KAPITEL 2

I n England war es kurz vor neun Uhr abends. Die Sonne ging gerade unter, und Isabelle Hacker ritt in ihr Heimatdorf Stathern in Leicestershire. Nach zwei Tagen auf der Straße war das schlichte blaue Quäkerkleid mit einer braunen Staubschicht überzogen.

Ein anderer Reiter folgte ihr dichtauf. Seine ständige Nähe und seine Schweigsamkeit zermürbten sie. Er war ihr von London den ganzen Weg nach Norden gefolgt. Auch als sie ihre Reise für die Nacht unterbrachen, hatte er kaum ein Wort an sie gerichtet. In seiner Tasche führte er eine drei Tage zuvor vom Oberhaus ausgefertigte Vollmacht mit sich. Die hatte er vorgezeigt, als er in London an ihre Tür geklopft hatte: Hierauf wird angeordnet, dass Oberst Hacker unverzüglich seine Frau aufs Land zu entsenden habe, um das in Rede stehende Todesurteil zu holen, und dass ihr der Gentleman Usher des Oberhauses zu diesem Zwecke einen Begleiter mit auf den Weg gebe.

»Und dieser Begleiter bin ich«, hatte er gesagt.

Mrs Hacker hatte sich sofort bereit erklärt, zusammen mit dem Mann aufs Land zu reiten. Sie würde alles tun, um ihrem Mann zu helfen, den man wegen Verdachts auf Hochverrat in den Tower gesperrt hatte. Die dafür vorgesehene Strafe war ein Tod, der mit kaum vorstellbarer langwieriger Grausamkeit vollzogen wurde: Man wurde gehenkt, bis man das Bewusstsein verlor, dann vom Strick geschnitten und wiederbelebt, anschließend entmannt und ausgeweidet. Die Eingeweide wurden vor den Augen des noch lebenden Opfers verbrannt, dann wurde der Kopf vom Rumpf getrennt und dieser gevierteilt und öffentlich zur Schau gestellt. So unvorstellbar das auch war, standen ihr dennoch unablässig die quälenden Bilder vor Augen. Fast das Schlimmste war, dass er diese Welt unter solch unermesslichen Schmerzen verlassen würde und sie seinen Leib danach nicht einmal begraben konnte.

Sie hatte sich von ihren Kindern verabschiedet, und keine Stunde später waren sie auf der Straße. Immer wieder hatte sie ihren Begleiter verstohlen beobachtet und schätzte ihn auf etwa vierzig, ein paar Jahre jünger als sie selbst. Er humpelte kaum wahrnehmbar. Sie vermutete, dass die Behinderung von einem Geburtsfehler herrührte. Er hatte einen breiten Oberkörper, kurze Beine und eine eigentümlich leise Stimme, wenn sie sie denn einmal zu hören bekam. Sein Name sei Richard Nayler, hatte er gesagt. Sie nahm an, dass er ein Bediensteter des Kronrats war. Er war ein guter Reiter. Das war alles, was sie über ihn sagen konnte.

Es war ein heißer Tag gewesen, und jetzt am Abend war es immer noch warm. Ein paar Dorfbewohner gingen auf der Straße spazieren, andere saßen an ihren kleinen Häusern untätig vor dem Gartentor. Als sie das Klappern der Pferdehufe hörten, wandten sie den Kopf, sahen die Neuankömmlinge kurz an und dann schnell wieder zur Seite. Leute, die noch im Monat zuvor den Hut gezogen oder die Hand gehoben hätten, waren offenbar so empört, oder so verängstigt, dass sie Isabelle Hacker nicht grüßten. Sie mochte eine fromme Quäkerin und die Herrin des Gutshauses sein, aber sie war auch die Frau eines Revolutionärs. Sie schaute verächtlich auf sie hinab.

Stathern Hall, das stattlichste Haus im Dorf, befand sich neben der Kirche St. Guthlac. Das Läuten zur neunten Stunde verklang gerade, als sie von der Straße abbog und durch das offene Tor auf das Anwesen ritt. In den Wochen ihrer Abwesenheit, während der sie um Unterstützung für den Oberst geworben hatte, hatte im Gemüsegarten das Unkraut die Oberhand gewonnen. Aus dem Gras des Obstgartens war eine wuchernde Wiese geworden. In der Abenddämmerung machte das große, dunkel aufragende Haus einen verlassenen Eindruck.

