Holland
Die Polizei in der Schorfheide ließ ihn nur ungern gehen. Aber er hatte ein Alibi und war zunächst nicht verdächtig, und so sah er zu, dass sie beide so schnell wie möglich von seinem Haus fortkamen und zum Flughafen fuhren.
Der gewaltsame Tod seiner Nachbarin traf ihn ins Mark, und seine einzige Strategie, damit umzugehen, war, nicht daran zu denken. Dasselbe galt für Ottos Entführung. Dachte er auch nur eine Sekunde darüber nach, in welcher Gefahr sein Sohn schwebte, würde er wahnsinnig werden. Solange sie etwas von ihm wollten, würden sie ihm nichts antun.
Der nächste Flug nach Kanada ging glücklicherweise in einer Stunde. Und so saßen Ava und er in einer Lounge am BER und warteten.
Zum ersten Mal seit Tagen hatte er das Gefühl, durchzublicken. Waverlys Tagebuch hatte ihnen dabei geholfen. Und ihr Gedichtband, den sie ihm bei seiner Lesung übergeben oder, besser gesagt, bei ihrer Ermordung verloren hatte. Er hatte über seinen Agenten bei der Polizei in Portland nachfragen lassen: Bei Waverly Parks Leiche war tatsächlich eine Schusswaffe gefunden worden, aber keiner der Zeugen hatte sie in ihrer Hand gesehen. Mittlerweile war er sicher, dass Dechambeau sie ihr im Chaos nach der Tat untergeschoben hatte. Es war eiskalter Mord. Dechambeau. Der Name tauchte gleich an mehreren Stellen in Waverlys Tagebuch auf. Sie bezichtigte ihn mehrerer Verbrechen, nannte ihn an verschiedenen Stellen »einen Teufel« und schrieb, dass sie Angst vor ihm hatte und dass er sie bedroht hatte. Es war kein Zufall gewesen, dass sie sich bei seiner Lesung getroffen hatten. Offenbar hatte Waverly ihm etwas mitteilen wollen. Warum gerade ihm, wusste er nicht. Er glaubte nicht, dass sie sich zuvor schon einmal begegnet waren, auch wenn sie beide aus Berlin kamen. Aber neben dem Gedicht über den Ginkgo hatte er eine weitere handschriftliche Notiz von ihr gefunden, die er erst mit Avas Hilfe hatte entziffern können.
Urpflanze = Epigäen = Pilz
Und nach dem, was er in Waverlys Wohnung gesehen hatte, lösten seine Gedanken eine Kettenreaktion aus, ähnlich wie bei umstürzenden Dominosteinen. Als er am Airport gelesen hatte, dass die US -Armee begann, die Pflanzen mit Entlaubungsmittel zu besprühen, hatte er sofort Greta angerufen. Sie war noch in Schanghai, noch immer im »Privathospital« von Mama Chen. Long hatte ihr eine Galgenfrist für die Ausreise gewährt, und es ging ihr langsam besser. Je länger sie redeten, umso mehr verflog sein Ärger, und am Ende des Telefonats wünschte er sich, dass sie bei ihm wäre.
»Sie haben Otto?«, fragte sie ungläubig. Er hatte ihr in groben Zügen erzählt, was passiert war. Dass SILVA eine Maschine war, verschwieg er ihr vorsorglich, auch weil er sich nicht sicher war, wer vielleicht mithörte.
