KAPITEL 6

G ut zwei Wochen später, am letzten Samstag im August, einem Spätsommertag so lieblich, wie man ihn sich in England nur wünschen konnte, stand Nayler gegenüber dem Parlament auf der anderen Seite der Themse im Innenhof vom Lambeth-Haus. In einer Hand hielt er einen Stift, in der anderen einen Haftbefehl vom Unterhaus, in dem verfügt wurde, dass alle derzeit im Lambeth-Haus festgehaltenen Gefangenen an Nayler zu übergeben seien.

Er kannte alle vom Sehen. Trotzdem fragte er jeden, der an Hand- und Fußgelenken gekettet aus den Verliesen nach oben geführt wurde, höflich nach dessen Namen und hakte ihn auf seiner Liste ab. Von den siebzehn Männern, die an ihm vorbeizogen, hatten vierzehn das Todesurteil des Königs unterzeichnet, die anderen hatten bei dem Prozess auf der Richterbank gesessen. Alle hatten sich in der Hoffnung auf königliche Gnade dem Parlament ergeben. Als sie nun nach Monaten unter der Erde weiß wie Maden ins Tageslicht traten, kniffen sie gegen den plötzlichen Sonnenschein die Augen zusammen. Unter ihnen gab es nach wie vor einige, die sich noch nicht an den Verlust ihrer Stellung gewöhnt hatten und forsch fragten, was nun mit ihnen geschehe.

»Nur eine kurze Fahrt den Fluss hinunter«, sagte Nayler freundlich und deutete durch den Innenhof zur Anlegestelle, wo die Ruderbarkasse schon wartete.

Nachdem die Männer alle untergebracht waren und er dem Kastellan die Bestätigung über die Aushändigung quittiert hatte, setzte Nayler sich ins Heck, zog die Hutkrempe tief ins Gesicht und ließ, als die Barkasse abgelegt hatte, eine Hand locker über die Wasseroberfläche streichen. Ein zweites Boot mit Soldaten folgte ihnen. Wie von Hyde prophezeit, hatte das Auftauchen des Todesurteils im Parlament erneut einen Rachetaumel entfacht. Es schien kein Ende nehmen zu wollen. Aber all das würde doch ein Ende haben, sobald er nämlich alle neun noch Flüchtigen gefasst hatte. Den ungefähren Aufenthaltsort der meisten, die sich auf dem Kontinent aufhielten, kannte Nayler. Nur über Whalley und Goffe wusste er rein gar nichts. Der Gedanke, dass sich ausgerechnet diese beiden noch ihrer Freiheit erfreuten, machte ihm so zu schaffen, dass er sich davon fast die gute Laune verderben ließ.

Die Barkasse glitt unter dem mittleren Brückenabschnitt der London-Brücke hindurch und hielt sich dann links in Richtung Tower. Als sie durch die Verräterpforte fuhren, stöhnten einige der Gefangenen auf. Bis die Barkasse festgemacht war, hatte sich Sir John Robinson, Leutnant des Towers, mit einem Dutzend Wachen am Kai eingefunden. Nayler hatte nichts für ihn übrig, er war ein dummer, großmäuliger Kaufmann aus der Stadt. Er stieg aus, und Robinson fertigte unverzüglich die Empfangsbestätigung aus, indem er sich den Zettel auf den Oberschenkel legte und seine Unterschrift daraufkritzelte.

»Wollt Ihr die Gefangenen nicht zählen, Sir John?«, sagte Nayler, den eine solche Schlamperei ärgerte.

»Euer Wort genügt mir, Mr Nayler.«

Robinson reichte ihm die Bestätigung. Die Gefangenen wurden grob aus der Barkasse gezerrt und dann über den Kai getrieben. Oberst Scroope hatte eine blutende Wunde am Kopf. »Unsere neue Garnison ist ein irisch-katholisches Regiment«, sagte Robinson. »Die erinnern sich noch gut an Cromwells Massaker in Drogheda und Wexford. Ich befürchte, für einen Königsmörder wird es hier nicht sonderlich heimelig werden.«

Nayler wartete, bis der letzte Verräter über die Stufen stolpernd in die Dunkelheit des Towers gescheucht worden war, dann bestieg er die nunmehr leere Barkasse wieder und machte sich auf den Rückweg zur Whitehall. Während die Ruderblätter ins Wasser tauchten, die Barkasse sich von der grimmigen grauen Steinfeste mit den schmalen Fensterschlitzen entfernte und die Möwen über den grünschleimigen Felsen kreischten, überkam ihn zum ersten Mal in vielen Jahren eine Regung, die er fast vergessen hatte: ein Anflug von menschlichem Mitleid.