Ihr Pferd trabte die Auffahrt hinauf zum Haus. Sie stieg ab, schlang die Zügel um das Eisengeländer neben dem Eingang und nahm, ohne sich zu dem hinter ihr absteigenden Nayler umzuschauen, den Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss die schwere Tür auf. Sie wollte ihren Begleiter so schnell wie möglich wieder loswerden.

Sie betrat die geflieste Diele und rief nach oben in die widerhallende Stille. Sogar die Bediensteten hatten sich davongemacht. Als ihr Begleiter hinter ihr durch die Tür trat, fiel sein Schatten schwach in die Diele. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer ihres Mannes hörte sie, wie Nayler ihr mit hastigen Schritten folgte, fraglos in der Absicht, jedem verzweifelten Akt der Zerstörung zuvorzukommen. Die Luft im Haus war stickig. In den Bäumen vor den Bleiglasfenstern sangen Nachtigallen. Sie hob einen kleinen Kasten aus einer Schublade, entnahm ihm einen Schlüssel und kniete sich damit vor das Tresorschränkchen. Sie hatte keine Vorstellung, was genau in dem Dokument stand, wusste aber, wie es aussah. Gib es ihm, rette Francis vor dem Henker, vor dem Schlächter, und dann hinaus mit ihm.

*

Bis zu diesem Augenblick war Nayler nicht davon überzeugt gewesen, dass das Schriftstück überhaupt noch existierte. Seit elf Jahren hatte es niemand mehr zu Gesicht bekommen. Seiner Erfahrung nach erzählten verzweifelte Männer alles Mögliche, um Zeit zu schinden – und Oberst Hackers Lage war in jeder Hinsicht verzweifelt. Aber jetzt kniete seine freudlose Frau auf dem Boden, wandte ihm in der düsteren Kammer ihren schmalen Rücken zu und kramte in den Besitzurkunden, Haushaltsbüchern und anderen Papieren herum. Schließlich zog sie etwas hervor, was er nicht genau erkennen konnte, und stand langsam wieder auf.

Er hatte etwas erwartet, falls es denn existierte, was wie ein erhabenes Stück Pergament im Stil eines vom Parlament beschlossenen Gesetzes aussah: der Bedeutung des Verbrechens angemessen. Aber was sie in Händen hielt, war ein albernes kleines, gut spannengroßes Etwas, das wie die zusammengerollte Kaufurkunde für ein Pferd oder ein Fass Wein aussah und mit einem zerfransten schwarzen Band zusammengebunden war. Allerdings war es für seine Größe vielversprechend schwer. Pergament, kein Papier. Er wog es in der Hand, ging damit zum Fenster, löste in dem trüben Licht das Band und entrollte es zu seiner ganzen Breite von zwei Spannen: das Todesurteil für Karl Stuart, König von England, Schottland und Irland, das Oberst Francis Hacker, der für die Bewachung des Königs verantwortliche Offizier, am Morgen von Seiner Majestät Hinrichtung von Oliver Cromwell höchstpersönlich ausgehändigt worden war.

Nayler legte das Schriftstück auf den Schreibtisch des Obersts, wo es sich sofort wieder zusammenrollte – wie eine Schlange, die sich gegen einen Angriff wappnete. Er setzte sich, nahm den Hut ab, legte ihn auf eine Seite des Schreibtischs und wischte sich am Mantel die Hände ab.

»Ich brauche mehr Licht, Mrs Hacker. Wenn Ihr so freundlich wärt.«

Sie ging in der Diele zu der Truhe, wo die Kerzen aufbewahrt wurden. Mit ihren zitternden Fingern brauchte sie eine Weile, bis aus Feuerstein und Stahl die Funken schlugen. Als sie mit zwei Kandelabern in das Arbeitszimmer zurückkehrte, saß Nayler genauso da, wie sie ihn verlassen hatte: regungslos am Schreibtisch neben dem Fenster, die Silhouette seines Kopfs vor violettem Licht. Sie stellte die Leuchter ab. Er zog sie wortlos zu sich heran und entrollte das Pergament.

