KAPITEL 4
R ichard Nayler verließ Stathern Hall am Samstag bei Sonnenaufgang. Vorsichtshalber schob er sich seine Pistole in den Gürtel. Gut möglich, dass Oberst Hacker auf seinem Anwesen Waffen versteckt hatte, und wer konnte schon sagen, wozu seine Frau in ihrer Verzweiflung imstande wäre. Leise schloss er die Tür hinter sich.
Er machte sein Pferd los und holte ihm einen Eimer Wasser. Während es auf der Obstwiese graste, wickelte er das Todesurteil in ein Stück Stoff, verstaute dieses sorgfältig in einer der Satteltaschen und zog die Riemen fest. Bevor er aufstieg, blickte er ein letztes Mal zum Haus. Die Fenster waren dunkel und leer und so leblos wie ein Mausoleum. Um fünf Uhr war er unterwegs.
Er ritt im Galopp in den Sommermorgen, den Oberkörper aus dem Sattel vorgebeugt, die Ellbogen eng an den Knien, den Blick starr geradeaus. Er ritt auf geschwungenen, verlassenen Wegen, ritt durch Dörfer, die gerade zum Leben erwachten, und erst nachdem er ein paar Meilen zwischen sich und Stathern Hall gelegt hatte, verlangsamte er das Tempo ein wenig. Um neun Uhr hatte er die Ruinen des alten römischen Forts erreicht, das die Kreuzung Fosse Way und Watling Street markierte. Die uralte Straße führte geraden Wegs gen Süden.
Im Laufe des Tages wechselte er zweimal das erschöpfte Pferd, das erste Mal in Burbage, dann noch einmal in Towcester. Erst am frühen Nachmittag, als er laut den Meilensteinen ganz in der Nähe des Schlachtfelds von Naseby sein musste, gestattete er dem Pferd ein, zwei Meilen gemächlichen Trabs. Er schaute nach links über die flache Landschaft von Northamptonshire und versuchte einen Hinweis auf den schrecklichen Tag von vor fünfzehn Jahren zu finden. Im Frühsommernebel eines Junimorgens waren hier Prinz Ruprechts Kavaliere durch Ginstergestrüpp und zwischen Kaninchenbauten hindurch dem Feind entgegen einen Hügel hinaufgestürmt, wo tausend »Gott ist unsere Kraft« brüllende Eisenreiter – unter dem Kommando von Oberst Edward Whalley, wie er später erfuhr – sie von der Seite angriffen. Nayler hatte noch einen Schuss abfeuern können, dann war die Kavallerie der Rundköpfe in ihre vorderste Linie eingedrungen. Sein Pferd war tödlich getroffen unter ihm zusammengebrochen.
Er lag damals eingeklemmt unter seinem toten Pferd, den ganzen Tag zwischen den Leichen, blutend, ein Bein zerschmettert und zu keiner Bewegung fähig. Er hörte das Stöhnen seiner verwundeten Kameraden und hielt bis zum Einbruch der Nacht aus, dann wurde er ohnmächtig. Als Nächstes erinnerte er sich an das Geräusch von Schüssen, etwas Spitzes bohrte sich in seine Brust, und als er die Augen öffnete, standen zwei Musketiere der Rundköpfe mit geladenen Gewehren über ihm und diskutierten darüber, ob sie ihm den Rest geben sollten oder nicht. »Warte«, sagte der eine. »Er sieht uns an.« Sie warfen ihn auf eine Karre, und so hatte er überlebt, auch wenn er sich in den folgenden Monaten oft wünschte, das wäre nicht der Fall gewesen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit lebte er jetzt also und befand sich auf der Gewinnerseite, und er würde bestimmt nicht den Fehler begehen, Gnade walten zu lassen.
Er gab dem Pferd die Sporen und stürmte im Furor der Rache in einer Staubwolke weiter gen Süden.
In jener Nacht machte er zwanzig Meilen nördlich von London in St Albans halt, wo er sich im White Hart Inn mit zwei Reisenden ein Bett teilte – einem Getreidehändler aus Lincoln und einem Infanteriehauptmann, der zu seinem Regiment in Yorkshire unterwegs war. Als Nayler am Sonntagmorgen seine Reise fortsetzte, schnarchten die beiden noch. Gegen Mittag ritt er den Ludgate Hill hinab durch die City von London. Als wollten sie ihn bei seiner triumphalen Rückkehr willkommen heißen, erklangen in seinen Ohren die Glocken der Sankt-Pauls-Kathedrale. Er ritt auf direktem Weg zum Worcester-Haus in der Strand, hatte das Gebäude aber kaum betreten, als er von einer der Wachen des Lordkanzlers aufgehalten wurde.
