KAPITEL 3
D ie drei Jungen der Gookins teilten sich ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Von dort überblickte man das Dorf Cambridge, die dahinter aufragenden Dächer, die breiten Kamine und die dünne Turmspitze von Harvard College, die in der Spätnachmittagssonne wie eine Lanze golden glänzte. Als Mary in das Zimmer eilte, standen Oberst Whalley und Oberst Goffe am Fenster und begutachteten die Aussicht, so wie Daniel, Sam und Nathaniel die beiden Männer begutachteten. Zu Füßen der beiden Männer lagen zwei Taschen, anscheinend ihre alten Armeetaschen. Mary fiel auf, wie zerkratzt das Leder war, wie sehr an vielen Stellen geflickt und ausgebessert. Spärliches Gepäck für eine Reise um die halbe Welt, dachte sie. Sie müssen Hals über Kopf geflohen sein.
»Geht nach unten, Jungs, lasst die Gentlemen in Ruhe.«
»Aber Mama …«
»Ab nach unten!«
Sie stampften maulend die Treppe hinunter.
»Das ist seit ihrer Geburt das Zimmer der Jungen«, sagte Mary. »Was Mr Gookin Euch auch versprochen haben mag … Verzeiht, aber ich glaube, die Jungen sollten ihr Zimmer behalten.«
»Feine Burschen sind das«, sagte Oberst Whalley. »Sie erinnern mich an meine eigenen in dem Alter.« Er wandte sich vom Fenster ab. Zum ersten Mal konnte sie sein Gesicht aus nächster Nähe betrachten: die kräftige Nase, die dunklen Augen, den grauen, von schwarzen Strähnen durchzogenen Bart. »Wir würden nie von Euch verlangen, uns ihre Betten abzutreten.«
»Ich möchte nicht ungastlich erscheinen …«
»Keine Ursache.« Er schaute zur Decke. »Was ist da oben? Der Speicher?«
»Da oben ist nur ein Dienstbotenzimmer.«
»Ihr habt einen Bediensteten? Ich habe keinen gesehen.«
»Im Augenblick nicht«, sagte sie. »Aber der Speicher ist überhaupt nicht behaglich.«
»Nach dem Schiff wird er uns wie ein Palast vorkommen.«
Die beiden Soldaten schwangen sich die Taschen über die Schultern. Oberst Whalley war eindeutig ein Gentleman von Geburt: ein höflicher, an Rücksichtnahme gewohnter Mensch, dem man nur schwer etwas abschlagen konnte. Sie zögerte, da ihr aber kein weiterer Einwand einfiel, glaubte sie keine andere Wahl zu haben, als sie hinaus in den Gang und die schmale Treppe hinaufzuführen.
Der Speicher verlief über die Länge des Hauses. Die Decke bildete den Winkel des Daches ab. Whalley war groß – etwa einen Kopf größer als sein Schwiegersohn – und konnte nur in der Mitte des Raums aufrecht stehen, und als er nun zum Fenster ging, musste er sich selbst dort ducken, damit er mit dem Kopf nicht gegen die Querbalken stieß. Er öffnete den Riegel, lehnte sich hinaus, schaute hierhin und dorthin und zog den Kopf wieder zurück.
»Perfekt. Wir werden uns hier oben äußerst wohlfühlen. Was meinst du, Will?«
»Und ob. Zumindest werden wir Euch nicht im Weg herumstehen, Mrs Gookin. Wir bedauern sehr, Euch diese unerwarteten Umstände zu bereiten.«
Sie schaute sich skeptisch in dem schmalen, beengten Speicher um. Es gab hier nur ein Holzbett, dessen Strohmatratze sie sich würden teilen müssen. Und für Whalley war es zudem zu kurz. Bestimmt würden seine Füße über das Ende hinausragen. Im Halbdunkel am anderen Ende des Raums standen allerlei nicht mehr benutzte Möbelstücke. Unter anderem ein alter Stuhl und eine Truhe. Sie gab sich geschlagen.
»Nehmt Euch, was Ihr braucht. Ich werde die Mädchen mit Bettzeug und Decken schicken.«
»Sehr freundlich.« Oberst Whalley stand schon wieder am Fenster. Er nahm ein kleines Fernrohr aus seinem Mantel, zog es auseinander, stellte es scharf und suchte den Fluss ab. »Die Brücke wird die Wegzeit von Boston hierher deutlich verkürzen. Das sind sicher dreißig Mann, die da arbeiten. Wann soll sie fertig sein?«
»In einem halben Jahr, heißt es.«
»Also im Januar.« Die Antwort schien ihn zufriedenzustellen. »Perfekt«, sagte er noch einmal und schob das Fernrohr zusammen.
