KAPITEL 1
W enn man im Sommer 1660 in Massachusetts die vier Meilen von Boston nach Cambridge gereist wäre, hätte man nach der Überquerung des Flusses Charles als Erstes das Haus der Gookins gesehen. Es stand an der Straße am Südrand der Niederlassung, gleich hinter der Flussbiegung auf halber Strecke im sumpfigen Land zwischen dem Charles und dem Harvard College – ein stattliches zweistöckiges Holzgebäude auf eingezäuntem eigenem Grund, mit einem Speicher unter einem steilen Dach, von wo man freie Sicht auf den Charles hatte. In jenem Jahr baute die Kolonie die erste Brücke über den Fluss. Neben der Böschung, wo die Fähre anlegte, wurden gerade dicke Holzpfeiler in den Schlamm getrieben. Die einschläfernde Mittsommerluft trug das Hämmern und Sägen und die Rufe der Arbeiter bis zum Haus.
An diesem besonderen Tag – Freitag, der 27. Juli – stand die Vordertür weit offen, und an den Torpfosten war ein Schild genagelt worden, auf das in Kinderschrift Willkommen zu Hause stand. Es hatte geheißen, ein Schiff aus London, die Prudent Mary, sei zwischen Boston und Charlestown vor Anker gegangen. Und unter den Passagieren befinde sich Mr Daniel Gookin, der Herr des Hauses, der nach zweijähriger Abwesenheit nach Amerika zurückgekehrt sei.
Das ohnehin makellose Haus war noch einmal aufgeräumt und ausgekehrt, die Kinder geschrubbt und in ihre beste Sonntagskleidung gesteckt worden. Am frühen Nachmittag saßen alle fünf mit Mrs Gookin in der Stube und warteten: Mary, zwanzig Jahre alt, benannt nach ihrer Mutter, Elizabeth, achtzehn, und die drei jüngeren Brüder Daniel junior, zehn, Samuel, acht, und der vierjährige, an seinen Haaren herumzupfende Nathaniel, der bei Gookins Abreise noch nicht sprechen konnte und keine Erinnerung an ihn hatte.
Mrs Gookin wusste, dass er nicht deshalb so unruhig war, weil sie ihn an diesem sonnigen Nachmittag nicht aus dem Haus ließ, sondern weil er zum ersten Mal bewusst seinen Vater sehen würde. Sie hob ihn auf ihre Knie, strich ihm über den Scheitel und erzählte ihm von dem Mann, der bald durch die Tür kommen würde – von seiner Güte und Freundlichkeit, seiner Kraft und Tapferkeit und seiner bedeutenden Arbeit für die Regierung in London, wohin ihn der Lordprotektor persönlich gerufen hatte. »Er liebt dich, Nat, und mit Gottes Hilfe wirst auch du ihn lieben.«
»Was ist ein Lorbebäcker?«
»Lordprotektor. Das war der Herrscher und Beschützer von England und Amerika.«
»Wie ein König?«
»Ja, wie ein König. Nur besser, weil das Parlament ihn gewählt hat. Aber der Protektor ist jetzt tot. Deshalb kommt dein Vater nach Hause.«
Nat machte große Augen. »Aber wenn der tot ist, wer tut uns dann beschützen?«
Das war die Frage, auf die die intelligentesten Köpfe Englands keine Antwort gehabt hatten und auf die auch Mrs Gookin keine hatte. Sie wandte sich über Nats Kopf hinweg an ihre Tochter. »Mary, geh doch mal hinauf in den Speicher, und schau, ob dein Vater schon kommt.«
Mary rannte die Treppe hinauf, kam eine Minute später zurück und berichtete, die Fähre liege immer noch am Ufer gegenüber, und auch auf der Straße sei niemand zu sehen.
Nun stieg alle Viertelstunde eines der Kinder hinauf in den Speicher und hielt Ausschau, aber jedes kehrte immer mit der gleichen Antwort zurück. Allmählich überkam Mrs Gookin der schreckliche Gedanke, dass ihr Mann überhaupt nicht mehr kommen würde, dass das Schiff gar nicht angelandet sei oder dass es zwar angelegt habe, aber ihr Mann gar nicht an Bord gewesen sei. Vielleicht war er in London gar nicht an Bord gegangen, oder auf der zweimonatigen Atlantiküberquerung war ihm irgendein Unglück widerfahren. Der verhüllte Leichnam, die versammelte Besatzung, die kurzen Gebete, die am Hals beschwerte Leiche, die mit dem Kopf voraus die Laufplanke hinunter in die Wellen glitt – das alles stand ihr deutlich vor Augen. Auf ihrer ersten Überfahrt von England nach Amerika vor knapp zwanzig Jahren hatten sie dergleichen zweimal miterlebt.