Die Niederschrift, stellte er interessiert fest, war voller Löschungen und Einfügungen. Was hatte das zu bedeuten, fragte er sich. Vielleicht Hast. Verwirrtheit. Sinneswandel? Er begann laut zu lesen – mehr um selbst den Sinn richtig zu verstehen, weniger um Isabelle Hacker, die ihn gespannt ansah, mithören zu lassen.

»›Da Karl Stuart, König von England, wegen Hochverrats und anderer schwerer Verbrechen überführt, ergriffen und verurteilt ist und das Urteil am vorigen Samstag von diesem Gericht verkündet wurde, ist jenes mittelst Enthauptung zu vollziehen. Besagtes Urteil ist auf offener Straße vor dem Whitehall-Palast am dreißigsten Tage des Januars zwischen der zehnten Stunde des Morgens und der fünften Stunde des Nachmittags zu vollstrecken …‹«

Die schrecklichen, folgenschweren Worte verschlugen ihm die Sprache. Er musste sich räuspern und schlucken, bevor er fortfahren konnte.

»›… und zu diesem Zwecke diene dies als hinreichende Ermächtigung. Sie verlangt von allen Offizieren, Soldaten und anderen aufrechten Männern des Landes England, Euch bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Höchstselbst unterzeichnet und besiegelt von …‹« Er hielt inne. »Hier stehen die Namen.« Er überflog die etwa fünfzig Unterschriften, die in sieben Spalten unter dem Text standen. Neben jedem Namen befand sich ein rotes Wachssiegel. Sie besudelten das Schriftstück wie Blutstropfen.

»Und der Name meines Mannes ist nicht dabei?«

Er überflog wieder die Unterschriften. Hier und da hielt er die Kerze näher an einen Namen. Gregory Clements. Edmund Ludlow. Thomas Harrison. William Goffe.

»Nein. Er hat nicht unterschrieben.«

Sie atmete tief durch. »Wie ich Euch gesagt habe. Er sagt die Wahrheit. Er war keiner der Richter des Königs, und er hat auch das Todesurteil nicht unterschrieben.«

»Das nicht, aber sein Name steht trotzdem hier. ›An Oberst Francis Hacker, Oberst Huncks und Oberstleutnant Phayre.‹« Er drehte das Pergament um und deutete auf eine Stelle. »Der Befehl ist sogar zuallererst an Euren Mann gerichtet. Weshalb sich das Schriftstück vermutlich auch in seinem Besitz befindet.«

»Aber nur in seiner Eigenschaft als Soldat«, wandte sie ein. »Als eines Offiziers, der hier nur Befehlen gehorcht und diese nicht etwa erteilt.«

»Das muss das Gericht entscheiden.« Für den Fall, dass sie Anstalten machen sollte, ihm das Dokument zu entreißen, zog er es schnell zurück. Hacker hatte die Hinrichtung überwacht: Seine Schuld war schwarz auf weiß erwiesen. Genauso gut hätte sie ihm die Henkersschlinge für ihren Mann aushändigen können. Sie schien das plötzlich zu begreifen, jedenfalls stand sie mit einem Gesicht so weiß wie das Kerzenwachs leicht schwankend neben dem Schreibtisch. Er wollte sie möglichst schnell loswerden, damit er das Dokument in Ruhe studieren konnte. Sie hatte ihre Rolle gespielt. »Es ist schon spät, Mrs Hacker. Ihr solltet Euch zurückziehen.« Er schaute zu der Polsterbank, die in der Ecke des Raums stand. »Ich werde die Nacht hier verbringen und dann beim ersten Tageslicht aufbrechen.«

Sie weigerte sich, den Schicksalsschlag einfach hinzunehmen. Die Plötzlichkeit, die Grausamkeit, nachdem sie zwei Tage im Sattel gesessen hatte. »Wir haben alles getan, was Eure Lordschaften verlangt haben, Mr Nayler. Das muss doch zählen.«

»Das zu entscheiden ist nicht an mir. Ich schlage vor, Ihr zieht Euch für die Nacht zurück und betet für Euren Mann.« Seinen Mund umspielte ein leises Lächeln. »Was auch immer geschieht, letzten Endes ist es Gottes Wille.«

Wie oft in den letzten elf Jahren hatte er diesen frömmlerischen Spruch gehört? Mal sehen, wie ihnen das jetzt gefiel.

