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Holland

Berlin, 20 . August 2023

Sie hatten sich an der Rezeption des Hotels zwei FFP -Masken schenken lassen und waren über die viel befahrene Leipziger Straße zurück zu Waverly Parks Wohnkomplex gegangen. Es war ein Mehrfamilienhaus, das irgendwann nach der Wende aufwendig renoviert worden war, sich aber immer noch den Kasernencharme der Volksrepublik bewahrt hatte. Ein Hauseingang führte jeweils zu Dutzenden von Wohnungen. Ava ging vor und führte sie durch ein dunkles Treppenhaus, von dem zur Linken und Rechten jeweils lange Korridore abzweigten. Die Wohnung von Waverly Park lag in einem der oberen Stockwerke. Die Tür war verschlossen, den Schlüssel hatte Ava in der Hosentasche. Als sie aufschloss, fiel Holland trotz Maske sofort der starke Geruch nach ätherischen Ölen, Gras und modrigem Kellermuff auf. Ava hatte nicht untertrieben: Schon im Flur hinter der Eingangstür rankten die ersten Pflanzen und versperrten den Weg ins Wohnzimmer. Nun verstand er auch Avas Verbrennungen, sie hatte von der Gefährlichkeit der Pflanzen nichts geahnt. Holland bog in die kleine Küche ab und öffnete als Erstes das Fenster. Dann ging er zur Spüle und durchsuchte den Schrank darunter. Er fand, was er suchte, in dem Schrank zwischen allerlei Putzmitteln. »Was machen Sie da?«, fragte Ava, als er sich umdrehte und ihr ein Paar Putzhandschuhe entgegenhielt. Er selbst zog das andere Paar an. Mit den Handschuhen bog er die erste Pflanze zur Seite und ließ Ava durchschlüpfen, dieses Prozedere wiederholten sie mehrmals.

»Passen Sie auf die Dornen auf!«, warnte er.

»Zu spät!« Ava zeigte auf einen blutigen Ratscher an ihrem Oberschenkel.

»Wir sollten das hier nicht tun!«, bemerkte er sorgenvoll.

»Da haben Sie recht!«, rief Ava und bog die nächste Pflanze zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er zählte insgesamt zwölf verschiedene Pflanzen, die ihre Wurzeln zum Teil im Teppich und an den Wänden verankert hatten. Er erinnerte sich an Smith’ Worte, der berichtet hatte, dass die Pflanze sogar in Beton wurzelte.

Als sie endlich das Wohnzimmer erreicht hatten, öffnete er auch hier alle Fenster. Er spürte ein Kribbeln auf der Gesichtshaut, was vermutlich von den feinen Härchen der Pflanze rührte. »Hier lag das Tagebuch«, sagte Ava und zeigte auf den Tisch. Holland blickte sich um. Der Urwald aus Pflanzen mitten im Wohnzimmer bot einen skurrilen Anblick. Die Pflanzen nutzten das Sofa und eine Kommode als Rankhilfe, einige Stiele hatten sich um die Gardinenstange gewickelt. Jetzt erst fiel ihm auf, dass das, was er für einen Flokati gehalten hatte, gar keiner war. Vielmehr verlief überall über dem Boden ein weißer Flaum aus Fäden. Fasziniert schaute er auf das mangels Erde hier offen liegende Mykorrhiza-Netzwerk. Er runzelte die Stirn. Wenn das Pilzgeflecht normalerweise die Wurzeln unter der Erde mit lebenswichtiger Nahrung versorgte, fragte er sich, woher die Pflanzen hier ausreichend Wasser und Nährstoffe bekamen. Er folgte den Bündeln von Fäden, die auf der einen Seite hinter dem TV -Gerät zu verschwinden schienen und auf der anderen Seite aus dem Flur kamen.

»Sie hat nach einem Mittel gesucht, das die Pflanzen tötet«, sagte Ava. Sie hatte im Sessel Platz genommen, der noch nicht gänzlich von den Pflanzen erobert worden war, und das Tagebuch aufgeschlagen. »Ein Eintrag von vor wenigen Wochen. Sie schreibt, sie sei der Lösung nahe. »Nun lohnt es sich einmal, ›Madame Toilette‹ zu sein«, las sie laut vor. »Die Lösung liegt in der Latrine.«

Sie schaute zu Holland, der mit den Schultern zuckte. Sein Blick fiel auf eine Katze mit einem erhobenen Arm. Ein Spielzeug, das er aus chinesischen Souvenirläden kannte. Auf der Kommode entdeckte er zwischen den Blättern der Assassina incognita eine Reihe von Reagenzgläsern, Petri- und Plastikschalen. In der Tat wirkte es so, als habe hier jemand Versuche angestellt. Auch Ava verbog sich den Hals, um an den Pflanzen vorbeizuschauen.

»Können wir sie nicht einfach wegschneiden oder abbrechen?«, fragte sie.

