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Waverly

Berlin, August 2023

Waverly fand immer mehr Berichte über die neue Pflanzenart, die sich in vielen Ländern ausbreitete und von der niemand wusste, wo sie so plötzlich herkam – außer sie.

Dass die Öffentlichkeit auf diesen Ausbruch nicht ausreichend alarmiert reagierte, raubte ihr den Schlaf. Und dass sie glaubte, ein Gegenmittel zu kennen, es aber nicht ausprobieren konnte, weil sie weder die Pflanze noch einen weiteren Samen besaß, ebenfalls. Nun ging es nicht mehr darum, eine solche Pflanze wiederzuentdecken, aufzuziehen oder gar zu erforschen, selbst wenn es sich um eine urzeitliche Pflanze handelte. Nein, jemand musste ein Gegenmittel finden, um die Pflanze zu vernichten und ihre Ausbreitung zu stoppen. Eines Morgens fiel ihr der Umschlag in die Hände, den Dechambeau ihr dagelassen und den sie erst einmal tief in ihrer Kommode im Flur verstaut hatte. Nun holte sie ihn hervor und öffnete ihn. Er enthielt hundertzwanzig Fünfzigeuroscheine. Sechstausend Euro. Hatte Dechambeau ihrer Mutter genauso viel Geld gegeben? War das der Preis gewesen für ihre Jahre im Gefängnis? Sie merkte, wie ihre Kehle sich zusammenzog, und versteckte den Umschlag mit dem Geld wieder, bis sie ihn einige Stunden später erneut herausholte. Diesmal öffnete sie im Computer eine Karte und verglich diese mit den von SCANDBOX gemeldeten Zeitungsartikeln über Funde der neuen Pflanze. Sie entschied sich für einen aktuellen Bericht vom Morgen aus Dänemark. Auf Seeland in Hillerød, nördlich von Kopenhagen, seien Dutzende von Ansammlungen der Pflanze gefunden worden, hieß es in dem Bericht der Jyllands-Posten . Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Pflanzen zu meiden und Funde zu melden. Sie packte einen Rucksack, nahm Dechambeaus Geld und mietete ein Auto. Sie wartete bis zum nächsten Morgen und fuhr dann mit dem Wagen nach Rostock, von dort nahm sie die Fähre nach Gedser. Auf der Fähre genoss sie die frische Seeluft und fühlte sich beim Blick über die Ostsee so frei wie seit Jahren nicht mehr. Es folgte eine zweistündige Autofahrt quer durch Dänemark, die sie wegen des Tempolimits als entspannend empfand. In Hillerød angekommen, mietete sie sich in einem kleinen Hotel in der Nähe des Schlosses ein und plante ihr Vorgehen. Die Zeitung hatte von zahlreichen Ansammlungen der neuen Pflanze nördlich der Stadt berichtet, und dennoch war das Gebiet so groß, dass man kaum darauf vertrauen konnte, zufällig welche zu finden. Aber zu dem Artikel war ein Foto abgedruckt, auf dem zu sehen war, wie die Polizei anscheinend eine Kolonie der Pflanze mit Absperrband sicherte. Die Bildunterschrift verriet den Ort der Aufnahme, und so machte sie sich dorthin auf, nicht wissend, ob die Pflanze bereits entfernt worden war. Sie fand die Stelle und parkte vor einem kleinen Café in der Nähe. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie sah, dass die Pflanzen noch da waren. Sie hatten sich auf einer Verkehrsinsel inmitten einer größeren Straße angesiedelt und waren mit einem Absperrband umwickelt. Etwa ein Dutzend Pflanzen, die dicht beieinanderstanden und keinen Meter hoch waren. Vor der Verkehrsinsel stand eine kleine Gruppe von Menschen in Schutzanzügen, einige filmten die Pflanzen, andere notierten etwas auf Klemmbrettern. In Sichtweite parkte ein Wagen der dänischen Polizei, in dem zwei Beamte in gelben Warnwesten saßen. Rund um das Geschehen war weiteres Absperrband gespannt, sodass man sich der Szenerie nur bis auf gute fünfzig Meter nähern konnte. Aus gutem Grund, wie sie wusste. Sie gesellte sich zu einer kleinen Schar Schaulustiger, die das Spektakel aus der Entfernung beobachteten. Die Chance, an die Pflanzen heranzukommen, um heimlich eine mitzunehmen, schien gering. Einer der Schaulustigen verriet sich durch eine professionelle Fotoausrüstung.

»Sind Sie Journalist?«, fragte sie.

Der Mann, der keine dreißig war, musterte sie. »Fotograf«, entgegnete er.

»Für eine Zeitung?«

»Für Associated Press. «

Sie nickte. »Ich habe gehört, hier gibt es viele von den Dingern«, tastete sie sich heran.

»Sie sind nicht von hier?«

»Aus Deutschland. Wissen Sie, wo noch mehr Pflanzen sind? Ich würde gern mal eine aus der Nähe sehen.«

Erneut musterte er sie. Es war der Blick, mit dem Männer Frauen scannten, wenn sie auf ein schnelles Abenteuer hofften.

»Ich weiß, wo.«

»Können Sie mich hinbringen?«

Nun grinste der Mann frech. »Was bekomme ich dafür?«

Waverly blickte sich um und griff dann in ihrer Tasche nach dem Briefumschlag von Dechambeau.