Sie sah ihn weiterhin an und gestattete ihm nicht, ihrem Blick auszuweichen. Diesem Menschen genügte es nicht, die Feinde des Königs einfach nur zur Strecke zu bringen, einzukerkern und hinzurichten. Er musste sich auch noch über ihren Glauben lustig machen. Aber der Teufel zuckte in seinem Triumph nicht mit der Wimper. Er hielt ihrem Starren stand, bis sie sich schließlich umdrehte, auf unsicheren Beinen das Arbeitszimmer verließ und die Treppe hinauf in ihre Schlafkammer ging, wo sie ohnmächtig zu Boden stürzte.

Trotz der langen Reise verspürte Nayler weder Hunger noch Durst. Das Dokument war ihm Speis und Trank genug. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch des Obersts und las das Todesurteil noch einmal durch. Mittelst Enthauptung … auf offener Straße vor dem Whitehall-Palast … Die Worte hatten immer noch eine schockierende Kraft. Er öffnete den Mantel, schnürte sein Hemd auf und senkte den Kopf, um das Lederband abzunehmen, das er seit elf Jahren um den Hals trug. Daran befestigt war ein kleiner Beutel. Darin befand sich ein winziger blutbefleckter Leinenfetzen. Er drehte ihn zwischen den Fingern hin und her.

Er erinnerte sich an alles an jenem Tag im tiefen Winter – wie er sich bei Tagesanbruch aus dem Essex-Haus schlich; an den von der Themse heraufwehenden, bitterkalten Wind; wie er die Strand entlangeilte, vorbei an den großen Herrenhäusern, die hinten an den Fluss angrenzten; an den alten Dolch und die Pistole, die er unter seinem Umhang spürte. All das war ihm unwirklich vorgekommen. Einem gesalbten König den Kopf abschlagen? Unfassbar. Barbarisch. Ein Sakrileg. Das würde die Armee niemals in die Tat umsetzen. Dafür würde entweder der Befehlshaber der Parlamentsarmee General Fairfax sorgen, oder die Royalisten, die sich in der Stadt versteckt hielten, würden sich erheben, um das zu verhindern. Sollte man ihm den entsprechenden Befehl erteilen, so war er jedenfalls bereit, sein Leben für die Rettung des Souveräns zu opfern.

Dann war er am Charing Cross in Richtung Whitehall-Palast abgebogen, und seine Hoffnungen fielen in sich zusammen. Die Menge in der King Street, die fünf- oder sechshundert Menschen zählte, mochte zwar durchaus ausreichen, hier Unruhe zu stiften, aber die Soldaten – mindestens tausend – waren eindeutig in der Überzahl. Die Pikeniere standen Schulter an Schulter und hielten das Volk zurück. Dahinter sperrte Kavallerie die Mitte der breiten Straße ab und vereitelte jeden Versuch, zum Schafott vorzudringen. Das provisorische, in schwarzes Tuch gehüllte Holzgerüst grenzte an das Banketthaus. Von der Straßenseite führten keine Stufen hinauf. Auf das Podest gelangte man vielmehr durch ein Fenster im ersten Stock. Ein methodischer Verstand, das sah er sofort, ein militärischer Verstand, hatte das alles sehr sorgfältig geplant.

Er bahnte sich seinen Weg durch den Pöbel. Von der Feiertagsstimmung, die sonst bei Hinrichtungen herrschte, war nichts zu spüren. Sogar die radikalsten Republikaner, die Levellers, erkennbar an den meergrünen Bändern an Mantel und Hut, hielten ausnahmsweise den Mund. Er bewegte sich hinter der schweigenden Menge an der Wand entlang, die den Whitehall-Palast vom Tilt Yard trennte. Um besser sehen zu können, standen die Leute auf der Mauer oder saßen beinebaumelnd darauf. Er entdeckte eine Lücke und rief nach oben, damit man ihn hinaufklettern ließ. Weil sich niemand rührte, packte er den Nächstbesten am Bein und drohte, ihn herunterzureißen, sollte er nicht zur Seite rücken. Nayler hatte die Statur eines Ringers. Man rückte zur Seite.