*
Daniel Gookin lag in ihrer Schlafkammer auf dem Bett, die Arme weit ausgebreitet, die Augen geschlossen, und schlief fest. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Stiefel auszuziehen. Er war jetzt achtundvierzig und dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die ergrauenden Schläfen ließen ihn distinguierter aussehen. Plötzlich spürte sie ihre große Liebe für ihn. Die beiden Oberste waren nicht die Ersten, deren er sich erbarmt hatte, und würden sicher nicht die Letzten sein. Sogar Indianer aus der Gegend hatten schon unter ihrem Dach geschlafen. Gookin hatte sich dem Anliegen verschrieben, sie die Heilige Schrift zu lehren. Schwächen wie die seinen kamen nur aus einem guten Herzen. Sie kniete sich am Fußende des Bettes auf den Boden und löste die Schnürsenkel seiner Stiefel. Er spürte die Bewegung und öffnete die Augen, hob den Kopf und sah sie an.
»Lass die Stiefel und leg dich neben mich.«
»Zügelt Eure Ungeduld, Mr Gookin.« Sie schnürte den einen Stiefel auf, fasste ihn an der Hacke und zog ihn vom Fuß und widmete sich dann dem anderen Stiefel. Während seiner Abwesenheit hatte sie die Wechseljahre durchgemacht. Sie würde keine Kinder mehr bekommen, wofür sie Gott dankte. Fünfzehn Schwangerschaften waren mehr als genug gewesen. Sie hob das Kleid und stieg aufs Bett.
Zehn Minuten später hörten sie über sich einen dumpfen Schlag, dann noch einen und schließlich das scharrende Geräusch eines schweren Gegenstands, der über den Boden gezogen wurde.
Gookin schaute zur Decke. »Hast du sie im Speicher untergebracht?«
»Sie wollten es so. Hast du etwas dagegen?« Sie stieg aus dem Bett und suchte ihre Unterkleider zusammen.
»Nein, wenn sie damit zufrieden sind.«
»Wenn du sie so magst, dann können sie auch hier bei uns schlafen, wenn dir das lieber ist.«
Er lachte und streckte die Hand nach ihr aus, aber sie drehte sich weg und zog sich weiter an.
Wieder ein dumpfer Schlag aus dem Speicher.
»Wie hast du sie kennengelernt, Dan?«
Er schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf die Kante. »Erinnerst du dich an Reverend Hooke aus New Haven, der vor ein paar Jahren wieder zurück nach England gegangen ist?«
»Natürlich.«
»Seine Frau ist Oberst Whalleys Schwester. Als Hooke von meiner Absicht gehört hat, mit Kapitän Pierce nach Amerika zurückzufahren, hat er mich gebeten, auch für seinen Schwager eine Passage festzumachen. Und Ned hat dann Will überredet, auch mitzukommen. Der hat zunächst seiner jungen Familie wegen gezögert.«
»Und warum mussten sie so dringend das Land verlassen?«
»Um es kurz zu machen: Der Sohn des Königs kehrt auf Einladung des Parlaments auf den Thron zurück. Die Armee war mehrheitlich damit einverstanden, und damit ist England keine Republik mehr.«
Die Neuigkeit kam so überraschend und war so überwältigend, dass sie sich erst einmal sprachlos zu ihrem Mann auf das Bett setzen musste. Nach einigen Augenblicken sagte sie: »Warum hat die Armee dem zugestimmt?«
»Im Parlament ist ein neues Gesetz eingebracht worden, sie nennen es die Akte der Verzeihung. Die Vergangenheit soll ruhen. Alle, die gegen den toten König zu den Waffen gegriffen haben, werden amnestiert – mit einer Ausnahme: Alle Königsmörder, die am Prozess und an der Hinrichtung von Karl Stuart unmittelbar beteiligt waren, müssen sich stellen und aburteilen lassen.« Er nahm ihre Hand. »So ist die Lage, einfacher kann ich es nicht ausdrücken. Das war vor zehn Wochen. Unser Schiff war das erste, das mit dieser Nachricht in Boston eingelaufen ist. Das hatte ich dem Gouverneur sofort nach unserer Ankunft zu berichten.«
»Waren noch andere Königsmörder auf dem Schiff?«
»Nur die beiden.«
»Und die anderen?«
»Ein paar sind schon nach Holland geflohen. Die meisten halten sich aber noch in England versteckt. Einige haben wohl vor, sich zu stellen, und hoffen auf Gnade. Wir konnten gerade noch ablegen, bevor die Häfen geschlossen wurden. Jetzt noch zu entkommen wird schwer sein.« Er drückte fest ihre Finger, als könnte er so seine Kraft und seinen Glauben auf sie übertragen. »Es sind gute Männer, Mary. Ned ist ein Vetter von Cromwell. Er hat Cromwells Kavallerie befehligt und Will das Infanterieregiment. Sie brauchen einen Zufluchtsort, bis die Lage sich wieder beruhigt. Wir haben nichts zu befürchten. Niemand weiß, dass sie hier sind – außer dir, mir und der Gouverneur.«
»Oberst Whalley ist Cromwells Vetter? O Daniel!« Sie zog ihre Hand weg. »Die Lage wird sich nie beruhigen. Man wird sie ohne jeden Zweifel jagen. Nichts ist sicherer als das.«
Über ihnen wurde wieder ein Möbelstück verrückt. In Marys angstgetriebener Vorstellung hörte es sich an, als errichteten sie dort oben eine Barrikade.
