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Schorfheide, 24 . August 2023

Sie saßen um Hollands Esstisch, der aus einer massiven Baumkante gefertigt war. Vor ihnen standen Tassen mit dampfendem Tee, den er im Duty-free-Shop am Flughafen in Schanghai gekauft hatte.

»Es geht«, antwortete Greta auf Hollands Frage nach den Schmerzen. Sie streckte ihre Hand aus und griff nach seiner.

Am Morgen war sie, aus Schanghai kommend, in Berlin gelandet und war ganz in Schwarz gekleidet. Holland vermutete, aus Trauer um ihren Verlobten. Sie hatten beschlossen, dass sie nicht sofort zurück in die USA flog, sondern für einige Tage zu ihm und Otto in die Schorfheide kam. Bei der Begrüßung hatten sie sich lange und innig umarmt.

»Und wie geht es Ihnen?«, fragte Greta und wandte sich Waverly zu.

»Jeden Tag ein wenig besser«, entgegnete sie und rollte wie zum Beweis mit der Schulter. »Es war ein glatter Durchschuss. Die Ärzte sagen, ich habe Glück gehabt.«

Greta schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich habe es noch immer nicht ganz verstanden. Alle dachten, Sie seien tot!«

»Das war Dechambeaus Plan. Er wollte Sie dies alle glauben lassen, damit Sie nicht versuchen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Vielleicht hoffte er auch, dass ich es nicht überleben würde. Ich wurde noch am selben Abend operiert und lag danach zwei Tage im künstlichen Koma. Als ich wieder erwachte, sah ich auf meinem Handy irgendwann die E-Mail von Ava, mit der sie mich aus dem Wald um Hilfe gebeten hat.«

»Ich habe die E-Mail mit meinem Standort aus dem Geräteschuppen im Wald an dich versandt, als ich dachte, dass ich es nicht überleben würde!«

»Sobald die Schmerzmittel es zuließen, bin ich aus dem Krankenhaus abgehauen und nach Vancouver gefahren, in Avas Wohnung.«

»Während ich in deiner Wohnung in Berlin war!«, stellte Ava amüsiert fest.

»Dort habe ich mich umgezogen und bin wieder los. Deine E-Mail enthielt alle Koordinaten. Ich habe einen deiner Sportbögen mitgenommen. Das war eher Verzweiflung.« Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck vom Tee.

»Warum sind Sie nicht einfach zur Polizei gegangen?«, fragte Holland.

»Um der Polizei was zu erzählen? Dass ich unter Verletzung meiner Bewährungsauflagen eingereist bin? Dass mich ein Mitarbeiter von Homeland Security niedergeschossen hat? Ich wusste nicht, wie weit Dechambeaus Einfluss reichte!«

»Im Wald fand ich den Geräteschuppen. Doch von Ava war weit und breit nichts zu sehen. Ich suchte die nähere Umgebung ab, als ich plötzlich Avas Stimme hörte. Sie war weit weg, und mit meiner Verletzung konnte ich nicht schnell laufen, aber ich kam gerade dort an, als es eine Explosion gab. Danach habe ich beobachtet, wie Dechambeau Ava bedrohte. Und mit ihm hatte ich sowieso noch eine Rechnung offen.«

»Bei unseren Bogenschießübungen in Berlin hast du niemals getroffen!«, sagte Ava lachend.

»Es war die Wut. Ich habe an deinen Tipp gedacht: Mehr aus der Schulter. Der Schuss tat höllisch weh!«

»Ich bin jedenfalls froh, dass Sie leben«, sagte Holland. Waverly nickte, ihre Augen wurden feucht. »Und ich erst einmal«, erwiderte Ava, nahm Waverlys Hand und küsste sie.

Otto zeigte auf den Fernseher, in dem noch immer über die Feuerkatastrophe von Alberta berichtet wurde. »Sie haben den Abbau von Teersand in Kanada erst einmal gestoppt«, sagte er. »Aber ich bin sicher, die Geldgier wird überwiegen!«

Der Brand im Norden Kanadas war einer der verheerendsten in Nordamerika seit Jahrzehnten. Das Öl aus den Minen fachte die Waldbrände immer wieder neu an.