»Richard Nayler«, sagte er. »Für Sir Edward Hyde.« Er war verdreckt, unrasiert, trug die staubige Satteltasche unter dem Arm und war schweißnass von Krämpfen und alten Schmerzen. Er wollte an der Wache vorbeigehen, aber der Mann versperrte ihm den Weg.
»Sir Edward weilt mit seiner Familie beim Gebet.«
»Dann meldet mich, sobald er fertig ist.«
Die Wache musterte ihn von oben bis unten. »Ihr wisst schon, dass heute der Tag der Ruhe ist?«
»Ich weiß, dass Ihr ein Trottel seid. Sagt ihm, ich habe das Urteil – genau so, versteht Ihr? Er weiß, was gemeint ist.«
Nayler humpelte durch den Gang zum Empfangsraum und setzte sich dort auf einen der Stühle. Die Grobheit der Wache empfand er nicht als Beleidigung. Er war es gewohnt, nicht erkannt zu werden. Ihm war das sogar lieber. Anonym konnte man wirkungsvoller agieren. Die Leute redeten drauflos und verrieten sich dabei. Vor seiner jetzigen Stellung war er Privatsekretär beim Markgrafen von Hertford gewesen. Nachdem der König wieder eingesetzt worden war, hatte der Markgraf ihm als Belohnung für seine langjährigen treuen Dienste einen Posten in der neuen Regierung verschafft.
Er hätte in angemessenem Rahmen jeden Posten haben können – im Schatzamt, bei der Marine, im Lordkanzleramt. Aber er hatte um eine Stellung im Kronrat gebeten, dem Beratungsgremium des Königs, und dort insbesondere in dem Ausschuss, der für die Ergreifung der Königsmörder geschaffen worden war. Die Arbeit lag ihm. Er hatte weder Frau noch Kinder, die ihn ablenken könnten. Für Müßiggang hatte er keine Zeit. Seine Reputation wuchs bereits. Er war eine jener Schattengestalten, die sich anonym zu allen Zeiten in den privaten Zwischenräumen und politischen Geheimkammern eines jeden Landes tummelten – ein Wort hier, eine Warnung dort, ein weitergegebenes Geheimnis, eine verratene Person. Er agierte als eine höchst nützliche Schattengestalt, die dafür sorgte, dass Dinge in die Tat umgesetzt wurden. Er streckte sein Bein aus und massierte den schmerzenden Muskel.
Nach wenigen Minuten erschien einer der Sekretäre des Lordkanzlers, ein geckenhafter, bräsig aussehender junger Bursche, sicherlich ein Verwandter eines Höflings. »Sir Edward ist gerade zu Tisch.« Er streckte die Hand aus. Spitzenwerk säumte sein Handgelenk, die Finger hatten schwer an den Ringen zu tragen. »Dennoch wünscht er das Schriftstück zu sehen, das Ihr erwähntet.«
Nayler zögerte, nahm das Dokument dann aber aus der Satteltasche und schaute ihm etwas neidisch hinterher, als es die Treppe hinaufgetragen wurde. Da er um die schwachen Seiten großer Männer wusste, hatte er gehofft, es Sir Edward persönlich überreichen zu können. Bald darauf wurde er jedoch befriedigt Zeuge der Wirkung, die das Schriftstück offenbar entfaltete. Plötzlich erwachte das große Palais aus seiner sonntäglichen Erstarrung, Befehle wurden gerufen, Kuriere eilten an der offenen Tür vorbei. Nach etwa einer halben Stunde war aus dem Innenhof das Geräusch einer heranrollenden Kutsche zu hören, und die langnasige Bluthundgestalt von Sir William Morice, Staatsseketär für das nördliche Departement, schlurfte herein. Ihm folgten kurz darauf Sir Anthony Ashley-Cooper und Sir Arthur Annesley, beide Mitglieder des Kronrats, die wie üblich gemeinsam erschienen, und ebenfalls wenig später tauchte der Sekretärsgeck wieder auf, der sich nun wesentlich ehrerbietiger zeigte.