In den nächsten drei Tagen war Nayler ständig in Bewegung. Er schlief wenig und hastete mit seiner abgewetzten Ledertasche voller Verhörprotokolle und belastender Dokumente zwischen seiner Wohnung im Essex-Haus, seinem Arbeitszimmer im Gang des Kronrats im Whitehall-Palast, den Kammern der Kronanwälte in der Nähe der Fleet Street und den Versammlungsräumen des Parlaments in Westminster hin und her. Am Dienstag, dem 28. August, wurde die Akte der Verzeihung vom Parlament verabschiedet, und tags darauf erhielt Nayler als Belohnung für seine Bemühungen die Aufforderung, Sir Edward Hyde in der Kutsche zu begleiten, mit der dieser vom Worcester-Haus zum Oberhaus fuhr, um die Unterzeichnung des Gesetzes durch Seine Majestät zu bezeugen.

Nayler saß gegenüber dem Lordkanzler und seinem Pagen. Hyde war in eine schwere, schwarz-goldene Samtrobe gewandet, das wulstige Gesicht glänzte vor Schweiß, die feuchten Hände ruhten auf dem Knauf seines Gehstocks. Als sie am Banketthaus vorbeifuhren, schaute er zu dem Fenster hoch, aus dem der gepeinigte König am Tag seiner Hinrichtung aufs Schafott getreten war. »Ein oder zwei Wochen lang werden die Straßen in Blut getränkt sein«, flüsterte er. »Wir können nur hoffen, dass danach alles vorüber ist.« Dann schwieg er, bis sie Westminster erreichten und vor dem Eingang des Oberhauses anhielten. »Also dann«, sagte er und seufzte. »Bringen wir es hinter uns.«

Nayler stand vor der Schranke zur Kammer der Lords und betrachtete gleichgültig den allgegenwärtigen Prunk. Die lebhaften Farben, die lauten Gespräche der versammelten Lords und Parlamentarier, die durchdringende Trompetenfanfare der Herolde, die abrupte Stille, das Öffnen der Tür neben dem Thron am hinteren Ende der Kammer, das der Versammlung anzeigte, sich zu erheben, und sogar der Auftritt des Königs selbst, die Krone und die prachtvolle, mit Hermelin gesäumte Robe aus rotem Samt – nichts davon berührte ihn. Eigentlich müsste es für ihn ein Augenblick des Triumphs sein, aber seit dem Verlust von Sarah hatte er jedes Gefühl von Zufriedenheit verloren.

Hyde erhob sich schwerfällig von seinem Platz auf dem roten Wollsack und erteilte dem König das Wort.

Karl II . war ein großer Mann, gut einen Kopf größer als sein Vater, männlich, gut aussehend, mit dunklem Haar und dunklen Augen. »Der schwarze Knabe« hatte man ihn als Kind genannt. Er verlas die Rede, die Hyde für ihn geschrieben und die Nayler geprüft hatte.

»Schon des Öfteren habe ich vor Euch gestanden, aber noch nie tat ich es bereitwilliger als in jetziger Zeit. Sicher kann es nur wenige Männer im ganzen Königreich geben, die mit größerer Ungeduld herbeigesehnt haben, dass dieses Gesetz verabschiedet werden möge …«

Nayler schaute sich in der Kammer um und suchte sich einige wenige Gesichter heraus, die er kannte – seinen Hausherrn, den Markgrafen von Hertford, inzwischen mit der Herzogswürde zum Herzog von Somerset erhoben, der alt und gebrechlich aussah; den Herzog von York, des Königs jüngerer Bruder, der mit gelangweiltem Gesicht neben dem Thron saß; Sir Orlando Bridgeman, der Oberste Richter, der zunächst den Anklägern helfen würde, die Anklageschrift aufzusetzen, um dann selbst dem Prozess gegen die Königsmörder vorzusitzen – wahrlich ein gerechtes Verfahren!

