Waverly
Waverly wartete, wie vor einigen Monaten, vor dem Hotel, in dem sie Dechambeau auch diesmal vermutete, und beobachtete den Eingang. Wer regelmäßig fremde Städte besuchte, kam meistens in demselben Hotel unter. Nachdem sie vor ihm aus ihrer Wohnung geflohen war, wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Sie war ziellos durch die Straßen geirrt, bis sie sich plötzlich vor dem Hotel am Ku’damm wiedergefunden hatte. Dechambeau hatte sie in ihrer Wohnung überfallen. Die vielen unschuldigen Jahre im Gefängnis hatten ihr Vertrauen in die Polizei erschüttert, so traute sie sich nicht, den Vorfall dort zu melden. Er hatte einen Ausweis von Homeland Security geschwenkt und es bereits einmal so hingedreht, dass sie falsch verdächtigt wurde. Sie wusste nicht genau, was sie hier suchte, sah aber, wie er gerade das Hotel verließ, ein Handy am Ohr. Er schien unverletzt zu sein, blickte sich beim Telefonieren nach allen Seiten um, aber schaute nicht in ihre Richtung. Sie wartete ab, bis er hinter dem nächsten Häuserblock verschwunden war, löste sich dann aus der Deckung des Hotdog-Standes, hinter dem sie sich versteckt hatte, und ging hinüber zum Hotel. Sie steuerte direkt auf den Lift zu und fuhr in den zweiten Stock. An der Rezeption hatte sie herausgefunden, dass Dechambeau das Zimmer 235 bewohnte. Das Zimmer war das erste neben den Fahrstühlen, über der Türklinke hing ein »Bitte nicht stören«-Schild. Unschlüssig blieb sie davor stehen, als sie einige Zimmer weiter vor einer offenen Tür den Reinigungswagen der Zimmermädchen entdeckte. Sie klopfte an den Türrahmen. Sie erschrak, als rechts aus dem Bad ein junger Mann um die Ecke schaute. »Ich habe meine Karte im Zimmer liegen lassen, können Sie mir öffnen?« Sie bemühte sich, all ihren Charme spielen zu lassen. Der Mann lächelte, sagte etwas in einer osteuropäischen Sprache, die sie nicht verstand. Er begleitete sie in den Gang, sie zeigte auf die Tür, er nahm eine mit einem Gummizug an seinem Gürtel befestigte Karte und hielt sie gegen das Lesegerät. Eine grüne Lampe leuchtete, und die Tür öffnete sich. Sie bedankte sich überschwänglich und trat ein. Das Zimmer war ordentlich. Das Bett sah aus wie frisch gemacht. Sie ging zu dem schmalen Tisch, der vor dem Fenster stand. Darauf lag ordentlich zusammengeschoben ein Stapel mit Unterlagen. Obenauf lag eine Zeitschrift, die sie kannte: Das International Journal of Botany Studies, eine botanische Fachzeitschrift. Eine Seite war mit einem gelben Post-it gekennzeichnet. »The great danger of invasive species for the ecosystem and strategies to protect our woods effectively from them« lautete die Überschrift des markierten Aufsatzes. »Die große Gefahr invasiver Spezies für unser Ökosystem und Strategien, um unsere Wälder vor ihnen zu schützen«. Sie schaute auf den Autor: Er hieß Marcus Holland. Das nächste Blatt war der Flyer einer Buchhandlung mit der Ankündigung einer Lesung. »Powers Book Store, Portland« stand darunter. Das Datum war mit Kugelschreiber umkreist. An den Flyer war mit einer Büroklammer ein Flugticket geheftet. Ein One-Way-Flug nach Portland, für morgen.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch an der Tür, davor eine laute Stimme, die sie sofort erkannte: Dechambeau. Sie schaute sich in Panik um, ihr Blick fiel auf den Kleiderschrank. Kurz zögerte sie, sah den Schrank in Goethes Wohnhaus in einem Flashback vor sich, doch dann öffnete sie ihn, schob eine Anzugtasche zur Seite und kauerte sich hinein. Gerade rechtzeitig, denn eine Sekunde später hörte sie die Tür des Hotelzimmers ins Schloss fallen, dann Dechambeau laut und aufgeregt reden. Während sie zuhörte, kämpfte sie gegen die aufsteigende Panik, gegen die Erinnerungen an die Nacht im Museum in Weimar, die ihr Leben für immer verändert hatte und die in einem Schrank wie diesem begonnen hatte.
»Silva, ich werde mich um ihn kümmern. Glauben Sie mir, Marcus Holland stellt keine Gefahr für uns dar. Ich werde zu seiner Lesung gehen, mit ihm sprechen, und wenn er doch eine Gefahr ist, werde ich mir etwas für ihn einfallen lassen.«
Dechambeaus Stimme klang dumpf, aber sie verstand jedes Wort, während sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Es roch nach Holz und Mottenkugeln, und sie hatte das Gefühl, zu ersticken.
Sie hörte, wie Dechambeau etwas suchte, kurz fluchte und dann das Zimmer wieder verließ. Danach wartete sie eine halbe Ewigkeit, bis sie sich wieder aus dem Schrank heraustraute und so schnell wie möglich das Zimmer verließ.
Als sie im Erdgeschoss die Tür zur Empfangshalle öffnete, um nach draußen auf die Straße zu gelangen, sah sie Dechambeau vor der Rezeption stehen, den Rücken zu ihr gewandt. Sie senkte den Kopf und eilte hinaus.
