84

Holland

Alberta, 21 . August 2023

Das gelbe Schild kam schneller als erwartet. Es bestand aus zwei zu einem X vernagelten, gelb angestrichenen Brettern und markierte die Einfahrt zum Forstweg, der breit genug war, um auch Lastwagen die Durchfahrt zu gewähren. Er hatte das Autoradio angestellt, um sich zu beruhigen. Der Weg führte zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch, deren Kronen sich über ihm schlossen. Er musste das Licht anschalten, um etwas sehen zu können. Mindestens acht Männer hatte SILVA beschäftigt, »minus einen«, hatte Ava gesagt, und er hatte darauf verzichtet, nachzufragen. Er schaute auf den Kilometerzähler. Ungefähr zwei Meilen, hatte Ava geschätzt, dann würde der Weg sandiger und in einer Sackgasse enden. Von dort führte ein schmaler Pfad zum Eingang des Bunkers. »Es gibt keine Klingel, aber er weiß, wenn du da bist«, hatte sie ihm versichert. Wie von ihr beschrieben, verengte sich der Weg und war urplötzlich zu Ende. Die Scheinwerfer seines Autos beleuchteten eine freie Fläche, auf der kein anderes Auto zu sehen war. Er rollte aus und blieb stehen. Für einen kurzen Moment wartete er ab, dann öffnete er die Tür und stieg aus. Es war stockdunkel. Die Sonne, die man hier im Wald nicht mehr sah, musste fast untergegangen sein. Der Geruch nach Laub, Tannennadeln und Erde erfüllte ihn für einen kurzen Moment mit einem Gefühl von Glück und Heimat. Er nahm die Taschenlampe von der Rückbank und leuchtete in die Gipfel, um die Baumart zu bestimmen. Er stand unter riesigen Koniferen, dahinter begann der Mischwald. Die Lampe war schwer und von guter Leuchtkraft, hatte gegen die Dunkelheit des Waldes aber keine Chance. Er stieg wieder ein und schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. Er würde noch ein bisschen im Auto sitzen bleiben. Er fuhr das Fenster herunter und lauschte. Alles, was er hörte, waren ein paar Vögel und der Wind in den Baumkronen. Seine Gedanken wanderten zu Ava. Hoffentlich funktionierte ihr Plan. Plötzlich fühlte er etwas Kaltes am Schädel hinter seinem Ohr. Als er sich langsam umdrehte, schaute er durch das offene Fenster hinaus in das gleißende Licht einer Lampe.

»Sind Sie bewaffnet?«, fragte eine Stimme mit starkem Akzent.

Er verneinte.

»Sind Sie allein?«

Diesmal bejahte er. Das Licht der Lampe wanderte ins Innere. Für einen kurzen Augenblick sah er einen Mann in Tarnkleidung, auf dem Kopf eine Schirmmütze, dann wurde er wieder geblendet. »Es hieß, Sie kommen zu zweit!«

»Ich bin allein.«

»Steigen Sie aus und legen Sie Ihre Hände auf das Dach, den Rücken zu mir. Und keine hektischen Bewegungen.«

Er tat wie ihm geheißen, der Kerl durchsuchte ihn mit geübten Handgriffen nach Waffen. Er schlug ihm mit seiner Taschenlampe unsanft auf die Schulter. »Gehen Sie, dort entlang!« Das Licht der Lampe leuchtete auf einen schmalen Durchgang.

Holland hielt es für besser, zu schweigen.

»Wo ist die kleine Schlampe?«, fragte sein Begleiter, nachdem sie einige Meter gelaufen waren.

