen hatte sie sich mit einer solchen Bestimmtheit gewehrt, dass er es noch nicht getan hatte.
»Wie ist das passiert?«, fragte er schließlich und deutete auf ihre Hände. Als sie aufblickte, erkannte er in ihrem Blick etwas Kampflustiges.
»Schickt Silva Sie?«
Nun war es an ihm, überrascht zu reagieren.
»Sie kennen Silva?«
»Sie sind an allem schuld!«, wiederholte sie die Worte, die sie bereits zuvor ausgesprochen hatte.
Er spürte, wie ihm heiß wurde.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen! Und ich komme nicht von Silva!«
»Aber Sie kennen ihn?«
»Nein. Also ich habe einmal mit ihm gesprochen.«
»Wann?«, schoss es aus ihr heraus.
Er rechnete im Geiste zurück. Mit der Zeitverschiebung und dem langen Flug kein einfaches Unterfangen. »Gestern oder vorgestern.«
»Dann schickt er Sie doch! Um mich zu finden?«
Er spürte, wie er ungehalten wurde. »Ich kenne Sie gar nicht! Es war Zufall, dass ich Sie eben dort gesehen habe. Ich habe nur Ihre Verletzungen erkannt. Sie stammen von der Pflanze …«
Für einen Moment schwiegen sie beide. Holland versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
»Wie heißen Sie?«, setzte er neu an.
»Ava«, antwortete die junge Frau nach kurzem Zögern. Sie sah südländisch aus, sprach aber akzentfreies Englisch.
»Und Sie kennen mich?«
»Ich kenne Ihre Bücher und Aufsätze. Ich habe Silva damit versorgt.«
»Dann kennen Sie Silva?«
Sie nickte. »Kennen ist untertrieben.«
Er verstand nicht.
»Sagen Sie mir zuerst, warum Sie hier sind«, sagte sie und schaute auf ihre Hände.
»Sie müssen damit ins Krankenhaus.«
»Keine Zeit. Ich habe in letzter Zeit Schlimmeres erlebt.«
Er schaute auf ihre übrigen Wunden und glaubte es sofort.
»Ich wollte zur Wohnung einer jungen Frau«, sagte er. »Sie wohnte drüben in dem Wohnblock. Sie heißt Waverly Park.«
»Sie wollten zu Wave?« Zum ersten Mal klang ihre Stimme weniger hart. »Wissen Sie, wo sie ist?«
Er schluckte die erste Antwort herunter. Er sah ihr an, dass sie Waverly kannte – und dass sie keine Ahnung hatte, dass sie tot war. Aber er wollte auch nicht lügen.
»Ja, das weiß ich«, sagte er.
Sie starrte ihn an und wartete, dass er weitersprach.
»Sie ist tot.«
Er sah, wie ihr die Gesichtszüge entglitten und sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Sie ist …« Sie sprach es nicht zu Ende.
»Es tut mir leid«, brachte er hervor. »Sie kannten sich?«
Ava sah durch ihn hindurch, schien zu versuchen, die Nachricht zu verarbeiten. »Wie …? Was ist passiert?«, fragte sie schließlich.
»Sie wurde erschossen. Vor meinen Augen. Auf einer Lesung von mir in Portland.«
»In Portland?«
Er nickte.
Wieder dauerte es, bis sie die Information verarbeitet hatte. »Sie wollte zu mir«, sagte sie schließlich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Wer war der Täter?«
»Ein Mitarbeiter von Homeland Security. Er meinte, sie wollte mich angreifen, aber ich habe meine Zweifel.«
»Sie angreifen?«
»Auf der Lesung. Es ist kompliziert.«
Ava hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
»Und was wollen Sie dann hier, wenn sie tot ist?« Das Misstrauen war in Avas Stimme zurückgekehrt.
»Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie einen Weg gefunden hat, die Ausbreitung der Pflanzen zu stoppen.« Er deutete auf ihre Hände.
»Wave? Was hat sie damit zu tun?«
»Das ist eine lange Geschichte. Aber nun verraten Sie mir erst einmal, woher Sie die Verbrennungen haben.«
»Aus Waverlys Apartment. Es ist voll von diesen Dingern.«
»Dingern?«
»Pflanzen. Sie sind überall. Ich wollte Waverly besuchen. Ihr Wohnungsschlüssel liegt immer unter der Fußmatte, falls Freunde oder ihre Mutter zu Besuch kommen.« Bei der Erwähnung von Waverlys Mutter schluchzte sie. »Sie hatte mir eine Nachricht geschickt, einen Hilferuf. Ich habe sie zu spät gesehen. Ich war … verhindert. Als ich sie nicht erreichen konnte, kam ich hierher. Aber offensichtlich war es zu spät.«
»Die Pflanzen sind in Waverlys Wohnung?«
Sie nickte.
Holland sah zu dem Barkeeper und winkte ihn herbei. Er bestellte eine weitere Flasche Wasser und zwei Gin Tonic.
»Und Sie kennen Silva?« Er dachte kurz nach, dann entschloss er sich aus einem Impuls heraus, Ava die ganze Geschichte zu erzählen. Er begann mit der Lesung, dem Trip nach Cottonwood, dem Flug nach China, erzählte von Pan Sun, dem im Nachhinein merkwürdig anmutenden Gespräch mit Silva und der Rückreise nach Berlin. Sie hörte mit wachsendem Interesse zu. Als er fertig war, griff sie zum Gin Tonic und trank ihn in einem Zug aus.
»Und jetzt Sie«, sagte er. »Sie kennen Silva? Und was meinten Sie damit, ich sei an allem schuld?«
»Sie werden es nicht glauben.«
»Versuchen Sie es!«
»Eigentlich sind nicht Sie an allem schuld. Sondern ich.«