Waverly
Es vergingen Wochen und Monate. Auf der Arbeit konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie vergaß Bestellungen, ließ ein Tablett fallen und verrechnete sich beim Abkassieren. Zudem hielt sie ständig nach Dechambeau Ausschau. Kam ein Gast, dessen Gesicht sie noch nicht kannte, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in die Bar, fühlte sie sich sogleich beobachtet. Wenn sie ihre Haustür aufschloss, zitterten ihre Hände. Sie hatte sich auch wieder ein Spray zur Selbstverteidigung gekauft, obwohl sie sich nach den Ereignissen in Weimar geschworen hatte, nie wieder eine Waffe bei sich zu tragen. Der blaue Punkt war irgendwann aus ihrer App verschwunden – vermutlich hatte man den Plant-Tracker in China entdeckt und entsorgt. Aber sie hatte sich aus allem einen Reim gemacht: Sie war sich sicher, dass Dechambeau nicht als Mitarbeiter von Homeland Security Pflanzen stahl und nach China schaffte. Sein nächtlicher Besuch bei ihr diente nur dazu, herauszufinden, wie sie den Samen im Bernstein zum Keimen gebracht hatte. Offenbar hatte man Probleme gehabt, den Samen, den man ihr in China vor der Nase weggeschnappt hatte, großzuziehen. Man wollte dort beide Pflanzen vereinen, damit die Blüten sich gegenseitig bestäuben konnten, wenn es sich denn um eine männliche und eine weibliche Pflanze handelte. Dies verriet ihr, dass man die Pflanze vermehren wollte. Eine Pflanze, die von den italienischen Mönchen als Monster bezeichnet worden war. Glaubte sie Dechambeau, war hier die Nachfolgeorganisation der legendären Illuminaten am Werk. Sie hatte das Internet nach den Desperaten durchforscht. Selbst ChatGPT hatte ihr aber auf ihre Fragen zu den Desperaten keine Antwort geben können. Und sie hatte keine Ahnung, was man mit den Pflanzen vorhatte, aber ihr schwante nichts Gutes. Sie versuchte, sich vorzustellen, was man mit einer hochinvasiven Pflanze alles anstellen konnte. Als Botanikerin wusste sie, welches Unheil Neophyten anrichten konnten, und dennoch fehlte ihr die Fantasie, eine ernsthafte Gefahr zu erkennen – bis sie eines Abends SCANDBOX öffnete und das Programm ihr eine Meldung anzeigte. SCANDBOX durchsuchte Nacht für Nacht das Netz nach News und meldete solche, in denen Schlagworte vorkamen, die sie vorgegeben hatte. Und so stieß sie auf diese Onlinemeldung von The EastAfrican, einer Nachrichtenseite aus Nairobi. »Neuer Strauch bereitet Sorgen« lautete die Überschrift. »Bauern und Hirten beklagen die Ausbreitung eines neuen Gewächses entlang dem Tana River. Die Pflanze sei erstmals im Frühsommer aufgetaucht. Nach ersten Berichten entzieht sie dem ohnehin kargen Boden Wasser und versperrt den Tieren den Weg zu den Wasserstellen. Einwohner berichten von allergischen Reaktionen und Verletzungen durch Dornen bei Mensch und Tier. Weder die örtlichen Behörden noch das Kenya Forestry Research Institute konnten zu den Berichten etwas sagen. Die Verbreitung einer neuen Pflanzenart sei dort nicht bekannt.«
Neben dem Bericht befand sich ein für den Standard westlicher Medien sehr grob gepixeltes Foto mit der Bildunterschrift »Die neue Pflanze«. Es war aus zu großer Nähe aufgenommen, aber sie hatte keine Zweifel: Dies war die Pflanze. In der folgenden Nacht träumte sie, dass sie nachts nach Hause kam und die Pflanze in ihrem Sessel auf sie wartete. Diesmal entschied sie sich für die Flucht, doch die Pflanze verfolgte sie, und als sie die Straße erreichte, waren überall Pflanzen, die ihre Blätter nach ihr ausstreckten und versuchten, sie zu berühren. Als sie schweißnass aufwachte, wusste sie, dass die Welt in Gefahr war. An diesem Tag meldete sie sich krank und besann sich abermals auf ihre Fähigkeiten als Archäologin. Sie wusste aus den Berichten der Mönche von Monreale in Sizilien, dass die Pflanze im Klostergarten gewachsen war, nachdem die dort vergrabenen Bernsteine austrieben. Doch warum hatte die Pflanze sich von dort nicht überallhin verbreitet? Wenn sie so invasiv war wie die heutigen Exemplare, wäre damit zu rechnen gewesen. Vermutlich waren nur gleichgeschlechtliche Pflanzen