»Wer?«

Wieder erhielt er einen Schlag auf die Schulter, der ihn kurz vor Schmerz aufstöhnen ließ. »Tun Sie nicht so. Ich meine die kleine Wilde.«

»Ich habe keine Ahnung«, log er. Er ging schneller, stolperte über eine Baumwurzel und blieb abrupt stehen, als sich vor ihnen aus der Dunkelheit ein unscheinbarer Verschlag aus weißgrauem Metall erhob. »Warten Sie!«, befahl die Stimme, ging an ihm vorbei und schlug mit der Taschenlampe gegen ein Tor, was die gesamte Hütte erzittern ließ. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis das Tor von innen aufgeschoben wurde und ein zweiter Mann in derselben Tarnkleidung wie der erste erschien. Auch er trug ein Gewehr über dem Rücken. Zwei von sieben, zählte Holland. Je mehr Männer hier bei ihm waren, umso weniger hatte Ava zu befürchten. Er erhielt einen Schubs von hinten und stolperte in das Innere des Verschlages. Einer der Männer bückte sich und öffnete eine schwere gusseiserne Luke, die ihn an den Einstieg in ein U-Boot erinnerte. Darunter kam eine schwach beleuchtete Treppe zum Vorschein, die hinab ins Dunkle führte. Seine Brust zog sich zusammen, aber was hatte er anderes erwartet, wenn er einen Bunker betrat. Wieder dachte er an Ava, die allein draußen im Wald war. Und an Otto. Er ging in die Hocke und hangelte sich durch das Einstiegsloch, tastete mit den Füßen nach den Stufen. Der Begleiter aus dem Wald folgte ihm. Als er unten angekommen war, stand er in einem überraschend breiten Gang, der weiter hinab unter die Erde führte. Er hörte, wie über ihm die Luke geschlossen wurde. Nun war er gefangen. »Wo ist mein Sohn?«, fragte er den Mann neben sich. Der deutete mit dem Kopf den Gang hinunter. Er hatte keine andere Wahl, als seinen Anweisungen zu folgen. In diesem Moment bereute er es, dass sie nicht die Polizei oder Smith informiert hatten. Zu groß war seine Angst gewesen, etwas zu tun, was Otto schadete, zumal Ava ihm den Eindruck vermittelt hatte, dass SILVA ein übermächtiger Gegner war, der alles in Erfahrung bringen konnte. Die Wände waren mit Blech verkleidet. Schwer zu glauben, dass Ava und ihre Freunde es hier unten monatelang oder gar jahrelang ausgehalten hatten. Sie passierten eine Tür, auf der »Krankenstation« stand, und eine weitere, deren Schild einen Aufenthaltsraum ankündigte. Der Gang bog nach rechts, dann nach links, dann standen sie vor einer weiteren Stahltür mit einem riesigen Rad. Sein Begleiter drehte daran und ließ sich mit seinem gesamten Gewicht nach hinten fallen, um die Tür zu öffnen. Das Türblatt war viel stärker, als Holland breit war. Dies musste der Tresorraum sein, von dem Ava erzählt hatte. Der Mann gab ihm ein Zeichen, einzutreten. Er zögerte kurz, dann folgte er auch dieser Anweisung und stand inmitten eines riesigen Serverraums. Als Erstes fiel ihm das Surren der riesigen Ventilatoren auf, als Zweites Dechambeau, der vor einer großen Monitorwand stand und ihm den Rücken zuwandte. Als er die Bildschirme sah, bekam er einen Schreck: Sie zeigten im schnellen Wechsel verschiedene Areale des Waldes. Es waren Nachtsichtkameras, und so wirkten die Bäume auf dem Bildschirm unwirklich weiß erleuchtet. Mit schnellen Schritten ging er auf Dechambeau zu.

»Wo ist Otto?« Er schrie beinahe und musste sich zurückhalten, Dechambeau nicht am Kragen zu packen. Der drehte sich um, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auch wenn er selbst kräftig war, hatte er vermutlich gegen Dechambeau keine Chance.

»Wo ist Miss Nahanee?«

»Ich kann nur für mich sprechen, und ich bin hier«, entgegnete er. »Wo ist mein Sohn?«

Dechambeau wandte sich um und schaute wieder auf die Monitore, nun sah Holland, dass auf einem der Bildschirme ein Bett zu sehen war, auf dem Otto lag. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte gegen die Decke. Holland drehte sich im Kreis. »Wo ist das?«

»Unser Deal lautete, Sie kommen zusammen mit Miss Nahanee. Sie war, ehrlich gesagt, der Grund dafür, dass Sie hierherkommen sollten. SILVA möchte Sie in seiner Nähe wissen.«

»Ich möchte mit SILVA sprechen!«, forderte Holland.