»Oh, mein Gott!«, sagte sie. »Ich gebe Smith Bescheid!«
»Nein!«, beeilte er sich zu sagen. »Dechambeau hat mich angerufen. Otto ist in seiner Gewalt. Er ist Teil des Komplotts und hat uns in China auch Foo auf den Hals geschickt. Ich weiß nicht, ob Smith auch mit drinsteckt. Aber du musst mir einen Gefallen tun und ihm etwas ausrichten: Entlaubungsmittel wirkt nicht. Es vergiftet nur das ganze Land.«
»Entlaubungsmittel?«
»Ich habe gelesen, sie fangen an, es zu versprühen. Aber es kann nicht wirken. Die Pflanze ist nicht das Problem!«
Greta verstand nicht. »Ich habe keine Zeit, es dir zu erläutern. Aber wenn du mir wirklich vertraust, sorge bitte dafür, dass sie die Sache mit dem Entlaubungsmittel stoppen. Und wenn Smith nicht darauf hört, kontaktiere bitte die anderen Personen, die mit uns in Cottonwood waren. Die Frau vom Landwirtschaftsministerium. Sie sollen mir 72 Stunden geben.«
»72 Stunden wofür?«
»72 Stunden, um eine andere Lösung zu finden.«
Greta versprach, zu tun, was sie konnte.
»Danke«, sagte sie am Ende des Gesprächs. »Ohne dich würde ich nicht mehr leben.«
Aber seine Frau hatte er nicht retten können, dachte er, ohne es auszusprechen.
»Es ist also gar keine Pflanze?«, fragte Ava ungläubig, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, was er ihr vor einer guten halben Stunde erklärt hatte.
»Es ist keine Urpflanze, wie Waverly Park sie getauft hat, sondern eher ein Urpilz. Wobei Pilze normalerweise keine Fotosynthese betreiben. Es ist eher ein Hybrid aus beiden. Daher hat Waverly in das Buch geschrieben »Urpflanze = Epigäen«. Vielleicht hat sie gehofft, dass ich es verstehe. Epigäen sind unterirdische Pilze, deren Fruchtkörper über der Erde leben. Man denkt, man sieht den Pilz, aber der Pilz lebt als Myzel, als langer Faden, unter der Erde.«
»Das wahre Lebewesen sind dann die weißen Fäden? Und die Stiele mit den Blättern und den Blüten sind quasi nur deren Fruchtkörper?«
»Wenn man so will, ja. Daher bringt es auch nichts, die Fruchtkörper abzutöten, man muss an das Myzel herankommen. Und das ist mitunter kilometerlang. Ich habe in der letzten Stunde Berichte gelesen, dass in den vergangenen Wochen überall Myzelien aufgetaucht sind, vor allem an Internetknotenpunkten und unterirdischen Glasfaserkabeln. Doch niemand hat sich einen Reim darauf machen können.«
»An Glasfaserkabeln? Was bedeutet das?«
»Ich glaube, Assassina incognita hat uns getäuscht. Es ist ein weitverzweigtes, unterirdisches Netzwerk von Pilzen.«
»Aber die Pflanzen kommen auf verschiedenen Kontinenten vor.«
»Die alle über Internetkabel, die durch das Meer verlaufen, miteinander verbunden sind! Das Internet fliegt nicht durch die Luft. Ich habe gelesen, dass es weit über vierhundert Seekabel mit einer Gesamtlänge von über 1 ,2 Millionen Kilometern gibt, die alle Kontinente miteinander verbinden. Laut einem langen Artikel in einem Internetforum sind in den vergangenen Tagen an Knotenpunkten auf beiden Seiten des Atlantiks weiße Fäden gefunden worden. Der Pilz benutzt die Seekabel, um sich auszubreiten.«
»Er verbindet sich mit dem Internet?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber er benutzt die Kabel als eine Art Trasse.«
»Wie soll das gehen …?«
»In einem Hektar Waldboden befinden sich bis zu sechs Tonnen Pilzfäden, die es zusammen auf eine Länge von mehr als hundert Milliarden Metern bringen können. Das heißt, allein unter einem Quadratzentimeter liegen Fäden, die mehr als tausend Meter lang sein können.«
»Sie veräppeln mich!«
Er schüttelte den Kopf. »Alle Pflanzen sind über dieses Pilznetzwerk miteinander verbunden. Waverly hat entdeckt, was wir alle übersehen haben, weil wir nur die Oberfläche betrachtet haben: Wir haben es nicht mit einer Pflanze zu tun, die uns angreift, sondern mit einem Pilz. Und so wie es scheint, hat sich das Wood Wide Web dabei der unterirdisch verlegten Internetkabel bedient.«
»Moment!«, rief Ava. Und er sah, wie ihr normalerweise dunkler Teint plötzlich ganz blass wurde.