Jetzt konnte er ziemlich gut über die Köpfe der Schaulustigen und Soldaten hinwegschauen. Das Schafott befand sich in etwa dreißig Schritt Entfernung. Die Fenster im Banketthaus waren verrammelt bis auf jenes im ersten Stock, das den Zugang zum Gerüst ermöglichte. Von Zeit zu Zeit trat ein Offizier heraus und drehte eine Runde auf dem Podest. Nach einem prüfenden Blick auf die Menge stieg er dann wieder aus der Kälte hinein ins Gebäude, und das Fenster schloss sich hinter ihm. In der Mitte des Gerüsts befanden sich fünf kleine Gegenstände, und es dauerte einige Zeit, bis Nayler begriff, wozu sie dienten. Bei einem handelte es sich um einen sehr niedrigen hölzernen Hackblock, kaum höher als eine Männerhand breit, neben dem im Boden zu beiden Seiten Eisenringe verankert waren, und weiter hinten befanden sich noch zwei dicht nebeneinander liegende Bodenringe. Ihr Zweck bestand sichtlich darin, den König, während man ihm den Kopf abhieb, bäuchlings an Händen und Füßen zu fixieren, damit er sich nicht wehren konnte, wenn nicht gar gestikulierend die Menge aufstacheln. Wieder einmal gründlich durchdacht. Barbarisch.

Der Tag wurde nicht wärmer. Nicht ein einziger Sonnenstrahl milderte den eisernen Frost. Gelegentlich wirbelten ein paar Schneeflocken durch die Luft, aber sonst lastete der graue Himmel so schwer auf allem, als wollte er jegliche Farbe aus den Gebäuden pressen. Die Zeit wirkte wie eingefroren. Nayler steckte die Hände in die Taschen und trat beständig von einem Bein aufs andere, damit seine Glieder nicht taub wurden. Schließlich schlug eine halbe Meile südlich die Glocke der Westminster-Abtei zur neunten Stunde. Die alte Beinverletzung schmerzte Nayler, als steckte im Knochen ein Messer. Sein Geist wurde so stumpf wie der Himmel. Es gab nur den Schmerz im Bein, die Kälte und das Grauen. Eine weitere Stunde verstrich. Er zählte die zehn Glockenschläge, und kurze Zeit später vernahm er ein leises Trommeln, das irgendwo hinter ihm im St.-James-Park erklang: ein bedächtiger Trauermarsch. Kurz darauf verstummte der Marsch.

Er schaute nach rechts zum Holbein-Tor. Oberhalb des Bogens führte ein geschlossener Gang quer über die Straße zum Banketthaus. Hinter den gekuppelten Fenstern erschienen Gestalten: erst die von Soldaten, dann die eines kleineren Mannes mit vertrautem Profil, der sich kurz zur Seite wandte und hinunter auf die Menschenmenge und das Schafott schaute, dann zwei Geistliche, und schließlich wieder Soldaten. Im Augenblick des Erkennens schien alle Luft aus Nayler zu entweichen. Kurz darauf verschwand die Prozession. Aber auch andere hatten ihn gesehen. Die Neuigkeit verbreitete sich schnell. »Er ist da!«

Weiterhin geschah nichts. Es schlug elf Uhr. Dann Mittag. Und mit jeder verstreichenden Minute lebte gegen alle Vernunft Naylers Hoffnung wieder auf. Gerüchte über die Gründe für die Verzögerung schwirrten durch die Menge: das in diesem Augenblick tagende Unterhaus würde das Urteil aufheben; der König hätte seiner Abdankung zugunsten seines Sohnes zugestimmt; die Holländer hätten für eine Begnadigung eine halbe Million Pfund geboten. Er wollte sich nicht vorstellen, welche Gedanken Seiner Majestät im Banketthaus gerade durch den Kopf gehen mochten. Schrecklich genug, dass man einen Menschen enthauptete; über alle Maßen grausam hingegen die Verlängerung seines Martyriums.

