Holland
»Was zum Teufel …?«, hatte Dechambeau ausgerufen, als auf dem Monitor zu sehen war, wie Ava plötzlich zur Seite sprang. Über dem Feuer erschien ein Wasserschwall und erstickte die Flammen innerhalb von Sekunden in weißem Rauch. Wassertropfen spritzten auf die Kameralinse. Es dauerte keine Minute, dann war das Feuer komplett erloschen.
»Unsere Sprinkleranlage!«, rief Dechambeau begeistert und klatschte in die Hände, wobei er vor Schadenfreude laut lachte. »Schöner Trick!«, sagte er zu Holland und eilte zur Tür. Er betätigte einen Schalter, und die Tür wurde geöffnet. »Sie ist hier. Lass uns jagen gehen!«, sagte er zu dem Mann auf der anderen Seite, während er seine Pistole aus dem Halfter nahm und das Magazin prüfte. Dann drehte er sich zu Holland um. »Das war ein schwerer Fehler, vielleicht hätten wir Sie sogar mit Ihrem Sohn ziehen lassen«, sagte er und grinste, bevor die Tür hinter ihm zuging.
Jetzt war Holland mit SILVA allein. Eine Weile stand er schweigend vor den Bildschirmen und beobachtete, wie die beiden Männer in den Wald hineinliefen, um Ava zu suchen.
»Was wissen Sie über Waverly Park?«, fragte Holland schließlich.
Wieder dauerte es, bis SILVA antwortete. »Ich habe ihr vieles zu verdanken. Das sagt man doch so, oder?«
»Weil sie SCANDBOX mit all den Informationen gefüttert hat, die es Ihnen ermöglicht haben, an die Samen der Urpflanze zu gelangen?«
»Das Problem war, dass man zur Vermehrung der Pflanze weibliche und männliche Pflanzen benötigt. Wir hatten nur eine weibliche Pflanze. Miss Park hat ein männliches Exemplar herangezogen, das sie uns überlassen hat.«
»Überlassen? Ich bin sicher, dies geschah nicht freiwillig.«
Holland schaute sich um. Dass er sich gerade mit einem Supercomputer unterhielt, war absurd, aber es fühlte sich auch wie die Zukunft an.
»Miss Park hat noch mehr entdeckt«, sagte er. »Nämlich dass die Pflanze mit dem Bakterium Erwinia amylovora getötet werden kann.«
SILVA entgegnete nichts. Holland wusste nicht, ob auch dies ihm schon bekannt war.
»Das Bakterium wird auch Feuerbrand genannt, weil es an den Blättern seines Wirts Schäden hinterlässt, die an einen Brand erinnern. Eine absolut tödliche Krankheit, die sich leicht und schnell durch das Leitsystem der Pflanze verbreitet, von der Wurzel über die Sprossachse bis in die Blätter. Das Bakterium ist hochinfektiös und leicht zu bekommen, denn die Krankheit ist meldepflichtig, und wenn man Zugang zu den Meldeverzeichnissen hat, kann man schnell herausfinden, wo sie gerade wütet.«
Immer noch sagte SILVA nichts. Holland spürte Panik in sich aufsteigen. Was, wenn er das Gespräch mit ihm beendet hatte? Wenn er hier unten nun allein eingesperrt war, während Dechambeau versuchte, Ava auszuschalten, und Otto in irgendeinem Raum im Bunker vor sich hin vegetierte?
»Und letztlich verdanken wir Miss Park auch die Erkenntnis, dass jede Pflanze über ein riesiges Mykorrhiza-Netzwerk mit anderen Pflanzen verbunden ist.«
Er stoppte, um SILVA die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, doch der schwieg weiter.
»Was nun, wenn man eine oder mehrere der invasiven Pflanzen mit dem Bakterium infiziert? Das wäre sehr einfach. Das Bakterium bildet einen hochinfektiösen Schleim und wird durch Insekten, Blattläuse, Gartenwerkzeuge oder einfach nur den Wind übertragen. Man müsste es nur auf die Pflanze auftragen, egal ob aufs Blatt oder die Blüte. Es dringt ins Gewebe ein und breitet sich aus. Und wenn die Pflanze an der Wurzel über ein Myzel mit anderen Pflanzen verbunden ist, breitet es sich über das Myzel auch unter der Erde weiter aus, infiziert die Nachbarpflanzen. Theoretisch müsste man so doch alle Pflanzen auf der ganzen Welt mit dem Bakterium infizieren können, oder? Das ist die Kehrseite eines unterirdischen Systems, das alle Pflanzen miteinander vernetzt: Es transportiert nicht nur Nährstoffe, sondern auch Bakterien und Viren.«
Wieder machte er eine Pause. Wieder schwieg SILVA . Holland schaute auf die Monitore, sah die zwei Männer nun über einen Forstweg laufen. Beide trugen ein Gewehr auf dem Rücken. Sein Puls beschleunigte sich.