»Hier kann man sehen, dass von SILVA s Wald nichts mehr übrig geblieben ist.« Ava nahm ihr Handy und zeigte ein Satellitenbild. »Das Schwarze ist alles Asche.« Daneben legte sie ein Bild von vor drei Monaten. Tatsächlich war der ehemals grüne Wald geradezu ausradiert.

»Was können die Bäume dafür?«, fragte Holland. Ihm blutete bei dem Anblick das Herz.

»Ohne Wald gibt es keinen SILVA mehr. Im Bunker kamen wir an ihn nicht heran. Seine Systeme waren hermetisch abgeriegelt. Aber mit seinem Wald haben wir ihm seine Bestimmung genommen. Ein Hütehund ohne Schafherde ist nur noch ein Hund.«

»Und dass die Teersandminen brennen, ist kein Verlust«, ergänzte Waverly. »Ich habe sie dort auch gesehen. Der Abbau ist ein widerliches Verbrechen an der Natur.«

»Hätte ich das getan, hätte ich Ärger mit Papa bekommen«, bemerkte Otto.

»Er hat sich aus Protest gegen den Klimawandel auf die Autobahn geklebt, während wir in China waren«, sagte Holland und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, sodass dessen Cap verrutschte. Otto versuchte, den Schlag seines Vaters mit einer ärgerlichen Handbewegung abzuwehren.

»Dein Vater hat währenddessen eine Lagerhalle angezündet«, sagte Greta. Otto schaute verwundert zu Holland, der Greta mit einem tadelnden Kopfschütteln bedachte.

»Zurück zum Thema!«, sagte Holland. »Ava hat die Daten analysiert, die sie im Gerätehaus Nummer drei ausgelesen hatte, während ich SILVA im Bunker vorgespielt habe, du hättest in Edmonton Pflanzen mit Erwinia amylovora vergiftet.«

»Erwinia amylovora?«, fragte Greta. »Das ist Feuerbrand! Extrem schwer zu bekämpfen und sehr infektiös!«

»Und daher auch sehr schwer zu beschaffen. Aber Waverly hatte ihre Erkenntnisse in SCANDBOX eingepflegt, und SILVA hielt es daher offenbar für möglich, dass das Bakterium tatsächlich eine Gefahr für die Assassina incognita darstellt. Er musste es nur glauben. Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht.« Er schaute zu Waverly, die ihrerseits mit der gesunden Schulter zuckte. »SILVA kennt aber anscheinend keine Lügen und hat uns unseren Bluff abgenommen. Seine KI hat erwartungsgemäß sofort die scheinbar infizierte Kolonie in Edmonton isolieren und abtöten wollen.«

»Zu diesem Zweck hat er entsprechende Impulse durch das Mykorrhiza-Netzwerk geleitet. Er war anscheinend in der Lage, von Alberta aus das gesamte unterirdische Pilznetzwerk weltweit mithilfe von Licht- und Elektroimpulsen zu steuern. So konnte er bestimmte Pflanzen wachsen und andere eingehen lassen. Wie der Anführer einer riesigen Armee.«

»Das klingt unglaublich!«, sagte Greta.

»Er hat letztlich nur das gemacht, was Computer tagtäglich milliardenfach tun: Signale gesendet. Das Internet funktioniert genauso«, ergänzte Ava. »Aber ich habe die Signale, während Marcus mit SILVA im Bunker sprach, über die von Juri programmierte Hintertür im Gerätehaus Nummer drei mit dem Laptop abgefangen und aufgezeichnet. Und nun wissen wir, welche Signale ins Myzel zu senden sind, um die Assassina incognita zu töten. Sie drehte den Laptop, sodass alle den Bildschirm sehen konnten, und drückte einen Knopf. Auf dem Bildschirm erschien eine Grafik, die Holland an einen Morsecode erinnerte. »Das ist die Signalabfolge. Wenn wir sie kopieren und ebenfalls ins Mykorrhiza-Netzwerk senden, sollten alle daran angeschlossenen Assassina incognita eingehen. Es ist wie ein Befehl, sich selbst umzubringen.«

Greta schüttelte den Kopf. »Pflanzen über das Internet und ein Pilzgeflecht mit Lichtimpulsen steuern … das klingt wie Science-Fiction.«

»SILVA sagte, er würde damit an den Wurzeln Reize setzen, um die Pflanze Phytohormone produzieren zu lassen, die beispielsweise die Alterung beschleunigen. Die Forschung in Bezug auf das Mykorrhiza-Netzwerk und die Bedeutung von Phytohormonen für das Pflanzenwachstum steht noch ganz am Anfang«, sagte Holland. »SILVA schien uns hier mit seinen Berechnungsmöglichkeiten weit voraus.«

»Und wie wollen Sie es ins Mykorrhiza-Netzwerk spielen«?, fragte Greta.