*
Unten am Fluss hatten die Arbeiter ihr Tagewerk vollbracht. Die Ufer zu beiden Seiten lagen verlassen da. Das Wasser glitzerte einladend im Sonnenlicht. Ned stand wieder am Fenster und wurde von einem Gefühl der Zufriedenheit erfasst. Er mochte die Familie Gookin. Er mochte diesen Ort. In Amerika würde er sehr gut zurechtkommen.
Hinter ihm breitete Will ihr Waffenarsenal auf dem Bett aus: vier Luntenschlosspistolen, zwei Beutel Schießpulver, eine Schachtel Kugeln, zwei Dolche, zwei Schwerter. Seit sie das Haus betreten hatten, hatte er kaum ein Wort gesprochen.
»Lass das, Will.« Ned nahm zwei saubere Hemden aus seiner Tasche und warf eines davon Will zu. In den letzten vier Monaten waren sie ständig zusammen gewesen. Im Gesicht seines Schwiegersohns konnte er lesen, als schaute er durch eine Glasscheibe. Er sah alles, was ihm durch den Kopf ging. »Lass uns zum Fluss hinuntergehen, das Salz vom Leib schrubben. Wird uns guttun.«
Will schaute ihn fragend an. »Und wenn man uns sieht?«
»Da ist niemand, der uns sehen könnte. Und wenn, was soll’s? Wir sind bloß zwei Männer, die baden.«
»Sollten wir Gookin nicht vorher fragen?«
»Er ist unser Gastgeber, nicht unser Gefängniswärter. Der Gouverneur hat gesagt, es sei hier sicher, wir könnten uns frei bewegen.« Er trat einen Schritt vor, fasste Will am Unterarm und schüttelte ihn sanft. »Du wirst deine Frau und die Kleinen wiedersehen, meine geliebte Frances und meine Enkel, da bin ich mir sicher. Gott wird dem Triumph der Frevler nicht lange zuschauen. Wir müssen Geduld üben, und wir müssen glauben.«
Will nickte. »Du hast recht. Verzeih mir.«
»Gut.« Ned ließ seinen Arm los.
Zusammen verstauten sie die Waffen in der Truhe, legten eine Decke darüber und gingen dann, Ned voraus, die Stufen hinunter. Die Türen der beiden gegenüberliegenden Schlafkammern im Gang unter dem Speicher waren geschlossen.
Mary saß auf dem Bett und hörte das Knarzen der Dielen. Sie sah zu ihrem Mann. »Was machen sie jetzt?«, flüsterte sie. Er hatte keine Ahnung und schüttelte den Kopf.
Die beiden Offiziere gingen durch die große Stube, hinaus in den Hof und dann durch das Tor hinunter zum Fluss.