»… die gleiche Besonnenheit und die gleiche Gewissenhaftigkeit, die mich den meinem Wesen höchst zusagenden Gnadenakt zu verfügen veranlassten, werden mich auch zu Strenge und Härte verpflichten. Euch alle, Mylords und Gentlemen, muss ich dringendst ersuchen, mir in dieser gerechten und notwendigen Strenge beizupflichten …«

Bei der Wiederholung des Wortes Strenge stieg ein zustimmendes, männlich kehliges Raunen zur Kassettendecke auf.

Kurz danach beendete der König seine Ansprache mit einem pathetischen Aufruf um mehr Geld, der ihm wohl in letzter Minute noch eingefallen war. (»Ich konnte meinen Brüdern seit ihrer Ankunft in England nicht einen Schilling zukommen lassen.«) Dann legten ihm Beamte das Amnestiegesetz vor, er beugte sich über den Tisch, unterzeichnete es, nahm den Applaus entgegen und verschwand schließlich hinter der Tür, durch die er auch gekommen war, wobei er unterwegs hier und da Leuten zunickte, die er wohl kannte. Hyde wankte auf seinen aufgedunsenen Beinen hinter ihm her und bedeutete Nayler gestikulierend, ihnen in die überfüllte Kammer hinter dem Thron zu folgen.

Ein halbes Dutzend Frauen – juwelenbehängt, die Frisur der Mode nach hoch aufgetürmt, die Kleider der Mode nach tief ausgeschnitten – stand beisammen und beobachtete den König. Ein Bediensteter, der hinter dem König herging, nahm Seiner Majestät die hermelingesäumte Robe ab, ein anderer, der rückwärts auf Zehenspitzen vor ihm ging, nahm ihm die Krone vom Kopf. Wie gewöhnlich der König plötzlich aussah, dachte Nayler. Träfe man ihn auf der Straße, man würde ihn für einen beliebigen italienischen Kaufmann auf dem Weg zu seinem Schneider halten.

Der König stand im Profil da und lächelte den Damen zwinkernd zu. »Eure Majestät«, sagte Hyde. »Darf ich Euch Mr Richard Nayler vorstellen, der sich in der Angelegenheit, die Mörder Eures Herrn Vater ihrer gerechten Strafe zuzuführen, als höchst gewissenhaft erwiesen hat?«

Widerwillig wandte sich der König von den Damen ab und streckte seine Hand aus. Nayler verbeugte sich und küsste sie. »Eure Majestät.« Er war ihm schon zweimal vorgestellt worden, aber der König hatte offenbar keinerlei Erinnerung an ihn.

»Wir sind Euren Bemühungen zu höchstem Dank verpflichtet.« Der König schaute Hyde an.

»Nayler«, sagte Hyde.

»Mr Nayler.« Der König lächelte, nickte und wandte sich wieder zu Hyde um. »Ich glaube, das ist wohl ganz anständig verlaufen, Sir Edward.«

»Euer Majestät Ausstrahlung war von außergewöhnlicher Souveränität.«

Die größte unter den Frauen löste sich aus der Gruppe, stellte sich vor den Lordkanzler und nahm den Arm des Königs. »Das ist genug Politik für heute, Sir Edward. Ich glaube, Seine Majestät braucht jetzt ein, zwei Stunden Ruhe.«

Der König lachte, entblößte seine großen, weißen Zähne und gestattete es, sich entführen zu lassen.

Hyde stampfte mit seinem Stock auf den Boden. »Ruhe? Nennt sie das Ruhe?«

»Sie ist sehr schön«, sagte Nayler vorsichtig. »Wer ist sie?«

»Das ist Mrs Palmer«, sagte Hyde angewidert. »Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass Ihr mit all Euren Spitzeln noch nie von ihr gehört habt. Der König hat sie gerade erst in einem Haus neben seinem Palast untergebracht.«

Nayler war sofort alarmiert.