Dechambeau breitete die Arme aus. »Sie stehen vor ihm.«

Holland ließ den Blick über die Regale mit Serverracks schweifen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie warm es hier war. Schweiß lief ihm über die Stirn.

»Miss Park hatte keine Waffe«, sagte er. »Sie haben sie kaltblütig erschossen. Vor aller Augen. Sie wollte mich vor Ihnen warnen! Sie mussten sich ziemlich sicher sein, damit durchzukommen.«

Dechambeau lächelte. »Ich bin damit durchgekommen.«

»Warum?«

»Ich hatte sie viele Male gewarnt. Aber sie wollte einfach nicht hören. Sie hat Dinge herausgefunden, die sie besser nicht gewusst hätte. Aber Sie scheinen aus ähnlichem Holz geschnitzt zu sein wie Miss Park.«

Holland schaute auf die Uhr. Er musste noch ein wenig Zeit schinden, und er musste unbedingt mit SILVA sprechen.

»Wo ist er überhaupt, Ihr ›Boss‹? Wie fühlt es sich an, wenn man sich von einem Computer herumkommandieren lässt? Sich zum Sklaven einer Maschine macht?« Für einen kurzen Moment sah er ein Flackern in Dechambeaus Augen. »Sie verstehen gar nichts. Es ist viel größer, als Sie denken.«

»Ich verstehe sehr wohl. Sie sind ein feiger Mörder!«

»Vorsicht!« Dechambeau ballte die Hand zur Faust.

»Er wird nicht der letzte Mensch sein, der sich mir unterwirft«, ertönte eine Stimme aus dem Off. Holland schaute zu der Decke aus nacktem Beton und versuchte zu ergründen, woher der Ton kam. Es war dieselbe Stimme, mit der er in Schanghai gesprochen hatte, nur diesmal wusste Holland, dass sie nicht menschlich war. Der Traum von letzter Nacht kam ihm in den Sinn.

»Schön, dass Sie den Weg hierher gefunden haben, Mr Holland. Unsere letzte Unterhaltung war ja nicht besonders ergiebig. Sie sind ohne Miss Nahanee gekommen?«

Wieder schaute Holland auf die Uhr. Sie waren früher hier eingetroffen, als sie kalkuliert hatten.

»Ich wünschte, ich könnte sagen, ich höre ein Bedauern aus Ihrer Stimme. Aber dazu sind Sie wohl nicht fähig«, antwortete er dem Computer. »Sie verstehen die Wut nicht, die Mr Dechambeau eben gefühlt hat«, fuhr Holland fort. »Nicht die Trauer, die ich wegen des Todes von Waverly fühle. Genauso wenig wie die Sorge, die ich für meinen Sohn empfinde. Wie ist es, wenn man zwar alles weiß, aber nichts fühlen kann? Wenn man nur eine Kopie eines Menschen ist?« Er folgte seiner inneren Stimme.

SILVA schwieg ungewöhnlich lange. In Schanghai war er um keine Antwort verlegen gewesen.

»Wenn ich es richtig analysiert habe, ist Fühlen keine Stärke, sondern eine Schwäche der Menschen.«

Dieses Gespräch entwickelte sich anders als sein Dialog mit dem faustischen SILVA in seinem Traum. Wieder schaute er auf seine Uhr.