gewachsen, die sich ohne eine zweite Pflanze anderen Geschlechts nicht vermehren konnten. Berichte eines Novizen, die sie im Digitalen Staatsarchiv von Palermo fand, deuteten zudem darauf hin, dass die Pflanze zwar im Klostergarten wuchs, aber rasch wieder eingegangen war. Die Stiche, die sie gefunden hatte, auf denen Mönche verzweifelt gegen zu Ungeheuer mutierte Pflanzen kämpften, konnten auch bloße bildnerische Übertreibungen sein, wie sie damals nicht unüblich waren. Quasi die Boulevardpresse der damaligen Zeit. In einem der Berichte beschrieb der Novize, dass die Pflanze den Dünger der Mönche nicht zu vertragen schien. Als »Madame Toilette«, als diejenige Archäologin, die bei den Ausgrabungen die Latrinen untersuchte, wusste sie, womit Mönche früher ihre klostereigenen Gemüsebeete, die als besonders ertragreich galten, düngten: mit den eigenen Exkrementen. Dies war auch der Grund, warum man bei Ausgrabungen im Beckenbereich verstorbener Mönche noch nach Hunderten von Jahren, anders als bei der übrigen Bevölkerung der damaligen Zeit, eine deutlich erhöhte Anzahl von Parasiteneiern fand. Sie suchte und fand Studien über Latrinenfunde in der Nähe von Monreale. Latrinen waren nicht nur das Erste, was man an historischen Orten untersuchte. In den vergangenen Jahren war es sogar zu einem eigenen Forschungsgebiet geworden, nach der Zusammensetzung altertümlicher Darmflora zu forschen. Mittels bakterieller DNA versuchte man in historischen Kotproben oder Mumienfunden eine Darmflora zu isolieren, die noch unbeeinflusst von heutigen Medikamenten und Antibiotika war. Dahinter steckte eine riesige Industrie, denn Ziel dieser Forschung war es, aus den alten Funden Nahrungsergänzungsmittel herzustellen, die die Darmflora zu einer evolutionären Natürlichkeit regenerierten. Tag und Nacht las sie Studien und Laborberichte, während sie SCANDBOX nach neuen Nachrichten von der Verbreitung der Pflanzen suchen ließ. In Kotproben aus dem Kloster in Monreale hatten sizilianische Forscher beinahe fünfhundert mikrobielle Genome rekonstruiert. Davon 181 Genome mit den stärksten Hinweisen darauf, dass sie tatsächlich alt waren und aus dem menschlichen Darm stammten. Sie vermuteten, dass irgendwelche dieser Bakterien für die Pflanze tödlich gewesen sein mussten. Pflanzen waren wie jeder andere Organismus anfällig für Viren – und Bakterien. Bakterienerkrankungen konnten ganze Pflanzbestände und Pflanzenfamilien epidemisch befallen und vernichten. Als Nächstes verglich sie die in den Exkrementen gefundenen Genome mit den Genomen bekannter pflanzenschädlicher Bakterien, wobei half, dass es dazu viele veröffentlichte Studien gab. Es dauerte eine weitere Woche, während der sie tagsüber in der Ehrbar arbeitete und bis spät in die Nacht recherchierte, bis sie fündig wurde: Der Schlüssel hieß Erwinia amylovora. Ein Bakterium aus der Gruppe der Enterobakterien, welches im Darm von Menschen vorkommen konnte und bei Pflanzen den gefürchteten »Feuerbrand« auslöste. Feuerbrand war eine für Pflanzen tödliche Krankheit, die sogar meldepflichtig war. Zunächst schien es ihr unglaublich, dass ein schlichtes Bakterium wie dieses diesem Ungeheuer von Pflanze trotzen sollte. Doch dann besann sie sich darauf, dass es sich um eine Urpflanze handelte. Sie hatte Berichte über indigene Urvölker gelesen, die nach dem Kontakt mit den Eroberern aus Europa von einem banalen Schnupfen dahingerafft wurden. Sie waren nicht darauf vorbereitet gewesen, denn ihr Immunsystem hatte nicht die Evolution von Viren mit durchgemacht. Warum sollte es also einer Millionen Jahre in einem Samen eingeschlossenen Urpflanze anders ergehen? Auf dem Papier hatte sie die Lösung gefunden, es fehlte ihr jedoch eine Pflanze, um es auszuprobieren.
Es war der Abend, an dem sie sich freinahm und zu ihrem Lieblingskoreaner in Neukölln ging. Und an dem sie auf SCANDBOX erstmals einen Bericht über die Pflanze aus Europa fand, eine kleine Notiz in einer Zeitung in Salzburg.
Sie fasste ihre Theorie zur Bekämpfung der Pflanze zusammen und hinterlegte alles fein säuberlich in SCANDBOX .