»Lauft, Jungs, wartet draußen auf ihn.«
Nat kletterte von ihrem Schoß, und alle drei Jungen rannten zur Tür hinaus wie Katzen, die man aus einem Sack in die Freiheit entließ.
»Aber macht euch nicht schmutzig!«
Die Mädchen blieben sitzen. Mary, die mit ihrer beharrlichen praktischen Natur ihrer Mutter am ähnlichsten war und in den letzten beiden Jahren die Rolle des Mannes im Haushalt ausgefüllt hatte, sagte: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mama. Er steht unter Gottes Schutz.«
Woraufhin Elizabeth – die Hübschere, die ständig über ihre häuslichen Pflichten murrte – laut sagte: »Das Schiff müsste schon seit sieben Stunden da sein, und bis Boston ist es nur eine Stunde!«
»Es steht dir nicht zu, deinen Vater zu kritisieren«, sagte Mrs Gookin. »Wenn er sich verspätet, wird er gute Gründe haben.«
Ein paar Minuten später rief Daniel von draußen: »Da kommt jemand!«
Sie liefen aus dem Haus, durch das kleine Tor und auf die zerfurchte lehmige Straße hinaus. Mrs Gookin schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Fluss. Seit der Abreise ihres Mannes waren ihre Augen schlechter geworden. Sie erkannte lediglich die dunklen, einem Wasserkäfer ähnelnden Umrisse der Fähre, die das leuchtende Band des Wassers halb durchquert hatte.
»Ein Wagen!«, riefen die Jungen. »Ein Wagen! Da ist Papa auf einem Wagen!« Und dann rannten sie die Straße hinunter, um ihren Vater zu begrüßen. Mit seinen kurzen Beinen hatte Nat Mühe, mit den Brüdern Schritt zu halten.
»Ist er es wirklich?«, fragte Mrs Gookin und sah hilflos in die Richtung.
»Ja«, sagte Elizabeth. »Da, schau, er winkt.«
»Gott sei’s gedankt.« Mrs Gookin fiel auf die Knie. »Gott sei’s gedankt.«
»Ja, er ist es!«, rief Mary, hielt sich gegen die Sonne die Hand über die Augen und fuhr verwundert fort: »Aber es sind zwei Männer bei ihm.«
Im Überschwang der Küsse und der Umarmungen, der Tränen und des Gelächters, der in die Luft geworfenen und herumgewirbelten Kinder beachtete zunächst niemand die beiden Fremden, die hinten auf dem Wagen zwischen dem Gepäck saßen und höflich schwiegen.
Gookin setzte sich Nat auf die Schultern, klemmte sich Dan und Sam unter die Arme und lief mit ihnen auf dem Hof herum, sodass die Hühner die Flucht ergriffen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den kreischenden Mädchen zu. Mary hatte vergessen, wie groß ihr Mann war, wie gut aussehend, wie mächtig in seiner Erscheinung. Sie musste ihn immerzu ansehen.
Schließlich setzte Gookin die Mädchen wieder ab, umfasste die Taille seiner Frau und flüsterte: »Ich muss dir zwei Männer vorstellen. Mach dir keine Sorgen.« Dann führte er sie zu dem Wagen. »Verzeiht, meine Herren. Ich habe ganz und gar meine Manieren vergessen. Darf ich Euch meine Frau vorstellen, die wahrhaft kluge Mary – in Fleisch und Blut, endlich.«
Die beiden wettergegerbten, zottelbärtigen Männer wandten sich ihr zu und nahmen die Hüte ab, unter denen langes, stumpfes Haar zum Vorschein kam. Sie trugen gelbbraune, salzverkrustete Ledermäntel und hohe abgewetzte braune Stiefel. Als sie etwas steif aufstanden, knarzte das dicke Leder, und Mary roch einen Hauch von Meer, Schweiß und Moder, als hätte man die Männer gerade vom Grund des Atlantiks gefischt.