»Sir Edward lässt Euch seine Grüße ausrichten, Mr Nayler, und verlangt Eure Anwesenheit bei einer Ratssitzung.«
Nayler nahm seine Satteltasche und folgte dem schmalhüftigen Sekretär in die Emporenhalle, die Haupttreppe hinauf und durch eine Abfolge von Empfangsräumen, die einen Blick über den Garten bis zur Themse boten, bis sie schließlich das private Arbeitszimmer des Lordkanzlers erreichten, wo der Sekretär einen Schritt beiseitetrat und ihm mit einer Handbewegung einzutreten bedeutete.
Wie immer war er überrascht, wie klein der Raum war, sozusagen kaum größer als eine Abstellkammer – die Wände holzvertäfelt, die Decke niedrig, die Luft stickig, mit dem winzigen Bleiglasfenster so düster, dass selbst an diesem Sommernachmittag Kerzen brannten. Und doch wurde England von hier regiert. Der schwere Tisch stand auf einem türkischen Teppich, der fast den gesamten Boden bedeckte. Nayler erfasste mit einem Blick die Mitglieder des Ausschusses – Morice an einer Seite, Ashley-Cooper und Annesley ihm gegenüber und am Kopfende des Tischs, gegenüber der Tür, des Königs Erster Minister Sir Edward Hyde. Er war unglaublich dick und saß ein Stück vom Tisch entfernt schräg zu den anderen, weil seine arthritischen Beine auf einem Hocker ruhten. Er las das Urteil und schaute nicht auf.
»Was ist das für ein Mensch, der ein derartiges Schriftstück noch aufbewahrt, nachdem seine Feinde an die Macht zurückgekehrt sind und er weiß, dass es ihn an den Galgen bringen wird? Könnt Ihr mir das beantworten, Mr Nayler?«
»Ein Fanatiker, Mylord.«
»Nun ja, ich glaube, da hat er in Euch seinen Meister gefunden.« Hyde hob nun den Blick und musterte Nayler aus den Augenwinkeln. »Nach Leicestershire und zurück in vier Tagen, das ist eine Leistung. Ihr habt nicht daran gedacht, jemand anderes zu schicken?«
»Ich erachtete den Auftrag als zu wichtig.«
Hyde nickte. »Richtig. Die Störung des Sabbats sei Euch verziehen.« Er nahm die Lektüre des Dokuments wieder auf, streckte gleichzeitig einen seiner Wurstfinger aus und deutete zum Tischende. »Setzt Euch.«
Nayler nahm seinen Hut ab und setzte sich. »Ich danke Euch, Mylord, aber in Wahrheit bin ich nur der Bote. Das Verdienst liegt ganz bei Sir Arthur und Sir Anthony für ihre Überredungskünste, die Oberst Hacker veranlassten, die Existenz des Schriftstücks preiszugeben.«
Überredungskünste, was für eine Beschönigung. Während er, Nayler, bei Hackers Vernehmung in einer Ecke saß und sich Notizen machte, hatten sie den Wachen im Tower befohlen, so lange mit Knüppeln auf den angeketteten Oberst einzudreschen, bis er alles, was er wusste, auskotzte. Beide waren Advokaten, die unter Cromwell gedient hatten, bevor sie ihre geschmeidige Loyalität dem König angedient hatten. Nayler schaute über den Tisch zu ihnen hinüber. Sie nickten ihm anerkennend zu. Er wusste, wie sehr sie bestrebt waren, ihren Eifer bei der Verfolgung ihrer früheren Kameraden zu beweisen.