»Und um welches Haus handelt es sich da, Sir Edward?«

»Natürlich das am nächsten gelegene, das alte von Whalley.«

Sobald er sich davonstehlen konnte – was nach etwa einer Stunde der Fall war –, verließ er Westminster eilig und lief an den Tavernen und schmalen Vorgärten vorbei die King Street hinauf in Richtung Whitehall-Palast.

In der Mitte der Straße verlief ein Bach. Die Häuser im Umkreis des Palasts waren alle im flämischen Stil erbaut: Reihenhäuser mit drei oder vier Stockwerken und Giebeldach, Rautenfenster in Erkern, die auf die Straße hinausgingen; die Holzbalken vergoldet und grell gestrichen, passend zu den Wappen ihrer Besitzer über den Haustüren.

Er wusste genau, welches Whalleys Haus gewesen war. Seit Ende Mai hatte er es beobachtet. Auf seine Anweisung hin war es Katherine Whalley, ihrer Stieftochter Frances Goffe und Goffes Kinderschar erlaubt worden, nach ihrem eigentlichen Rauswurf noch für eine Weile im Haus zu bleiben. Leider waren die Frauen vorsichtig gewesen. Kein Hinweis über den Aufenthaltsort ihrer Männer war aufgetaucht. Dennoch zog er es vor, sie dort zu wissen, wo er ein Auge auf sie haben konnte. Er hatte angenommen, eine Abmachung mit dem Minister der öffentlichen Arbeiten zu haben. Aber jetzt waren sie offenbar ausquartiert worden, um Platz für die Mätresse des Königs zu schaffen. Das Familienwappen der Whalleys, drei Luft speiende Wale, war heruntergerissen worden und hatte Risse im Mauerwerk hinterlassen.

Nayler hatte sie verloren.

Er ging über die Straße und zog an der Türglocke. Ein alter Diener öffnete.

»Ja?«

»Guten Tag.« Nayler berührte seine Hutkrempe. »Ich suche Mrs Whalley.«

»Sie wohnt nicht mehr hier.«

Aus dem Innern waren Musik und Frauengelächter zu hören, dann das Geräusch von Glas, das auf dem Boden zersplitterte. Der Diener schaute sich um.

»Wisst Ihr, wohin sie gezogen ist? Ich bin ein Freund der Familie.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ein sehr enger Freund.«

Im Gang hinter dem Diener erschien ein Mann. Sein Hemd war bis zur Taille aufgeschnürt. Er hielt den Hals einer zerbrochenen Flasche in der Hand. »Seine Majestät verlangt nach Wein.« Nayler erkannte den Herzog von York.

Der Diener verbeugte sich. »Ja, Eure Hoheit.« Er warf Nayler kurz einen entschuldigenden Blick zu und schloss die Tür.

Nayler trat zurück auf die Straße. Nichts schockierte, wenig überraschte ihn. Wenn dies die Person war, die Gott zum König gesalbt hatte, wer war er, das zu bestreiten? Aber er verfluchte den Menschen Karl Stuart für seinen zügellosen Schwanz. Er wartete ein paar Minuten und läutete noch einmal.

Diesmal widmete sich der alte Diener ihm ganz. Er schaute sich noch einmal um und fragte dann: »Und Ihr seid wirklich ein Freund der Familie?«

»Natürlich.«

»Dann seid Ihr auch mein Freund. Ich stand sieben Jahre in ihren Diensten. Aufrichtige, gottesfürchtige Leute. Sie haben alles verloren. Nicht einmal ein Kerzenhalter ist ihnen geblieben.«

»Eine grausame Geschichte«, sagte Nayler und faltete die Hände wie zum Gebet. »Frauen und Kinder zu bestrafen für die Sünden der Männer und Väter. Wohin sind sie gegangen?«

Der Diener senkte die Stimme. »Sie sind bei Mrs Whalleys Schwager Reverend Hooke untergekommen, im Savoy-Hospital.«

»Er hat ihnen dort Zimmer besorgt?«

»Er kann über die Räumlichkeiten nach Belieben verfügen. Er ist der Vorsteher dort.«

»Diener! Wo in Teufels Namen bleibt Ihr?« Wieder der Herzog von York. Der alte Mann bedachte Nayler mit einem sorgenvollen Blick und schloss die Tür wieder.