Gookin war mit ihnen von Bord der Prudent Mary schnurstracks zum Haus des Gouverneurs gegangen. John Endecott war ein alter Mann, der mit seinem Spitzenkragen und der schwarzen Kappe auf Ned gewirkt hatte, als wäre jener dem England Königin Elisabeths entsprungen. Sie hatten ihre Einführungsschreiben überreicht – Wills stammte von John Rowe und Seth Wood, den Predigern in der Westminster-Abtei, Neds von Dr Thomas Goodwin von der Kirche der Independenten in der Fetter Lane. Während der alte Mann sich die Schreiben dicht vor die Augen hielt und sie studierte, hatte Ned ihm kurz die Umstände ihrer Abreise geschildert – wie sie sich in Gravesend zwei Tage lang unter Deck hatten verstecken müssen, während das gemeine Volk auf den Kais die baldige Rückkehr von Karl II ., Sohn des toten Königs, feierte. Ihre Freudenfeuer ließen den Himmel über der Stadt in diabolischem Rot erglühen, und die Luft war vom Lärm der Zecher und dem Zischen brutzelnder Braten erfüllt. Die Feiern hatten bis schändlich spät in den Sabbat hinein angedauert. Als am Montag die Nachricht vom Parlament eintraf, dass sein Name und der von Will auf der Liste jener stünden, die als für die Ermordung Karls I. Verantwortliche gesucht würden, gab Kapitän Pierce den Befehl zum Auslaufen.
»Aber dank unserem guten Freund Mr Gookin hier waren auch wir an Bord«, schloss Ned.
»Ihr beide wart also Richter des Königs?«
»Ja, und wir haben sein Todesurteil unterzeichnet. Und ich sage es Euch offen, Mr Endecott, denn ich würde hier nie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen leben wollen: Wir würden es morgen wieder tun.«
»Wahrhaftig!« Endecott legte die Schreiben zur Seite und musterte die beiden Besucher mit feucht verhangenen Augen, die so blassgrau waren wie Austern. Er umfasste die Kante seines Schreibtischs und erhob sich unter dem Knacken zahlreicher Gelenke. »Dann lasst mich die Hände schütteln, die jenes Urteil unterzeichnet haben, und Euch in Massachusetts willkommen heißen. Ihr werdet Euch inmitten guter Freunde bewegen.«
Sie suchten sich einen Platz etwas abseits der Straße, wo die Strömung einen Teil des Flussufers unterspült und so einen natürlichen Teich geschaffen hatte. Die Baumäste hingen hier fast bis auf die Wasseroberfläche herab. Jemand hatte ein Seil als Schaukel an einen dicken Ast gebunden. Eine lang gestreckte grüne Libelle, exotischer als alles, was sie in England je zu Gesicht bekommen hatten, schwirrte im Schilf herum. Nicht minder befremdliche Wandertauben gurrten im Blätterwerk. Ned zog seine Stiefel aus und steckte kurz den Fuß ins kühle Wasser, streifte dann seine salzstarre Kleidung ab und watete nackt in den Fluss. Er stieß einen lauten Schrei aus, so kalt war das Wasser, tauchte bis über die Schultern unter und hatte sich wenig später an die Temperatur gewöhnt. Will hatte die Stiefel und den Ledermantel ausgezogen, stand aber noch unschlüssig am Ufer. Ned watete zurück und spritzte ihm eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Will lachte, hüpfte zur Seite und protestierte laut. Dann zog er sich schnell das Hemd über den Kopf und entledigte sich seiner restlichen Kleider.
Was für ein Bild sie wohl abgaben, dachte Ned, mit ihrem totenbleichen, vom Krieg gezeichneten Leib, Phantome inmitten saftigen Grüns. Er hatte Leichen gesehen, die besser aussahen. Ihre Haut war vorn wie hinten mit Striemen und Schnittwunden übersät. Über Wills Bauch verlief eine gezackte Linie, die aus der Schlacht bei Naseby von der Pike eines Royalisten stammte, er selbst hatte seit der Schlacht bei Dunbar, wo er vom Pferd gestürzt war, einen faustgroßen Krater unterhalb der rechten Schulter. Will stand am Wasser und hob die Arme über den Kopf. Mit zweiundvierzig war er immer noch so schmächtig wie ein Jüngling. Zu Neds Überraschung sprang er nun kopfüber in den Fluss, verschwand der Länge nach unter der Wasseroberfläche und tauchte Augenblicke später wieder auf.