»Hacker ist jetzt noch mehr ein toter Mann, als er es zuvor schon war«, sagte Hyde. »Was ist mit den beiden anderen Offizieren, die das Todesurteil erhalten haben, Phayre und Huncks?«
»Beide in Gewahrsam, Mylord, und beide beharren darauf, den Befehl verweigert zu haben. Huncks behauptet, Cromwell habe ihn wegen seiner Feigheit misshandelt. Beide schieben alle Schuld auf Hacker.«
»Es ist wohl nun unsere Pflicht, das Todesurteil dem Oberhaus zu übergeben, oder?«
»Ja, Mylord«, sagte Annesley. »Zunächst muss es aber dem Leutnant im Tower übergeben werden, wo Hacker noch die Echtheit beschwören muss. Dann wird man es wie angewiesen den Lords zukommen lassen.«
»Und das muss wann geschehen? Sofort? Morgen?« Annesley und Ashley-Cooper nickten beide. Hyde seufzte. »Das wird wieder für Aufruhr im Parlament sorgen.« Er wandte seinen Blick Nayler zu. »Wie viele von den Unterzeichnern sind noch auf freiem Fuß? Das ist die erste Frage, die man uns stellen wird.«
»Wenn Ihr erlaubt, Mylord.« Nayler entnahm seiner Tasche die Liste, die er in der Nacht zuvor in Hackers Arbeitszimmer erstellt hatte. »Ich habe das Urteil durchgesehen. Neunundfünfzig Verräter haben es unterschrieben. Nach meiner Berechnung sind seitdem zwanzig gestorben. Fünfundzwanzig befinden sich in Gewahrsam, sie haben sich ergeben oder wurden gefasst. Einer – Oberst Ingoldsby – wurde von Seiner Majestät in Anerkennung seiner Hilfe bei der Festsetzung der anderen begnadigt. Das heißt, es bleiben insgesamt dreizehn übrig.«
»Und wer sind die?«, fragte Morice. Wie Hyde war er in den Jahren des Exils an der Seite des Königs geblieben. Aber er war ein im Kopf etwas verwirrter alter Mann und würde wahrscheinlich nicht sehr lange als Staatssekretär amtieren können. Dennoch brachte Nayler ihm mehr Respekt entgegen als Annesley und Ashley-Cooper, so schlau sie auch waren. Man ließ ihn also seine Zeit im Amt verdientermaßen vollenden.
»Whalley«, sagte er und fuhr mit dem Finger an den Namen entlang. »Livesey, Okey, Goffe, Hewson, Blagrave, Ludlow, Barkstead, Dixwell, Walton, Say, Challoner und Corbet.«
»Und wie weit sind wir, was ihre Gefangennahme angeht?«
»Livesey vermuten wir mit Frau und Kindern in den Niederlanden. Okey und Barkstead sind in Deutschland gesehen worden. Walton auch, ein alter und – nach allem, was man so hört – sehr kranker Mann. Hewson ist in Amsterdam. Blagrave, Challoner und Corbet sollen Gerüchten zufolge auch in den Niederlanden sein. Say ist in der Schweiz. Vom Rest haben wir noch keine Spur. Wir behalten ihre Familien im Auge.«
Hyde warf das Schriftstück auf den Tisch. »Das Ganze hört einfach nicht auf. Für die Ermordung des Königs hatten lediglich vier Männer sterben sollen, so lautete die Vereinbarung, als wir die Akte der Verzeihung ausgehandelt haben. Und kaum haben wir die Gerichtsunterlagen gefunden – genauer gesagt, Ihr habt sie gefunden, Mr Nayler –, und aus den vieren wurden acht, dann aus acht zwölf, und jetzt haben wir Dutzende. Und jedermann im Parlament hat irgendeinen Feind, den er von der Begnadigung ausnehmen will.«
Morice’ Hängebacken bebten. »Ihr wollt doch nicht vorschlagen, Mylord, diese dreizehn in Freiheit zu belassen?«
»Nein, Sir William, das will ich keineswegs. Wir müssen sie zur Strecke bringen. Aber wir sollten die Angelegenheit irgendwie beschleunigen, damit wir uns endlich wieder mit anderen Dingen befassen können.« Während er nachdachte, hob er seine Perücke ab und kratzte sich am schweißnassen Schädel. Schließlich setzte er sie sich behutsam wieder auf den Kopf. »Ich schlage vor, wir konzentrieren unsere Bemühungen auf die, die wir in Gewahrsam haben. Durch die Entdeckung des Todesurteils können wir den Fall gegen sie schnell abschließen.« Er wandte sich wieder an Nayler. »Die sich in der Hoffnung auf Gnade ergeben haben, werden die immer noch ohne Anklage im Lambeth-Haus festgehalten? Und nicht im Tower?«
Nayler nickte. »Um andere zu ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen.«
»Nun, wir können davon ausgehen, dass keiner dieser Flüchtigen sich noch aus freien Stücken ergeben wird, sonst hätte er das bis jetzt schon getan. Deshalb ist es an der Zeit, den nächsten Schritt zu unternehmen.«
»Und das wäre, Mylord?«
»Wir verfrachten die Gefangenen umgehend in den Tower und stellen sie so schnell wie möglich vor Gericht.«
»Es wird also niemand mehr begnadigt?«, sagte Ashley-Cooper.
