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Waverly

Portland, 15 . August 2023

Laut Reiseführer war Portland eine linksliberale Stadt mit einer blühenden Kulturszene, voller lebendiger Cafés, leckerer Foodmärkte und liebenswerter Buchläden. Die Wirklichkeit sah anders aus: Ein Tsunami aus Drogen war über Oregon gerollt und hatte Portlands Charme hinweggespült. Das Stadtbild in Downtown war geprägt von Menschen ohne Zuhause, auf jedem freien Quadratmeter waren Zelte errichtet. Drogensüchtige strichen durch die Stadt, auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Von Crystal Meth und Heroin verwüstete Leben. Während Waverly von ihrem kleinen Hotel, das wie Portland die besten Zeiten hinter sich zu haben schien, zum Powers Book Store spazierte, fühlte sie mit der Stadt. Auch sie hatte ihre Identität verloren, wusste nicht mehr, wer sie war: Waverly die Archäologin, Waverly die Botanikerin, Waverly die Vorbestrafte, Waverly die Bewährungsversagerin, Waverly die Geflohene. Oder aber die Waverly, die eine drohende Katastrophe abwendete, bevor sie morgen mit dem Zug nach Vancouver weiterfahren würde. Sie hatte immer wieder versucht, Ava zu erreichen, doch es herrschte Funkstille. Dies war nicht Avas Art, die ständig ihr Smartphone in der Hand hielt und auf irgendeine Art kommunizierte. Und so wuchs in ihr langsam die Sorge um ihre Freundin, von der sie so lange nichts gehört und die noch nicht einmal auf ihren Hilferuf reagiert hatte. Im Geiste begann sie, sich auf den heutigen Abend vorzubereiten. Sie hatte im Internet eine der letzten Eintrittskarten für die Lesung erworben. Offenbar war der deutsche Förster in Amerika beliebt. Auf dem langen Flug hatte sie das neueste Buch von Holland gelesen und war mehr als beeindruckt. Es war ein Plädoyer für die Natur und die Pflanzen. In Zeiten des Klimawandels ein ehrenvolles Anliegen. Er bezeichnete sich als Pflanzenneurobiologen, eine Berufsbezeichnung, mit der man bei vielen Kollegen aneckte, unterstellte sie doch, dass Pflanzen über Neuronen verfügten. Er war genau der Richtige für ihr Anliegen, denn das, was sie vermutete, ließ alles in einem vollkommen anderen Licht erscheinen. Sie wusste nicht, was Holland über die neue Pflanze wusste. Aber sie würde es notfalls während der Lesung erfahren, und sie hoffte, die Gelegenheit zu bekommen, nach der Veranstaltung mit ihm zu sprechen, nicht nur über Dechambeau, sondern auch über ihre Entdeckung mit den Pilzen und das Bakterium – allein. Die Schlange vor dem Buchladen war lang. Als sie es endlich hineingeschafft und ihre Jacke an der Garderobe abgegeben hatte, setzte sie sich in die erste Reihe, um ihn nach der Lesung direkt ansprechen zu können. Neben dem Platz mit dem Mikrofon hing ein großes Plakat, das ein Porträt Hollands zeigte. Ein gut aussehender Mann um die vierzig mit visionärem Blick. Das perfekte Werbeplakat. Beim Anblick Hollands fühlte sie zum ersten Mal seit Wochen so etwas wie Zuversicht. Sie brauchte nur jemanden zum Reden, jemanden, dem sie von ihren Recherchen erzählen konnte, von dem, was sie glaubte, entdeckt zu haben. Der Raum füllte sich schnell. Manche der Gäste hatten Gläser mit Sekt oder Orangensaft in der Hand, die sie im Foyer erhalten hatten. Alles schien bereit, bis sie ihn entdeckte. Dechambeau stand am Rande des Raumes, nahe dem Eingang, und schaute zu ihr hinüber. Sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Ihre Schultern verkrampften sich, und ihr Mund fühlte sich mit einem Mal staubtrocken an. Ihr spontaner Impuls war es, aufzuspringen und davonzurennen. Doch dann besann sie sich: Hier im Publikum, mitten unter Menschen, war sie viel sicherer als allein draußen auf der Straße. Sie überlegte, ob sie die Polizei anrufen sollte, aber sie war noch immer eine vorbestrafte Deutsche, die nach Aktenlage auf der Flucht war. Vermutlich würde man sie sofort inhaftieren und abschieben. Sie erwiderte Dechambeaus Blick. Er lächelte nicht, sondern starrte sie mit ernster Miene an. Der Saal füllte sich, ohne dass er seine Position veränderte. Sie spürte, wie ihr heiß wurde. In diesem Augenblick betrat Marcus Holland zusammen mit einem Mann, der sich als Manager des Buchladens und Moderator des Abends vorstellte, die Bühne. Der Stargast des Abends entpuppte sich als smart, charmant und eloquent. Voller Leidenschaft berichtete er von den unterschätzten Fähigkeiten der Pflanzen. Von Mimosen, die sich etwas merkten, Chilis, die Nachrichten empfingen, und Blüten, die lauschten. Sie ertappte sich dabei, wie sie bei seinem Vortrag ihre Umgebung und sogar Dechambeau vergaß, bis ihre Blicke sich kreuzten und sich die Angst sofort zurückmeldete. Was, wenn es ihr nicht gelingen würde, mit Holland zu sprechen? Sie nahm den Gedichtband aus ihrer Handtasche, in dem sie sich Notizen gemacht, das Ginkgo-Blatt und Goethes Brief aus China hineingelegt hatte. In ihr wuchs die Nervosität. Sie hatte Schwierigkeiten, dem weiteren Vortrag zu folgen, lachte an den falschen Stellen. Als es die Möglichkeit gab, Fragen zu stellen, sah sie ihre Chance, ihn auf sich aufmerksam zu machen, gekommen. Als sie sich erhob, blickte sie zu Dechambeau, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Sie fragte Holland, was er über die Ausbreitung der neuen invasiven Pflanze denke, und er reagierte mit Verwunderung. Seine Unkenntnis schien nicht gespielt. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Glaubte man seinem Vortrag, zog er die Pflanze den Menschen vor. Ob es nicht sogar besser sei, wenn man den Planeten den Pflanzen überlassen würde, fragte sie, und Holland reagierte, wie erhofft, indem er dies verneinte. Als die Veranstaltung beendet war, sprang sie auf und lief auf Holland zu. Es waren nur noch wenige Meter, als plötzlich Dechambeau neben Holland auftauchte. In diesem Moment wusste sie, dass er versuchen würde, sie daran zu hindern, mit Holland zu sprechen, dass er nur deshalb gekommen war. Oder wollte er Holland gleich hier und jetzt töten? Vor aller Augen? Sie umklammerte den Gedichtband fester. »Bitte!«, rief sie. Sie klang flehentlich. »Ich muss mit Ihnen sprechen! Er will Sie töten!« Sie hob den Arm und zeigte auf Dechambeau. In diesem Moment rief jemand: »Vorsicht, sie hat eine Waffe!« Verwundert blickte sie auf, sah Dechambeau, der eine Pistole auf sie richtete. Sie duckte sich instinktiv zur Seite, dann spürte sie einen stechenden Schmerz, der ihre Schulter explodieren ließ, und es wurde hell.