Gab es ein köstlicheres Gefühl, als sich an einem Sommertag in frischem Wasser das getrocknete Salz von der verschwitzten Haut zu waschen? Gelobt sei Gott in all seiner Pracht, dass er uns zu diesem sicheren Ort geführt hat. Ned wühlte mit den Zehen im weichen Schlamm. Jahrelang hatte er nicht mehr geschwommen. Er war nie ein guter Schwimmer gewesen, schon als Knabe nicht. Aber jetzt breitete er die Arme aus und stürzte sich kopfüber ins Wasser, wo er sich dann auf den Rücken drehte. Katherine kam ihm in den Sinn, und ausnahmsweise bemühte er sich nicht, die Gedanken an sie zu verdrängen. Wo war sie jetzt? Wie ging es ihr? Vor vier Jahren hatte sie eine Fehlgeburt gehabt, war fast gestorben, und ihre Gesundheit und ihr Geist hatten sich nie richtig davon erholt. Was hatte es für einen Sinn, sich mit unerträglichen Spekulationen zu quälen, so wie es Will jede Nacht tat? Einer von ihnen musste stark bleiben. Sie hatten die Pflicht, am Leben zu bleiben, nicht für sich selbst, sondern für ihre Sache. Seine Bibelstelle, die Will schließlich davon überzeugte, sich ihm anzuschließen, war Christi Aufforderung an seine Jünger: Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so fliehet in eine andere. Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet die Städte Israels nicht ausrichten, bis des Menschen Sohn kommet.
Als er sich wieder auf den Bauch drehte, war das Ufer plötzlich weit entfernt. Beim Zurückschwimmen spürte er die Strömung, die ihn hinaus in die Massachusetts-Bai ziehen wollte. Will stand mit in die Hüften gestemmten Armen bis zum Nabel im Fluss und beobachtete ihn. Ned trat auf der Stelle Wasser und winkte Will zu, da fiel ihm ein Mann auf, der hinter Will im Schatten der Bäume stand. Er konnte den Fremden nicht genau erkennen. Er war schwarz gekleidet, hatte dunkles Haar, einen kurzen dunklen Bart und stand vollkommen regungslos da. Kaum hatte Ned ihn bemerkt, stellte er fest, dass er wieder abtrieb. Die Strömung zerrte so stark an ihm, als könnte sie ihn, wenn er sich nicht dagegen wehrte, den ganzen Weg zurück nach England ziehen. Der Panik nahe, nahm er den Kopf herunter und schwamm mit aller Kraft in Richtung Ufer. Er zog die Arme durch und trat wie wild mit den Beinen. Als seine Füße schließlich den schlammigen Untergrund berührten und er sich wieder aufrichten konnte, war der Fremde verschwunden.
Er stolperte durch das Wasser und ließ sich atemlos und mit klopfendem Herzen ins Gras fallen. Will lief zu ihm, stand dann mit der Sonne im Rücken vor ihm und blickte lachend zu ihm hinunter. »Ich schwöre, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie jemand derart schnell schwimmen sehen. Als wäre der Leviathan hinter dir her gewesen.«
Das hatte Ned schon lange nicht mehr erlebt: einen lachenden Will. Er stützte sich auf die Ellbogen, hustete und spuckte einen Mundvoll Flusswasser aus. Er sah zu den Bäumen hinüber, deren Blätter in der sanften Brise raschelten. Vielleicht hatte er sich die Gestalt nur eingebildet. Seinem Schwiegersohn gegenüber erwähnte er die Sache nicht, weil er ihm nicht die Laune verderben wollte. »Der Fluss ist wie der Mann, nach dem er benannt ist. An der Oberfläche wirkt er überaus freundlich, aber darunter will er einem ans Leben.«
Will lachte wieder, streckte die Hand aus und half Ned auf die Beine. Sie ließen sich von der Sonne trocknen, streiften dann die sauberen Hemden über und gingen auf der leeren Straße zum Haus zurück. Zwei englische Königsmörder, Arm in Arm.
Mrs Gookin stand mit umgebundener Schürze vor dem Herd und bereitete das Abendessen zu, als Ned den Kopf unter dem niedrigen Türstock in die Küche streckte und fragte, ob sie eine Schere und eine Bürste für ihn habe.
Natürlich hatte sie eine Schere, mit Klingen so scharf wie ein Federmesser, und natürlich hatte sie auch eine Bürste. Sie nahm beides aus dem Schrank.
»Und vielleicht noch einen Spiegel?«
Sie gab ihm auch den und sah ihm hinterher, wie er wieder die Treppe hinaufging. An der Stelle, wo er in der Tür gestanden hatte, war ein feuchter Fleck auf dem Boden.
»Wie lange bleiben sie hier, Mama?«, fragte Elizabeth, die den Tisch deckte.