»Niemand.«
»Obwohl sie sich in der Erwartung auf Gnade ergeben haben?«
»Sie waren eben Idioten. Und ja, ich hätte gern eine andere Lösung bevorzugt. Gott weiß, dass ich den König vor all dem, was anstehen könnte, gewarnt habe. Aber die augenblickliche Stimmungslage im Parlament lässt mir keine Wahl. Seid Ihr anderer Meinung?«
»Nein, nein«, sagte Annesley eilig. »Wir sind alle Eurer Meinung, Mylord.«
»Mr Nayler?«
»Sie haben gegenüber dem König keine Gnade walten lassen, warum sollte man sie ihnen erweisen?«
»Gut gesagt. Dann werde ich also dem König und dem gesamten Kronrat empfehlen, so zu verfahren.«
»Und die Gefangennahme der anderen?«, fragte Nayler.
»Das verbleibt in Eurer Verantwortung, Mr Nayler. Die Arbeit ist ganz offensichtlich nach Eurem Geschmack.« Hyde hielt das Dokument in der ausgestreckten Hand und drehte den Kopf zur Seite, als erachtete er allein die Berührung dieses Papiers als degoutant. »Ihr bringt das jetzt am besten in den Tower hinüber.« Nayler stand auf, ging um den Tisch herum und nahm das Dokument entgegen. »Haltet uns über Eure Fortschritte auf dem Laufenden. Und jetzt habe ich mit meinen Kollegen noch eine heikle Angelegenheit zu erörtern.«
Damit betrachtete sich Nayler als entlassen. Er griff nach seiner Satteltasche und verbeugte sich vor den Anwesenden. »Mylords.«
Vor der Tür blieb er kurz stehen, scheinbar um das Todesurteil in seiner Tasche zu verstauen, was aber nur ein Vorwand zu lauschen war.
»Ein wahrhaft diensteifriger Bursche«, hörte er Morice anerkennend sagen.
Und dann vernahm er Hydes schrill keuchende Stimme. »In der Tat ein sehr eilfertiger Bursche. Zweihundert Meilen in vier Tagen? Wo diese Verbissenheit wohl herrühren mag.«
Er hätte gern noch ein paar Dinge mehr aufgeschnappt, aber der Sekretärsgeck wartete schon, um ihn nach draußen zu begleiten. Während sie sich von der offenen Tür entfernten, spitzte er angestrengt die Ohren, aber zu seinem Ärger verblassten die Stimmen zu einem unverständlichen Brummeln.
Die Südseite der Strand entlang zogen sich auf einer Strecke von einer Meile die prächtigen Paläste und Gärten des Adels bis zur Themse hinunter – zuerst Somerset-Haus im Osten, dann Worcester-Haus, Arundel-Haus und York-Haus bis Northumberland-Haus an der Abzweigung in die Whitehall. Inmitten dieser stattlichen Gebäude, heruntergekommen im Bürgerkrieg und den mageren Jahren des Protektorats, befand sich Essex-Haus, das elisabethanische Herrenhaus, das als die Londoner Residenz von William Seymour, 1. Markgraf von Hertford, diente. In diesen Tagen war es weniger ein Haus als ein Labyrinth aus Unterkünften in verschiedenen Gebäuden – zweiundvierzig Zimmer insgesamt, die meisten zur Erzielung von Einkommen vermietet. Hier, in diesem Monument royalistischen Niedergangs, wohnte Nayler seit vierzehn Jahren mietfrei als Mitglied des Haushalts des Markgrafen.