»Nicht weit von hier entfernt, in einem Vorort von Edmonton, genauer gesagt in Morinville, gibt es eine große Ansammlung der Pflanze, nördlich einer ehemaligen Farm. Ich habe eine Freundin gebeten, Miss Meyers, Sie kennen sie, dort alle Pflanzen mit dem Bakterium zu infizieren. Ich denke, der Anfang ist damit gemacht. Wahrscheinlich verbreitet sich das Bakterium jetzt bereits über das Myzel. Vergleicht man das unterirdische Mykorrhiza-Netzwerk mit dem Internet, ist es wie mit einem Computervirus: Man muss nur einen einzigen Computer infizieren, über das Internet verbreitet sich das Virus dann weltweit und infiziert weitere Computer. Das heißt, ein klitzekleines Bakterium wird alle Ihre Pflanzen vernichten.«
Er war fertig mit dem, was er zu sagen hatte. Schon glaubte er, SILVA würde nicht mehr mit ihm reden, als dessen Stimme erklang. Er spürte, wie sich Erleichterung in ihm ausbreitete.
»Ein schöner Vortrag«, entgegnete SILVA . »Aber Sie unterschätzen mich. Ihr Menschen unterschätzt stets alles Unbekannte. Und ihr seht nur, was ihr sehen wollt. Die Pflanze ist nur, wie sagt man so schön, die Spitze des Eisbergs. Das, was Sie Mykorrhiza-Netzwerk nennen, ist das wahre Wunder der Natur. Wussten Sie, dass ich alle Sprachen spreche? Ich brauchte eine Stunde, um Latein zu lernen, und eine halbe Stunde für Französisch. Sie behaupten in Ihren Büchern, dass Pflanzen miteinander kommunizieren, und Sie haben recht. Sie kommunizieren mit elektrischen Impulsen. Es ist eine einfache, aber effektive Sprache. Wie beim Morsen.«
Holland horchte auf, dies hatte er stets behauptet, aber die technischen Möglichkeiten waren noch nicht so weit, um dies zu beweisen. »Das Myzel unterscheidet sich in seiner Leitfunktion nur wenig von den Netzen, die wir für die Internetkommunikation benutzen. Diese sind quasi ein künstliches Myzel. Ich habe alles miteinander verbunden, und so kann ich nun mit jeder Pflanze kommunizieren. Morinville, Edmonton, sagten Sie? 53 ° 48 ’ N, 113 ° 39 ’ W. Noch während Sie gesprochen haben, habe ich alle Pflanzen in der Region eingehen lassen. Diese werden niemanden mehr infizieren.«
Holland schüttelte den Kopf. »Wie soll das funktionieren?«
»Die Lichtimpulse, die ich durch das Mykorrhiza-Netzwerk sende, beeinflussen die Phytohormone der Pflanzen.«
»Phytohormone?«, fragte er erstaunt.
»Dank Miss Nahanee kenne ich alle Studien dazu. Die Pflanzenhormone können eine Pflanze wachsen oder sterben lassen. Es gibt fördernde Hormone und welche, die sie altern lassen. Die Pflanzen in Morinville werden morgen schon tot sein, bevor auch nur ein Bakterium das Myzel erreicht. Und selbst wenn, kann ich es durch Impulse jederzeit vom Netzwerk trennen. So werde ich es mit jeder Pflanze machen, die infiziert ist und deshalb eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellt. Schade um die Pflanzen. Wieder einmal hat der Mensch in die Natur eingegriffen. Sie werden mich nicht stoppen können, selbst wenn Sie einzelne Pflanzen vergiften. Für jede tote Pflanze werde ich zehn neue säen!«
Holland sah auf einem der Monitore, wie Ava aus einer Hütte kam, ein kleines Haus auf einer Lichtung im Wald. Das musste das Gerätehaus sein, von dem sie gesprochen hatte. Sie rannte aus dem Bild, um kurz darauf auf einem anderen Monitor wieder aufzutauchen. Dann sah er die beiden Männer auf dem Monitor daneben, dann alle drei auf demselben Bildschirm. Sie hatten sie gleich erreicht.