»So lange sie wollen. Dein Vater hat sich da sehr klar ausgedrückt.«
»Aber warum sind sie von England nach Massachusetts gekommen? Für irgendwelche Amtsgeschäfte?«
»Schluss mit der Fragerei. Hol jetzt Wasser.«
Im Speicher stellte Ned den alten Stuhl neben das Fenster und sagte Will, er solle sich setzen. Dann machte er sich daran, ihm die Haare zu schneiden. Seit April waren sie nun auf der Flucht – zuerst anderthalb Monate in England, wo sie in den Häusern fremder Leute geschlafen hatten oder in Scheunen oder unter Hecken. Sie wurden vom Parlament wegen des Versuchs gesucht, die Armee zum Widerstand gegen das Abkommen mit dem exilierten Karl II . aufzustacheln. Und dann waren sie zehn Wochen lang auf dem stinkenden Schiff eingesperrt gewesen. Wills dunkle Locken fielen in Büscheln zu Boden.
Schließlich protestierte Will. »Das reicht jetzt, Ned. Hast du etwa vor, mich kahl zu rasieren?«
»Es reicht noch nicht. Jedenfalls wenn wir anständig aussehen wollen, und das sollten wir tunlichst. Solange wir wie Sträflinge auf der Flucht aussehen, werden wir auch wie solche behandelt. Jetzt das Gesicht, Soldat. Der Bart muss auch runter.«
Er ging vor Will in die Hocke und nahm sich der zotteligen Haare an, die seinem Schwiegersohn fast bis zur Brust reichten. Die Arbeit mit der Schere ging ihm flott von der Hand. Vor dem Krieg, vor langer Zeit in den Zwanzigern, war er in der Schneidergilde in die Lehre gegangen, um von der Pike auf den Tuchhandel zu erlernen. Der Umgang mit der Schere war seinen Fingern immer noch vertraut. Als der Bart fast zur Gänze verschwunden war, kam ein kräftiges, feingliedriges Gesicht voll spiritueller Kraft zum Vorschein – ein Gesicht wie aus der Geschichte der Märtyrer von John Foxe, dachte Ned, und genau ein solcher Märtyrer wäre aus dem jüngeren Mann geworden, wenn er ihn nicht zur Flucht überredet hätte.
»So ist es gut.« Er zeigte Will das Ergebnis im Spiegel, reichte ihm dann die Schere und nahm seinen Platz auf dem Stuhl ein. »Jetzt bin ich dran.«
Will zögerte. Sein Schwiegervater war immer ein Mann von repräsentativer Erscheinung gewesen. Er hatte bestickte Wämser und feines Schuhwerk getragen und in der King Street neben dem Whitehall-Palast in einem prachtvollen Haus gelebt. Die Levellers waren nicht die Einzigen gewesen, die ihm Eitelkeit vorgeworfen hatten. Der alte Mann vermisste das feine Leben sicherlich, doch beklagt hatte er sich nicht ein einziges Mal. Allerdings war er unter der Anspannung des letzten Jahres nunmehr vollständig ergraut.
Zaghaft schnitt Will eine Strähne ab.
»Nur zu, Will, herunter mit dem Putz«, befahl Ned aufgeräumt. Als gleich darauf Haarbüschel in der Farbe von Gänsedaunen zu Boden rieselten, nahm er den Spiegel in die Hand und stellte entsetzt fest, dass er so grau geworden war wie die Soldaten, die einst für die Royalisten gekämpft hatten und jetzt als alte Bettler durch die City von London streunten. Er legte den Spiegel beiseite.
Als sie eine halbe Stunde später zum Abendessen in die Küche herunterkamen, sahen sie wie verwandelt aus. Sie trugen nicht mehr die stinkenden ledernen Armeejacken. Nach ihrem Bad im Fluss rochen sie sauber. Wie die beiden jetzt hemdsärmelig mit der Familie Gookin am Tisch saßen, unterschieden sie sich nicht von anderen Engländern in Massachusetts. Gott sei’s gedankt, dachte Mary Gookin, vielleicht würden sie ja doch unbemerkt bleiben.