Er durchquerte den kopfsteingepflasterten Innenhof, ging an vom Wind aufgewehten Müllbergen vorbei, in denen Ratten raschelten, bis zu einer schweren Eichentür im Westflügel. Dort zog er einen Schlüsselbund hervor, schloss auf und stieg dann die Treppe bis ins oberste Stockwerk hinauf. Am Ende des dunklen Gangs öffnete er eine zweite Tür. Keiner der Diener besaß einen Schlüssel. Die Hitze der seit vier Tagen eingesperrten Luft schlug ihm ins Gesicht, als hätte er eine Ofenklappe geöffnet. In der Mitte des Raums, der ihm als Arbeitszimmer diente, kreiselte eine Säule aus Fliegen, andere schwirrten hilflos gegen das Bleiglasfenster. Auf jeder freien Fläche breiteten sich Berge mit vergilbten Papieren aus – der Prozess gegen die Königsmörder, mit Vollmacht sichergestellte Briefe, aber auch Sitzungsprotokolle, die er in vergessenen Winkeln von Advokatenbibliotheken und Familienarchiven, auf Speichern, in Kellern und unter Abfallhaufen aufgespürt hatte. Auf allem hatte sich rötlicher Staub niedergelassen, Dreck und Fäulnis, die dem Raum das eigentümliche Aroma von moderiger Trockenheit verliehen. Er ging zum Fenster und setzte dabei jeden Schritt sorgfältig zwischen die Stapel, was ein gelegentliches Stolpern aber nicht verhinderte. Das Papier raschelte wie totes Blattwerk, und seine Schritte wirbelten vom Teppich schwarze Sporenwolken auf. Sofort war seine Nase verstopft, und er spürte, wie sich jene widerlichen Kopfschmerzen ankündigten, die sich üblicherweise von der Nase bis hinter die Augen ausbreiteten.
Er öffnete das Fenster. Keine hundert Schritt entfernt floss träge die Themse vorbei. Die Ebbe entblößte schwarze Buckel klatschnassen, von grünen Algensträngen durchzogenen Schlicks. In der heißen Sonne stank es nach Meer und Moder. Menschliche Gestalten suchten nach Dingen, die sie brauchen oder verkaufen könnten. Über ihnen kreisten kreischende Möwen. Gelegentlich schoss eine nach unten, ließ sich kurz nieder und stieg gleich wieder auf. Nahe dem Ufer befand sich unten im Garten das Tor, das auf den Privatsteg hinausführte. Nayler verrenkte den Hals. Das Boot des Markgrafen war nicht da. Er vermutete, dass der alte Mann sich flussaufwärts hatte rudern lassen, um auf Schloss Hampton Court den König aufzusuchen.
In der Hoffnung auf etwas Durchzug ging Nayler in seine kleine Eckschlafkammer und öffnete ein zweites Fenster. Es befand sich an der Seite des Hauses, von wo man hinunter in die Milford Lane sah, die zwischen dem Essex-Haus und dem Arundel-Haus verlief – eine berüchtigte schmale Straße mit Bierschenken, billigen Läden, Bordellen und Mietshäusern, deren Bewohner nicht einmal die Anhänger Cromwells hatten zu Gott bekehren können. Es war ungewöhnlich ruhig an diesem Sonntagnachmittag. Seiner Erfahrung nach hielten Huren und Schankkellner den Sabbat genauso penibel ein wie jedermann sonst. Einige Male war er in den vergangenen Jahren selbst dort hinabgestiegen, wenn er die Einsamkeit und das schmerzende Verlangen nicht mehr hatte ertragen können.
Er schaute noch ein paar Minuten zum Fenster hinaus und drehte sich dann um. Er hielt die Schlafkammer frei von Papier und jeglicher Dekoration – mit Ausnahme einer Miniatur, die über dem Toilettentisch seiner Frau hing. Darunter stand eine Kerze, die er gern abends entzündete, um in ihrer Gesellschaft einschlafen zu können. Jetzt blickte sie ihn unter ihren dunklen Ringellocken hindurch an, ungefähr wie Sir Edward Hyde am Konferenztisch – der Kopf im Profil, ihm halb zugewandt, mit fragendem Gesichtsausdruck, wissend, amüsiert.
Zuletzt gesehen hatte er sie am Weihnachtstag 1657, als sich der gesamte Haushalt verbotswidrig in der Privatkapelle versammelt hatte, um die Geburt Christi zu feiern. Nach Ende der Predigt, der Priester teilte an der Kommunionbank – eine Kirchenvorrichtung, die für sich schon widerrechtlich war – gerade das Sakrament aus, flog auf einmal die Tür auf, und eine Reihe Soldaten kam hereinmarschiert und umstellte die Gemeinde. Sie richteten ihre Musketen auf die Kommunikanten, gestatteten ihnen aber noch, den Wein und die Hostien zu empfangen. Als Nayler mit Sarah zurück zur Sitzbank ging, fiel ihm auf, dass sich unter den Soldaten kein einziger befehlshabender Offizier befand. Als sie sich gesetzt hatten, nahm Sarah seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Er spürte den Tritt unter seiner Hand – er konnte ihn jetzt noch spüren, zweieinhalb Jahre später, ein festes, dumpfes Klopfen, wie ein Herzschlag. Sie hatte dabei kein Wort gesagt. Später erst begriff er, dass sie ihm auf diese Weise hatte sagen wollen, jetzt bloß keine Dummheit zu begehen, aber das hatte er sowieso nicht beabsichtigt.