Holland schüttelte den Kopf. »Ihre Stängel enthalten Säure. Es gibt Leute, die sind dadurch blind geworden.«

Ava erhob sich, bog mit dem Fuß einen Stängel zur Seite und griff nach einem Stapel Papiere, der im Regal abgelegt war. Dann rettete sie sich zurück in den Sessel.

Holland widmete sich wieder den Fäden. Sein Bauchgefühl meldete sich.

»Was riecht hier so?«, fragte Ava.

»Ätherische Öle. Sie sinken zu Boden. Wenn Sie aufstehen, wird es besser. Und Vorsicht: Sie sind leicht entflammbar.«

Ava zog die Beine hoch, als gebe es in der Wohnung Schlangen, und setzte sich auf dem Sessel in die Hocke.

»Was ist das nur für ein widerliches Gewächs!«, rief sie aus.

Holland musste beinahe schmunzeln. Treffender konnte man es nicht ausdrücken. »Ich komme gleich wieder«, sagte er und streckte den Arm aus, um die Pflanze vor sich zur Seite zu biegen. Dazu benötigte er all seine Kraft, beinahe wirkte es so, als würden die Pflanzen sich wehren. Den Blick auf den Boden geheftet, folgte er den Fäden, kämpfte sich abermals durch die am nächsten stehenden Pflanzen, kassierte den Hieb eines zurückschnellenden Astes an der Stirn, der sofort auf der Haut zu brennen begann. Die Fäden liefen den Flur entlang und verschwanden schließlich hinter einer Tür, die von den Pflanzen besonders »bewacht« schien. »Ich könnte hier Ihre Hilfe gebrauchen«, rief er und bekam keine Antwort.

»Ava?« Schon begann sein Puls schneller zu werden, als die Pflanzen einige Meter entfernt sich zu bewegen begannen und Avas Gesicht zwischen den Blättern auftauchte. Ihr Blick war hoch konzentriert und entschlossen. So wie sie hatte Holland sich immer die Amazonen aus den griechischen Mythen vorgestellt.

»Autsch!«, rief sie. »Wieder geratscht.«

Als sie ihn endlich erreicht hatte, deutete er auf die Tür.

»Eine Abstellkammer, glaube ich«, sagte sie.

»Ich möchte die Tür öffnen.«

Sie machte einen breiten Schritt, wobei sie mit dem Fuß einen der Stängel weit unten zur Seite knickte. Ein knackendes Geräusch entstand, und Holland sah, wie etwas Pflanzensaft auf Avas Bein spritzte. Sie gab einen leisen Schmerzenslaut von sich, bewegte ihren Fuß aber keinen Zentimeter fort. Holland bog zwei andere Äste beiseite, einen hielt Ava mit der Hand zurück. Dann öffnete er die Tür. Er nahm sein Handy, bemerkte einen Anruf in Abwesenheit von Greta und schaltete die Taschenlampe an. Was er sah, übertraf all seine Erwartungen. Er starrte auf ein Knäuel aus Fäden, das ihn an eine von einer Spinne eingesponnene Beute erinnerte. Durch das Weiß der Fäden erkannte er ein schwach grün blinkendes Licht.

»Igitt, was ist das?«, fragte Ava. »Ich kann die Pflanzen hier nicht mehr lange zurückhalten.«

Holland machte ein Foto mit seinem Handy und schloss die Tür. Ava sprang in Richtung der Wohnungstür und ließ die Pflanzen los. Holland schaute ihre Beine hinab, an denen neue Wunden entstanden waren. »Wir sollten das lassen«, sagte er und ging in die Küche, in der er einen Medizinschrank gesehen hatte. Er fand ein Desinfektionsspray, delegierte Ava auf den einzigen Küchenstuhl und versorgte die neuen Verletzungen. »Ich habe etwas gefunden«, sagte sie und holte einen Zettel aus ihrer Gesäßtasche. Holland faltete ihn auseinander. Es war eine Rechnung vom DSMZ – German Collection of Microorganisms and Cell Cultures über die Lieferung einer Lebendkultur von Erwinia amylovora. Als Empfänger war Waverly Park angegeben. Er schaute auf das Lieferdatum, das keine zwei Wochen zurücklag.

»Hilft das?«

Er zuckte mit den Schultern, las erneut den Namen des Bakteriums. Sollte das die Lösung sein, von der Waverly Park gesprochen hatte? Ein Bakterium, das die Pflanze besiegte? Möglich war es. Bakterien galten zusammen mit einigen Virenarten als die schlimmsten Pflanzenfeinde. Immer noch meldete sein Bauchgefühl, dass er etwas übersah. Sein Handy vibrierte, vermutlich wieder Greta. Er stutzte. Es war eine Telefonnummer mit Brandenburger Vorwahl, die er nicht kannte.

»Herr Holland?«, meldete sich eine unbekannte Stimme. »Kriminalpolizei Eberswalde, Pütz mein Name. Kommen Sie bitte zu Ihrem Haus am Üdersee, es ist etwas geschehen.«