Gookin senkte den Kopf. »O ewiger Gott und Vater, gelobet sei dein heiliger Name um aller Wohltaten und Gaben, damit du unsern Leib so gnädiglich speisest. Verzeihe uns alle unsere Sünden, und siehe nicht an unsere Missetaten. Erhalte und schütze deine allgemeine Kirche in diesen Zeiten der Not, und verleihe uns Gesundheit, Frieden und Wahrheit in Jesu Christo, unserm Herrn und einzigen Heiland. Amen.«
»Amen.«
Gookin hob den Kopf, lächelte und breitete die Hände aus. »Esst.«
Es war ein wahrlich einfaches Mahl – frisch gebackenes Brot, Käse, eingelegte Zunge. Die Gäste machten sich darüber her wie halb Verhungerte, auch wenn sie sich um einen Rest an guten Manieren bemühten, das Brot in kleinen Brocken aßen und jeden Bissen erst gut kauten, bevor sie den nächsten hinunterschlangen. Gookin holte einen Krug Bier. Ned trank gern davon, aber Will lehnte ab, worauf Gookin, als wäre das eine Erklärung für Wills Abstinenz, zu seiner Frau sagte: »Wills Vater war ein Geistlicher mit rigiden puritanischen Prinzipien.«
»Ist dem so, Oberst Goffe?«, fragte sie höflich.
»Äußerst rigide«, sagte Will, nachdem er wieder ein Stück Brot hinuntergeschluckt hatte. »Er hat sich geweigert, während einer Taufe das Kreuzeszeichen zu machen oder bei einer Trauung den Austausch von Ringen zu erlauben oder ein Chorhemd zu tragen. Irgendwann hat er sogar eine Petition an den König unterzeichnet, die sich gegen derartige Praktiken wandte, worauf er seinen Lebensunterhalt in Sussex verloren hat und gezwungen war, nach Wales zu gehen.«
»Und das ist für jedermann eine harte Strafe«, sagte Ned.
Will lächelte und wiegte den Kopf. »Ihr müsst ihm das nachsehen, Mrs Gookin. Derartige Witzeleien muss ich schon seit Jahren ertragen. Ich bin nämlich in Wales geboren, wie Ihr vielleicht bereits an meinem Tonfall erkannt habt.«
Mary lächelte. »Dann seid Ihr wohl kein Waliser, Oberst Whalley?«
»Nein, Gott sei’s gepriesen, ich stamme aus Nottinghamshire.« Ned nahm einen Schluck Bier. »Aber Wales bringt gute Prediger hervor, das muss ich dem Land zugestehen, und Will ist mit ebenjener Gabe reichlich gesegnet. Oliver hat ihn für den besten Redner der Armee gehalten.«
Oliver. Die unbefangene Vertrautheit, mit der er den Namen fallen ließ, brachte das Gespräch am Tisch kurz zum Erliegen.
Gookin konnte nicht widerstehen, seinen Kindern zu erklären: »Ned ist nämlich der Neffe vom Lordprotektor.« Er bereute das Gesagte sofort. Mary warf ihm einen scharfen Blick zu, während die Kinder interessiert nachfragten.
»Wie war er?«
»Habt Ihr ihn oft getroffen?«
»Erzähl noch was vom Lorbebäcker, Ned …«
Ned lachte und hob die Hände. »Das sind zu viele Fragen auf einmal.«
»Habt Ihr Seine Hoheit gut gekannt?«
»Ja, ziemlich gut.«
Er hätte sagen können, dass sie im selben Jahr geboren wurden, dass sie von klein auf eng befreundet gewesen waren und gemeinsam die Universität besucht hatten, dass sie zusammen ausgeritten waren, mit Falken gejagt und am Spieltisch gesessen hatten (was vor Olivers Glaubenswechsel stattgefunden hatte), dass sie zusammen in London ein Haus bewohnt hatten, bevor sie beide heirateten, dass Oliver ihn überredet hatte, Soldat zu werden, und ihn zum Generalkommissar der gesamten englischen Kavallerie befördert hatte, dass sie Seite an Seite bei Marston Moor, Naseby und in einem Dutzend weiterer Schlachten gekämpft hatten, dass er während Cromwells Herrschaft für die militärische Sicherheit des Lordprotektors verantwortlich gewesen war, dass er an seinem Totenbett gesessen hatte, dass er ohne Oliver ein unbedeutendes Leben als erfolgloser Tuchhändler und gescheiterter Gutsbesitzer gelebt und nie das Todesurteil des Königs unterzeichnet hätte und dass er deshalb in seinem hohen Alter auch nie in einem Speicher auf der anderen Seite der Welt gelandet wäre.