Es schlug eins und dann, kurz vor zwei, bewegte sich etwas. Das Fenster wurde geöffnet, und eine Reihe Soldaten nebst Offizieren traten ins Freie, gefolgt vom Henker und seinem Gehilfen, die beide einen langen schwarzen Wollumhang und schwarze Beinlinge trugen und deren Gesicht unter einer schwarzen Maske, schlecht sitzender grauer Perücke und falschem Bart verborgen war. Der kleinere der beiden Männer trug ein Beil, dessen langer Stiel auf seiner breiten Schulter ruhte. Hinter ihm erschien ein Bischof mit aufgeschlagenem Gebetbuch.

Als Letzter trat der König aus dem Fenster – eine schmächtige Gestalt, barhäuptig, kaum fünf Fuß und drei Zoll groß, obwohl er sich auch in seinen letzten Minuten wie stets aufrecht wie ein Riese hielt. Er ging geradewegs zu dem niedrigen Henkersblock, und offensichtlich beschwerte er sich bei seinen Offizieren über die Ehrverletzung, bei seiner Hinrichtung auf dem Bauch liegen zu müssen. Sie sahen sich an und schüttelten den Kopf. Der König wandte ihnen den Rücken zu. Unter seinem Umhang zog er ein kleines Stück Papier hervor und trat an den Rand des Schafotts. Er schaute hinunter zu den Soldaten, der Kavallerie und den Menschen dahinter und begriff anscheinend, dass seine Stimme die Menge nicht erreichen würde. Also ging er zurück zur Mitte des Gerüsts und las die Rede seinen Offizieren vor. Nayler verstand kein einziges Wort, aber der Wortlaut war bis zum nächsten Tag auf Flugblätter gedruckt worden, die man auf Londons Straßen allenthalben erstehen konnte. Hätte ich den Weg der Willkür eingeschlagen und alle Gesetze geändert nach Maßgabe der Macht des Schwertes, hätte ich heute nicht hierherkommen müssen. Deshalb sage ich Euch (und ich bete zu Gott, dass dies nicht Euch zur Last gelegt werde), dass ich der Märtyrer des Volkes bin …

Der König öffnete den Umhang und legte ihn ab. Dann zog er seinen Rock aus und übergab ihn zusammen mit einigen glitzernden Schmuckstücken dem Bischof. Er stand im weißen Hemd in der Eiseskälte und steckte seine langen Haare unter eine Kappe. Er zitterte nicht. Er sagte etwas zum Henker und deutete wieder protestierend auf den Henkersblock, zuckte die Achsel, ging auf die Knie, legte sich dann der Länge nach auf den Boden und bewegte den Kopf auf dem Block hin und her, bis er bequem lag. Er streckte die Arme nach hinten. Der Henker stellte sich breitbeinig auf, hob das Beil und holte über die Schulter so weit aus, wie es ihm möglich war. Es vergingen ein paar Augenblicke, dann machte der König eine Geste mit seinen Händen, eine kurze, anmutige Bewegung, als wollte er zu einem Kopfsprung ansetzen, und das Beil fuhr mit solcher Wucht herab, dass der Hieb in der Stille über die ganze Whitehall hinweg zu hören war.

Das Blut schoss aus dem abgetrennten Torso. Der Soldat daneben drehte sich zur Seite, um dem Schwall auszuweichen, der sich jedoch schnell zu einem steten Blubbern wie bei einem hochkant gestellten Fass beruhigte. Der Henker, der nach wie vor das Beil in der einen Hand hielt, packte mit der anderen den Kopf an den Haaren, ging an den Rand des Gerüsts und zeigte der Menge das Gesicht des Königs. Er rief etwas, aber seine Worte verloren sich im lauten Gebrüll der Zuschauer, eine Mischung aus Jubel, Grauen und Bestürzung. Ein Teil der Menge drängte nach vorn, durchbrach die Reihen der abgelenkten Pikeniere, die sich ebenfalls dem Spektakel zugewandt hatten, und lief zwischen den Pferden der Kavallerie hindurch. Nayler sprang von der Mauer und humpelte über die Whitehall hinter ihnen her.