»Über dieselben Zugänge wie SILVA . Das Feuer hat die Server im Bunker nicht zerstört, auch die Knotenpunkte sind in der Cloud noch verfügbar. Ich konnte mich über den von uns programmierten Hintereingang dort einhacken.«

»Und wenn wir das tun, sterben alle Assassina incognita ab?«, fragte Otto. »Auf der ganzen Welt?«

»Alle, die mit dem unterirdischen Pilz verbunden sind. Und da jede Pflanzenart ihre ganz eigenen Pilze benutzt, können wir es sogar auf Assassina incognita beschränken.«

»Und auf der anderen Seite des Atlantiks?«

»Es scheint alles auch über die Ozeane hinweg über die unterirdischen Seekabel, an denen die Pilzfäden entlanggewachsen sind, miteinander verbunden.«

Wieder schüttelte Greta ungläubig den Kopf.

»Ich habe es die letzten Tage programmiert. Ich muss nur noch den Knopf drücken«, sagte Ava feierlich. Sie schwebte mit dem Finger über der Entertaste, als Ottos Hand sich schützend über die Taste legte.

»Nein!«, sagte er mit fester Stimme. »Mach es nicht!«

»Was?«, fragte Ava überrascht.

»Die Pflanze töten!«

»Hey!«, sagte Waverly, »weißt du, was du da sagst? Die Pflanze ist kurz davor, die Menschheit auszurotten.«

»Ich weiß«, sagte Otto. »Das hat SILVA mir erklärt, nachdem man mich dorthin gebracht hat. Ich lag auf dem Bett in dem Raum und wusste da noch nicht, dass es ein Supercomputer ist, mit dem ich spreche. Aber er hat mir erläutert, dass diese Pflanze Gottes Art ist, einen Reset in der Evolution zu machen. Und dass es fünf vor zwölf für so einen Neustart ist, wissen wir alle.«

»Hat er wirklich von Gott gesprochen?«, wollte Holland wissen.

»Das weiß ich nicht mehr, aber in diesem Punkt hatte SILVA recht. Zerstöre die Pflanzen nicht. Bitte.« Er klang flehentlich.

»Damit die Pflanze sich weiter ausbreitet?«, fragte Greta. »Du siehst doch jeden Tag im Fernsehen, was sie anrichtet! Wo sollen wir Menschen in Zukunft leben? Was ist mit dem Wald deines Vaters? Es wird über kurz oder lang Verteilungskämpfe um Nahrung geben, wenn die Menschen sich zur Bekämpfung der Pflanze nicht vorher selbst mit Herbiziden vergiften.«

»Ich habe eine Verantwortung dir gegenüber«, sagte Holland und streckte die Hand aus, um selbst auf die Entertaste zu drücken. »Ich muss dir eine gute und lebenswerte Zukunft ermöglichen.«

»Eine gute und lebenswerte Zukunft? Ich denke, dafür ist es bereits zu spät!«, sagte Otto und stieß einen verächtlichen Laut aus. »Du predigst seit Jahren, Pflanzen seien die wahren Herrscher, und nun, wo sie es werden können, willst ausgerechnet du das verhindern?«

»Die Wirklichkeit sieht anders aus. Du und deine Kinder, ihr könnt sehr wohl noch ein lebenswertes Leben führen. Und es ist immer noch nicht zu spät, etwas zu ändern!«

In diesem Moment zog Otto seinen Arm zur Seite.