Stattdessen sagte er nur: »Ich werde euch ein andermal von ihm erzählen.«
Um das Thema zu wechseln, sagte Gookin schnell: »Vielleicht erweist Ihr uns die Gunst eines Vortrags im Versammlungshaus, Will? Wir würden uns über eine Einweisung freuen.«
»Ist das klug, sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen?«, fragte Mary.
»Ein berechtigter Einwand«, sagte Will. Er sah Rat suchend zu Ned. »Außerdem bin ich, was das öffentliche Reden anbelangt, etwas aus der Übung.«
»Wir sind nach Cambridge gekommen, um Männern und Frauen gleicher Gesinnung zu begegnen«, sagte Ned. »Wenn man uns einlädt, zusammen die Heilige Schrift zu studieren, so sollten wir das tun. Warum sonst sind wir hier? Schließlich, Mrs Gookin, können wir nicht den Rest unseres Lebens wie Gefangene in einem einzigen Raum zubringen, so prachtvoll Euer Speicher auch sein mag.«
Mary öffnete den Mund zu einer Entgegnung, besann sich aber eines Besseren.
Nach dem Essen wünschten die Offiziere ihren Gastgebern eine gute Nacht und zogen sich in den Speicher zurück.
Ned stand am Fenster, rauchte seine Pfeife und schaute hinunter auf den im Dämmerlicht blaugrauen Fluss und die dunklen Stützpfeiler der noch unvollendeten Brücke, die wie die Spieren eines Schiffswracks bei Ebbe aus dem Wasser ragten. Er öffnete das Fenster. Eine leichte Brise kräuselte den in der Luft hängenden Rauch. Früher war er zu dieser abendlichen Stunde oft von seinem Haus zum Whitehall-Palast nebenan gegangen, um mit dem Lordprotektor eine Pfeife zu rauchen. Den Tabak liebte Cromwell fast so sehr wie die Musik. Manchmal, wenn er jemand spielen oder, noch besser, wenn er jemand singen hörte, dann streifte er so lange durch seine offizielle Residenz, bis er die Quelle gefunden hatte, und hörte mit Tränen in den Augen zu.
Wenn ihr wissen wollt, wie er war: Das ist etwas, womit ihr vielleicht nicht gerechnet habt.
Will saß am Tisch und beugte sich über sein Tagebuch. Er schrieb in Kurzschrift, zum Schutz vor fremden Augen und um Papier zu sparen. Er hatte nur wenige Notizbücher mitnehmen können und hatte keine Ahnung, wann er Nachschub beschaffen konnte.
27. Juli 1660. Wir gingen am Morgen zwischen der 8. & 9. Stunde zwischen Boston und Charlestown vor Anker: Gottes schützender Hand sei es gedankt alle bei guter Gesundheit. Die sollen dem Herrn danken um seine Güte und um seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, Psalm 107:21, &c.
Für mehr war er zu müde. Er blies die Tinte trocken und kniete sich dann neben das Bett, um für Frances und beider fünf Kinder zu beten. Das älteste war sechs, das jüngste noch ein Säugling, der während ihrer Flucht zur Welt gekommen war und den er nie zu Gesicht bekommen hatte. »Dick, Betty, Frankie, Nan und Judith – behüte und beschütze sie, o Herr, vor allem Übel und erlöse sie durch deine heilige Gnade.« Ned hatte recht: Es war töricht, seinen Gedanken an sie zu oft nachzuhängen. Er musste daran glauben, sie wiederzusehen. Ihre Trennung konnte nur auf Gottes weisem Plan beruhen. Beim Anblick der Gookins war ihm die eigene Kinderschar aber wieder vor Augen getreten. Und doch stellte er fest, dass die Bilder von ihnen mit jedem Tag verschwommener wurden. Die Kleinen hatten jetzt sicher schon mit Laufen und Sprechen angefangen. Sie konnten einfach nicht mehr die sein, die er vor Augen hatte. Er sah sie wie durch Nebel.
Ein Pochen rief ihn in die Gegenwart zurück. Ned klopfte am Fensterbrett seine Pfeife aus. Wills Gedanken wurden schwer, die Müdigkeit übermannte ihn. Er konnte gerade noch aufs Bett kriechen. Das fremdartige Gefühl, auf einer Matratze und nicht in einer Hängematte zu liegen – die Festigkeit, das ausbleibende Meereswogen, weder Stimmengewirr noch Schritte auf einem Deck über ihm, die Stille. Er nahm kaum das Quietschen der Matratze wahr, als Ned sich neben ihm ausstreckte, und im Nu war er fest eingeschlafen.