»Mary«, sagte Gookin. »Das sind zwei gute Freunde, die mich auf der Überfahrt begleitet haben. Oberst Edward Whalley und sein Schwiegersohn Oberst William Goffe.«
»Es freut mich, Euch kennenzulernen, Mrs Gookin«, sagte Whalley.
Sie rang sich ein Lächeln ab und schaute zu ihrem Mann – zwei Oberste? –, aber er hatte ihre Hand schon losgelassen, um ihnen vom Wagen zu helfen. Ihr fiel auf, wie respektvoll er sich ihnen gegenüber benahm und wie sie leicht schwankten, als sie jetzt nach so vielen Wochen auf See die Füße auf festen Boden setzten. Sie mussten lachen und stützten sich gegenseitig ab. Die Kinder schauten sie mit großen Augen an.
Der Jüngere, Oberst Goffe, sagte: »Lasset uns Dank sagen für unsere Erlösung.« Unter seinem Bart verbarg sich ein feines, scharf geschnittenes gottesfürchtiges Gesicht. Seine Stimme klang melodisch. Er breitete die Arme mit offenen Handflächen aus und blickte gen Himmel. Die Gookins wandten ihren faszinierten Blick von ihm ab und senkten den Kopf. »Wir sprechen den Psalm einhundertsieben. ›Die sollen dem Herrn danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut. Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern. Die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer.‹ Amen.«
»Amen.«
»Und wen haben wir hier?«, sagte Oberst Whalley. Er ging die Reihe der Kinder entlang und fragte ihre Namen ab. Dann deutete er nacheinander einzeln auf jedes. »Mary. Elizabeth. Daniel. Samuel. Nathaniel. Sehr schön. Ich bin Ned, und das ist Will.«
»Hast du den Lorbebäcker denn gekannt, Ned?«, fragte Nathaniel.
»Ja, sehr gut sogar.«
»Aber der ist jetzt tot.«
»Sei still«, sagte Mrs Gookin.
»Stimmt, Nathaniel«, sagte Ned traurig. »Gott sei’s geklagt.«
Schweigen.
»Also, Jungs«, sagte Gookin schließlich und klatschte in die Hände. »Tragt jetzt die Taschen der beiden Herren ins Haus.«
Bis zu diesem Augenblick hatte Mary Gookin gehofft, ihr Mann habe die beiden nur auf dem Wagen mitgenommen. Entsetzt sah sie nun, wie die beiden Männer ihren Söhnen das Gepäck vom Wagen hinunterreichten. Das war schwerlich das, was sie sich von seiner Heimkehr erträumt hatte – Verpflegung und Obdach für zwei höhere Offiziere der englischen Armee.
»Und wo sollen sie schlafen, Daniel?«, sagte sie so leise, dass die beiden es nicht hören konnten. Dabei schaute sie ihren Mann nicht an. So fiel es ihr leichter, sich zu beherrschen.
»In den Betten der Jungen. Die können unten schlafen.«
»Und für wie lange?«
»So lange wie nötig.«
»Was heißt das? Ein Tag? Ein Monat? Ein Jahr?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Warum hier? Gab es in Boston keine Zimmer? Können sich Oberste kein eigenes Bett leisten?«
»Der Gouverneur glaubt, dass es in Cambridge sicherer ist als in Boston.«
Sicherer …
»Du hast also mit dem Gouverneur über ihre Unterkunft gesprochen?«
»Wir waren den halben Tag beim Gouverneur. Er hatte uns zum Essen eingeladen.«
Also deshalb hatte er so lange von Boston bis nach Hause gebraucht. Sie schauten den Jungen hinterher, die sich mit den großen, schweren Taschen abmühten. Die beiden Oberste unterhielten sich mit den Mädchen, während sie den Jungen zum Haus folgten. Zu Mary Gookins Betroffenheit und Verärgerung kam plötzlich eine viel heftigere Gemütsregung hinzu: Angst.
»Und warum glaubt der Gouverneur, dass Cambridge sicherer ist als Boston?«, fragte sie stockend.
»Weil es in Boston von Schurken und Royalisten nur so wimmelt. Hier sind sie unter Gottgefälligen.«
»Dann sind das also keine Besucher aus England, sondern … Flüchtlinge?« Er antwortete nicht darauf. »Wovor sind sie denn auf der Flucht?«
Gookin nahm sich Zeit für seine Antwort. Als er endlich sprach, waren die Männer im Haus verschwunden. »Sie haben den König getötet«, sagte er leise.