Als jedoch nach mehreren Stunden, die sie als Gefangene auf der Kirchenbank ausharrten, schließlich zwei Offiziere erschienen – beide im Rang eines Obersts –, durch den Mittelgang zum Altar schritten und nach dem Grund für die gesetzwidrige Versammlung verlangten, spürte er, wie ihn die Wut zu überkommen drohte.
»Heute ist ein ganz gewöhnlicher Dienstag«, sagte der jüngere der beiden Offiziere. »Ein Wochentag wie jeder andere. Den Aberglauben der Geburt Christi zu feiern ist kraft Parlamentsbeschlusses verboten. Somit steht Ihr alle unter Arrest.«
Niemand erhob das Wort. Nicht einmal der Markgraf, der schweigend in der ersten Reihe saß. In die Stille hinein hörte sich Nayler flüstern: »Es ist keineswegs gegen das Gesetz, Gott zu huldigen.«
»Wie war das, Sir?«, sagte der Offizier.
Er wiederholte es lauter. »Ich habe gesagt, es sei nicht gegen das Gesetz, Gott zu huldigen.«
»Es gilt als Verstoß, dazu die Agende der englischen Kirche zu verwenden, was auf nichts anderes als die katholische Messe in englischer Sprache hinausläuft.«
Er spürte, wie Sarah seinen Arm umklammerte, konnte sich aber nicht zurückhalten. »Ich war der Meinung, Ihr habt den Krieg für die Freiheit des Gewissens geführt.«
»Für die Freiheit des Gewissens, Sir, nicht für Hochverrat. Das alte Gebetbuch bedeutet, dass Ihr vor allem für Karl Stuart betet – wollt Ihr das abstreiten?«
»Wir beten für alle christlichen Könige, Prinzen und Statthalter.«
»Dann betet Ihr also auch für den König von Spanien«, sagte der ältere Offizier. »Und der ist Feind und Papist zugleich.«
»Wir beten nur zu Gott, dass er alle Herrscher segne. Hier ist kein Papist.«
Die Offiziere hatten genug gehört. »Verhaftet den Mann.«
Nayler blieb keine Zeit, sich von Sarah zu verabschieden oder sie auch nur noch einmal richtig anzusehen. Er war so außer sich vor Zorn, dass er die beiden Soldaten, die sich hinter ihm aufgestellt hatten, nicht bemerkt hatte. Er hörte Sarah schreien, aber bevor er begreifen konnte, was gerade mit ihr passierte, wurde er schon weggezerrt, erst in den hinteren Teil der Kapelle und dann hinaus in die Kälte des Dezembers. Sie schleppten ihn durch die Straßen, die am Tag des Weihnachtsfests wie ausgestorben dalagen, was die Armee wohl besonders empört hatte. Schließlich erreichten sie das Newgate-Gefängnis, wo sie ihn in eine Zelle warfen und die nächsten sechs Monate verrotten ließen. Nach seiner Freilassung erfuhr er, dass der Säugling, ein Junge, in der Nacht seiner Verhaftung tot zur Welt gekommen war, eine durch den Schrecken hervorgerufene Frühgeburt, bei der auch Sarah das Leben ließ.
Wo diese Verbissenheit wohl herrühren mag.
Nun ja, da kann ein Mann schon einmal Grund zur Verbissenheit haben, meint Ihr nicht auch, Eure Lordschaft?
Vor allem, wo es sich bei den verhaftenden Offizieren um Oberst Whalley und Oberst Goffe handelte, gesucht wegen Königsmord und immer noch freien Fußes irgendwo auf Gottes schöner Erde wandelnd – wenn auch nicht mehr lange, Sir, jedenfalls nicht, solange es nach Mr Richard Nayler geht.