»Es benutzt die Internetkabel nicht nur als Transportmittel. Es verbindet sich mit ihm!«
Nun war er es, der nicht verstand.
»SILVA hatte uns in den letzten Tagen vor meiner Flucht vom System ausgesperrt. Wir konnten mit unseren Passwörtern nicht mehr auf die Server zugreifen. Wir waren aber in der Lage, den Datenverkehr zwischen SILVA und der Außenwelt weiter zu beobachten. Und dabei haben wir bemerkt, dass SILVA große Datenmengen ins Internet schickte. Ich meine, wirklich riesige Datenmengen. Er hatte dafür eigens weitere Rechenzentren hinzugemietet, die Rechnungen dafür konnte ich in der Buchhaltung noch einsehen.«
»Wie funktioniert das technisch?«, wollte er wissen.
»Was?«
»Ich meine das Internet selbst. Ich benutze es zwar häufig, aber ich habe mir noch niemals Gedanken darüber gemacht, was passiert, wenn ich beispielsweise eine Internetseite aufrufe.«
»Alles erfolgt über den Austausch von Daten. Daten werden dabei per Glasfaserkabeln optisch übertragen. Das Innere eines Glasfaserkabels besteht aus Glas, der Mantel verhindert, dass etwas nach außen dringt. Die Übertragung erfolgt durch Photonen, also durch optische Lichtsignale.«
»Und die weißen Pilzfäden, die Myzelien, sind ebenfalls in der Lage, elektrische Impulse und Licht zu übertragen. Das haben Studien jüngst unwiderlegbar ergeben …«, ergänzte Holland.
»Dann haben also Glasfaserkabel und Myzelien am Ende dieselbe Wirkungsweise?«
Holland nickte.
»Ach du Scheiße«, sagte Ava. »Bedeutet das, SILVA kommuniziert mit den Pilzen, den Myzelien, über das Internet? Das klingt unglaublich!«
»Unglaublicher, als dass Radiosender oder Handygespräche durch die Luft übertragen werden?«
»Das würde bedeuten, SILVA lenkt all die Pflanzen, das Wood Wide Web, über das Internet? Wood Wide Web trifft World Wide Web?«
»Wäre eine künstliche Intelligenz in der Lage, so etwas zu planen?«
»Mit Leichtigkeit.«
Beide schwiegen und versuchten, die Bedeutung dieser Erkenntnis zu verstehen.
»Das heißt, am Ende sind all diese Pflanzen über die Myzelien und die Internetknotenpunkte mit SILVA verbunden! Aber wie soll er die Pflanzen steuern? Er wird ihnen kaum Datenpakete schicken, es sind Pflanzen und keine Computer.«
»Sie sagten, Glasfaserkabel leiten Lichtimpulse. Und das Myzel auch. Das Myzel ist wiederum mit den Wurzeln der Pflanzen verbunden, und Pflanzen reagieren auf Lichtimpulse. Ich halte es für möglich, dass SILVA über diese Lichtimpulse Einfluss auf die Pflanzen nimmt. Vielleicht auf die Nährstoffverteilung. Es gibt Studien, die die über das Myzel verbreiteten Impulse mit Sprache vergleichen. Vielleicht kann man sagen, dass SILVA als künstliche Intelligenz nicht nur unsere Sprache, sondern auch die Sprache der Pflanzen spricht.«
Ava saß weit zurückgelehnt im Sessel und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das klingt zu verrückt, um wahr zu sein.«
»Das ist mir egal«, sagte er. »Am wichtigsten ist, dass wir Otto retten. Also, was ist unser Plan?«
»Wir befreien Otto, zerstören SILVA , vernichten alle Pflanzen und rächen Waverlys Tod und den der anderen«, sagte Ava und hob den Kopf.
»Sie haben gesagt, gegen SILVA haben wir keine Chance.«
»Das stimmt. Und die werden wir nutzen.«