Das Blut sickerte durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen. Es klatschte auf den Boden wie die schweren Regentropfen, die ein nahes Unwetter ankündigten. Die drängelnden Menschen schlitterten um ihn herum. Er hielt sein Taschentuch in die Höhe und sah, wie es sich mit purpurroten Punkten einfärbte – einmal, zweimal, dreimal sogen sich die Tropfen in das Leinengewebe, zerflossen und bildeten schließlich einen einzigen Fleck. Nayler kämpfte sich durch die Menschentrauben die Whitehall hinauf in den Winternachmittag und ging dann durch die Strand bis zur Kapelle vom Essex-Haus, wo sein Herr, der Markgraf von Hertford, und seine Familie am Altar knieten und auf Nachricht warteten.

*

Das getrocknete Blut des Märtyrers hatte im Lauf der Jahre eine ausgebleichte rostige Farbe angenommen. Eines Tages würde es vielleicht ganz verschwinden. Aber solange es existierte, hatte Nayler geschworen, würde er alles in seiner Macht Stehende tun, die Ereignisse an jenem Januartag zu rächen. Er küsste das Stück Stoff, faltete es sorgfältig zusammen, steckte es zurück in den Beutel, verknotete das Band und hängte sich die Reliquie wieder um den Hals, sodass sie sich ganz nah an seinem Herzen befand.

Abgesehen vom Flackern der Kerzenleuchter, war es im Arbeitszimmer inzwischen dunkel. Das Vogelgezwitscher draußen vor dem Fenster war verstummt.

Er zählte die Unterschriften auf dem Todesurteil und kam auf neunundfünfzig. Einige bekannte Namen, einige unbekannte. Aber seit er ihren Spuren die letzten zehn Wochen anhand der verstaubten Prozessaufzeichnungen folgte, waren sie ihm vertraut. Und dennoch war es die eine Sache, zu wissen, ob dieser oder jener an diesem oder jenem Tag in der Westminster-Halle über Karl Stuart zu Gericht gesessen hatte; eine ganz andere Sache hingegen, zu beweisen, ob an den Händen eines Betreffenden tatsächlich Blut klebte. Das Todesurteil schließlich war ein unbestreitbarer Schuldbeweis. Der aalglatte Oberst Ingoldsby beispielsweise hatte bereits zugegeben, unterschrieben zu haben, allerdings darauf beharrt, unter Zwang gehandelt zu haben. Cromwell habe sich über seine Zimperlichkeit lustig gemacht, ihm die Feder gewaltsam zwischen die Finger gesteckt und dann seine Hand geführt. Aber hier in der fünften Spalte stand Ingoldsbys Name, die Unterschrift klar und deutlich und anscheinend ohne Eile niedergeschrieben, daneben das ordentlich platzierte Siegel.

Er widmete sich nun den Namen oben in der ersten Spalte. Die erste Unterschrift war die von John Bradshaw, der zum Gerichtspräsidenten beförderte Gelegenheitsanwalt, der sich so sehr vor einem Attentat fürchtete, dass er während des Prozesses eine Rüstung unter seiner Robe und einen mit Stahl ausgekleideten, kugelsicheren Biberfellhut trug. Zu seinem Glück war er seit fast einem Jahr tot, würde seiner Strafe also entgehen. Die zweite Unterschrift war die von Thomas Grey – Lord Grey von Groby, der »Leveller Lord« – ein Mann, der selbst Cromwell zu radikal war, weshalb er ihn schließlich ins Gefängnis werfen ließ. Auch er war tot. Der dritte Unterzeichner war Cromwell selbst, der wahre Architekt des gesamten diabolischen Unternehmens – tot, natürlich, und in der Hölle schmorend. Die vierte Unterschrift jedoch, direkt unter der von Cromwell, gehörte einem Mann, der, soweit Nayler wusste, noch am Leben war – ein Mann, den zu kennen er guten Grund hatte.

Er musste eine neue Liste anlegen.

Er nahm ein Blatt Papier von Hackers Schreibtisch, tauchte die Feder in das Tintenfass und schrieb mit seiner sorgfältigen Handschrift: Col. Edw. Whalley.