Kurz darauf saß sie in einem Internetcafé. Sie brauchte Hilfe. Sie war sicher, dass Dechambeau nicht vorgehabt hatte, sie am Leben zu lassen. Wer eine Pistole mit Schalldämpfer bei sich trug, plante auch, sie zu benutzen. Dass er wusste, dass sie die Bakterienkultur bestellt hatte, bewies zudem, dass sie weiter beschattet wurde. Sie hatten sie niemals aus den Augen gelassen. Da fiel ihr Avas Warnung wieder ein, SCANDBOX nicht mehr zu benutzen, die sie leichtfertig in den Wind geschlagen hatte.
Was wusste Ava? Immer noch war sie viel zu naiv, unterschätzte ihre Gegner. Auch Dechambeau hatte sie gewarnt. Sie hatte ihrem Ruf als »Madame Toilette« alle Ehre gemacht und tief in die Scheiße gegriffen, auch wenn es diesmal nicht um Latrinen ging. Dechambeau hatte recht gehabt, sie hätte sich einfach um sich selbst kümmern sollen, ihr Leben leben. Und dennoch konnte sie die Botanikerin in sich nicht zum Schweigen bringen. Und die hatte neue Nahrung erhalten: Das Bild der Pilzfäden in der Abstellkamera ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Etwas daran stimmte nicht, brachte alles ins Wanken. Alles, was sie noch dabeihatte, war der Gedichtband Goethes, den sie nun als Notizbuch benutzte. Sie brauchte dringend jemanden zum Reden. Als Erstes schrieb sie eine E-Mail an Ava. Danach gab sie den Namen Marcus Holland in eine Suchmaschine im Internet ein. Sie fand viele Artikel über ihn und über die Veröffentlichung eines neuen Buches mit dem Untertitel »Pflanzen sind die wahren Herrscher«. In einem der Artikel stand, dass er in der Nähe von Berlin wohnte. Sie suchte weiter und fand die Ankündigung von Lesungen mit Marcus Holland. Heute las er in Seattle, in zwei Tagen in Portland, USA . Waverly dachte an den Flyer im Hotelzimmer mit dem unterstrichenen Datum und an das Flugticket nach Portland. Wieder lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte Dechambeau vor, Marcus Holland etwas anzutun? Sie musste ihn warnen. Im Internet suchte sie nach einer Kontaktadresse, fand nur die eines Forstamtes, für das er anscheinend tätig war. Sie griff zum Handy und hielt inne. Sie konnte dort nicht anrufen und behaupten, Marcus Holland sei in Gefahr. Man würde sie vermutlich für verrückt halten. Und wie sollte sie ihren Verdacht begründen? Indem sie sagte, dass sie in ein Hotelzimmer eingebrochen war und dort das Gespräch eines amerikanischen Agenten mitgehört hatte? Wieder dachte sie an ihre Bewährung. Vor allem aber würde ihr niemand glauben. Sie öffnete Google Maps. Portland lag nur wenige Autostunden von Vancouver entfernt, wo Ava wohnte. Sie würde nach Portland fliegen und Holland persönlich warnen, danach sofort weiter zu Ava fahren und schauen, warum sie ihr nicht mehr antwortete. Sie machte sich Sorgen. Ava war schon immer sehr beschäftigt gewesen, aber sich so lange nicht zu melden war untypisch für sie. In ihre Wohnung wollte sie ohnehin nicht mehr zurück, in Kanada würde sie sich mit Avas Hilfe besser verstecken können als hier, im engen Berlin.
Sie suchte Flugverbindungen heraus. Auf dem Konto hatte sie noch fünftausend Euro, Erspartes von ihrer Arbeit im Gefängnis und dem Kellnern in der Ehrbar. Und den Rest des Geldes aus dem Umschlag, den Dechambeau ihr gegeben hatte. Der dänische Journalist hatte am Ende fünfhundert Euro dafür verlangt, dass er ihr eine Kolonie von Pflanzen auf Seeland gezeigt hatte. Weitere fünfhundert Euro hatte sie ihm gegeben, damit er den Mund hielt, als sie einige davon mitgenommen hatte. Sie buchte sicherheitshalber einen anderen Flug als Dechambeau, der nicht von Berlin, sondern von Hamburg über London nach Portland ging. Aufgrund der mit der Reise verbundenen Verletzung ihrer Bewährungsauflagen würde sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren können. Wehmut stieg in ihr auf, als sie an ihre Mutter dachte. Sie hatte sie gestern einmal kurz angerufen, aber nicht beunruhigen wollen und nichts erzählt.
»Weinst du, Honi?«, hatte ihre Mutter gefragt, und sie hatte es mit tränenerstickter Stimme verneint und auf die schlechte Verbindung geschoben.
Sie übernachtete auf einer Bank im Busbahnhof und fuhr am frühen Morgen mit einer Billigbuslinie von Berlin nach Hamburg, zahlte das Ticket in bar, ohne ihren Namen angeben zu müssen. Der Bus war leer, und sie saß in der letzten Reihe, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Vielleicht konnten Ava und die anderen ihr in Kanada zu einer neuen Identität und zu einem Visum verhelfen, Juri konnte so etwas. Und dann würde sie ihre Mutter nachholen. Während der Bus in Richtung Hamburg rollte, begann sie, leise zu weinen.