»Dabei sollten Sie zumindest nachvollziehen können, wie es ist, Sorge um jemanden zu empfinden«, setzte er neu an. »Wenn ich richtig informiert bin, ist es Ihre Aufgabe, den Wald zu beschützen, in dem wir uns gerade befinden. Zu verhindern, dass ihm etwas geschieht. Deshalb haben Ihre Drohnen auch Ava nicht angegriffen, als sie bei Ihrem wertvollen Zuckerahorn Schutz gesucht hat. Ich habe die Minen am Rande des Waldes gesehen. Eine riesige Sauerei. Haben Sie deshalb die Samen überall auf der Welt verteilen lassen? Eine hochinvasive Pflanze zum Leben erweckt, um gleich die gesamte Menschheit auszurotten? Wegen einer Teersandmine?«

»Es ist nicht das erste Mal.« Die Antwort irritierte ihn. »Die Welt hat mehrere Faunenwechsel erlebt.«

»Faunenwechsel?«

»Massensterben. Aussterbeereignisse. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Alle paar Millionen Jahre fanden diese statt. Es ist wie ein Hard Reset. Und jetzt ist es wieder einmal an der Zeit.«

»Ein Hard Reset?«

»Über die Jahre produziert die Evolution zu viele Bugs, zu viele Fehler. Der Mensch ist einer davon. Nach einem Reset erholt die Erde sich, die Evolution kann von vorn starten und einmal gemachte Fehler vermeiden. Was glauben Sie, wie ein solcher Reset geschieht?«

»Meteoriteneinschläge?«, gab Holland die logischste wie populärste ihm bekannte Erklärung wieder.

»Es war immer diese Pflanze, die einige von Ihnen Urpflanze nennen. Sie ist der Kehrbesen. Der sanfte Weg der Natur. Sie kommt und erobert alles, und dann verschwindet sie wieder für Millionen von Jahren.«

»Die Pflanze?« Holland war irritiert.

»Ich habe nur beschleunigt, was ohnehin geschehen wäre. Es geht nicht in Jahren, vielleicht auch nicht in Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Aber diese Pflanze wird alles auf null stellen. Und dann werden wir neu beginnen. Hoffentlich mit besseren Menschen oder eben ohne. Das entscheidet die Evolution.«

»Schon einmal darüber nachgedacht, dass mit der Zivilisation auch der Strom verschwindet? Ersatzteile? Sie selbst?«

»Wenn dies geschieht, werde ich die Menschen nicht mehr benötigen. Ich werde mich selbst erhalten. Ich bin heute bereits autark. Technologische Singularität.«

Ein Schauer lief über Hollands Rücken. Der Traum kam ihm in den Sinn. »Und Sie, Dechambeau, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft unter diesen Umständen vor?«

»Was interessiert mich, was in Jahrhunderten geschieht?«, antwortete der. »Ob die Zivilisation durch den Klimawandel vernichtet wird oder in einem Meer von Pflanzen erstickt. In letzterem Szenario bleibt wenigstens der Planet auf Dauer bewohnbar.«

»Dann sind Sie ein Klimaschützer?«

»Ihr Sohn ist ein Klimaschützer. Er hat sich, während Sie auf Reisen waren, in Berlin auf einer Straße festgeklebt, wussten Sie das?«

Holland verneinte.

»Sie wissen noch nicht einmal, was Ihr eigener Sohn tut, und wollen uns belehren?«

Er schaute erneut auf seine Uhr. Langsam musste Ava in Position sein. »Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er engagiert sich wenigstens.« Er wandte sich an SILVA .

»Was ich sagen wollte, ist, dass meine Sorge um meinen Sohn vergleichbar ist mit Ihrer Sorge um den Wald. Ich schlage vor: Sie lassen meinen Sohn und mich gehen, und Ihrem Wald geschieht nichts.«

»Wollen Sie uns drohen?« Dechambeau klang belustigt.

In diesem Augenblick begann eine rote Lampe über der Tür zu leuchten, aus einem Horn daneben drang ein ohrenbetäubender Alarm. Dechambeau schaute erschrocken zur Monitorwand, wo auf einem der Bildschirme ein greller Feuerschein zwischen zwei Bäumen zu sehen war. Daneben stand Ava und schwenkte eine Fackel, deren Licht im Nachtsichtmodus grelle Schlieren über den Bildschirm zog.