»Ava!«, sagte Holland. »Jetzt drück die Taste!«

Ihr Finger schwebte über der Tastatur, ohne sich zu bewegen. »Meine Vorfahren lebten in Kanada glücklich und zufrieden im Einklang mit der Natur, bis die Siedler kamen und erst meine Vorfahren und dann die Natur vernichtet haben«, sagte sie. »Sie waren schlimmer als diese Pflanze. Du hast die Ölsandminen selbst gesehen! Wenn wir diese Taste drücken, wird es weitergehen wie bisher.«

»Was ist los mit euch?«, fragte Holland.

»Was glaubst du, warum ausgerechnet du die Samen per Post zugesendet bekommen hast?«, fragte Ava. Sofort nach der Rückkehr hatte er die Pflanze, die Melissa und Otto eingepflanzt hatten, samt einem großen Stück des Myzels aus seinem Beet entfernt und in einem Fass verbrannt, dies verschlossen und entsorgt.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Holland. »Vermutlich ein bloßer Zufall, viele andere haben es auch erhalten.«

»Das war kein Zufall«, sagte Ava. »SILVA ist wie ein riesiger Schachcomputer. Er plant alle Züge im Voraus.«

»Vielleicht wollte er so meine Aufmerksamkeit. Oder es war ein Anschlag auf mich.«

»Das mag für andere gelten. Vermutlich hat er wegen des DEF -AI -TAC -Projekts noch Zugang zu Google-Suchdaten gehabt, Leute ausgesucht, die nach pflanzenaffinen Themen gegoogelt oder in letzter Zeit große Mengen Pflanzendünger bestellt haben oder vielleicht gerade einen neuen Glasfaseranschluss erhalten haben, damit er gute Chancen auf den Zugriff des Myzels hat«, sagte Ava.

Er dachte an die Rechnung, die er nach seinem Asthmaanfall in der Küche in Cottonwood entdeckt hatte. Auch die Farmerin schien kürzlich einen nagelneuen Internetanschluss erhalten zu haben.

»Ich denke aber, dich hat er nicht zufällig ausgesucht, weil er wusste, was kommen würde. Wie gesagt, er ist wie ein riesiger Schachcomputer, der alle Züge, die eigenen und die seines Gegners, bis ins Letzte kalkuliert.«

»Eine KI , die die Zukunft voraussagen kann?« Holland hatte offenbar noch immer Probleme, sich in die Gedankenwelt eines Computers hineinzuversetzen.

»Es gibt sogar KI , die Verbrechen voraussagen kann, die noch nicht einmal geschehen sind und von denen diejenigen, die sie begehen werden, noch nicht wissen, dass sie zum Täter werden.«

»So wie wir, die gerade kurz davor sind, Millionen von Pflanzen umzubringen?«, warf Otto ein.

Holland nahm seine Hand nicht zurück, sondern ließ sie über der Entertaste.

»Um den Lebensraum von Milliarden Menschen zu retten«, hielt Greta weiter dagegen. »Und jede Sekunde, die wir zögern, könnte weitere Menschenleben gefährden!«

»Dafür aber den Planeten retten!«, sagte Otto und erhob sich.

»Und was, wenn SILVA , wie ein Schachcomputer, auch diesen Zug vorausgesehen hat?«, gab Waverly zu bedenken. »Wenn SILVA wusste, dass wir bloß bluffen und das Signal abfangen. Und er zu den Pflanzen nach Edmonton gar keinen Selbstzerstörungsimpuls über das Myzel gesendet hat, sondern den Befehl, zu wachsen? Dann würden wir mit dieser Aktion hier allen Pflanzen auf der Welt einen Wachstumsbooster verpassen!«

»Das werden wir so schnell nicht herausfinden können«, entgegnete Ava. »Sie haben die Pflanzen in Edmonton leider zwischenzeitlich mit Herbiziden vernichtet und entfernt, bevor jemand nachschauen konnte.«

Hollands Blick wanderte von Greta zu Ava, dann zu Waverly und zu seinem Sohn, der mit verschränkten Armen und trotzigem Blick neben dem Tisch stand und von ihm erwartete, dass er das Richtige tat. Dann schaute er hinüber zu der Kommode, wo ihm Hanna von einem Familienfoto aus glücklichen Tagen entgegenlächelte. Er schob den Stuhl, auf dem er saß, zur Seite, erhob sich und drückte ENTER .