Nayler machte sich sofort auf den Weg, wohl wissend, dass er seine besten Gesellschaftsschuhe mit den silbernen Schnallen und weiße Seidenstrümpfe trug, was hieß, dass er den Boden im Blick behalten musste, damit er nicht in die stinkenden Kothaufen und Pisselachen von Mensch wie Pferd trat, die den Weg säumten.

Das Savoy-Hospital lag in der Strand, gleich um die Ecke vom Essex-Haus. Es war ein wohltätiger Zufluchtsort für die Armen und Kranken und hatte den Rundköpfen im Bürgerkrieg als Lazarett gedient. Gottlob hatte Nayler es noch nie aufsuchen müssen. Er kam durch eine dunkle Gasse und betrat dann durch ein Tor einen überfüllten Friedhof voller zerbröckelnder Grabsteine aus grauem Schiefer aus den Zeiten der Tudors, die sich wie faule Zähne schräg in alle Richtungen neigten. Zu seiner Rechten befand sich eine Kapelle, geradeaus und links erhoben sich zwei Bollwerke aus verrußtem rotem Backstein mit winzigen Fenstern. Im Schatten der Mauern kauerten die lumpenverhüllten Elenden Londons. Verwundete Veteranen mit fehlenden Gliedmaßen humpelten auf Krücken zwischen den Gräbern umher. Ein furchtbarer, grausamer Ort, der Nayler mehr an ein Gefängnis denn ein Krankenhaus gemahnte. Er erinnerte ihn an seine lange Zeit der Genesung nach Naseby und an den Kerker, in dem er nach dem Tod seiner Frau eingesperrt war.

Er streifte durch die Hinterhöfe und den von Unkraut überwucherten Garten und hielt Ausschau nach seiner Beute, bis er auf eine Frau mit einem Schlüsselbund am Gürtel traf, die ihm den Weg zu den Wohnräumen des Vorstehers zeigte – ein freundlicheres, efeubewachsenes Gebäude, das wie das Haus des Dekans eines Oxford-Colleges aussah. Gut vorstellbar, dass die Whalleys und Goffes hier Zuflucht gesucht hatten. Er zögerte, fragte sich, ob es klug sei, sich hier zu zeigen, entschied dann aber, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er würde diesem Reverend Hooke einfach sagen, dass er eine Botschaft für Katherine Whalley habe. Sollte sie zu Hause sein, würde ihm schon irgendeine Geschichte einfallen. Als er an der Glocke zog und ein Priester erschien, sah er jedoch sofort, dass hier jetzt offenbar andere das Sagen hatten. Der Mann trug ein Chorhemd. Er war kein Puritaner.

»Ich suche Mr Hooke.«

»Hooke ist weg«, sagte der Priester mit sichtlicher Genugtuung. »Cromwell hatte ihn ernannt, und im Zuge der Säuberung hat man ihn unlängst entfernt.«

Es kostete Nayler einige Mühe, nicht laut aufzustöhnen. »Weg? Wohin?«

Der Priester zuckte die Achsel. »Ich weiß nur, dass er und seine Familie vor einer Woche verschwunden sind.«

»Seine Familie, wie viele waren das?«

»Mit den Kindern sieben oder acht, würde ich sagen.«

»Haben sie einen Aufenthaltsort angegeben, wo man sie finden kann?«

»Sie hatten nur einen Tag lang Zeit, all ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Ich bezweifele, dass sie selbst schon wussten, wohin. Für William Hooke und seinesgleichen ist in England kein Platz mehr, besonders wenn man so alt ist.«

»Wie alt ist er denn?«

»Ich glaube, um die sechzig.«

Nayler seufzte und trat einen Schritt zurück. »Wenn Ihr zufällig von ihm hört, dürfte ich Euch bitten, mir Bescheid zu geben? Ich bin in den Amtsräumen des Kronrats zu erreichen. Mein Name ist Richard Nayler.«

Der Priester wirkte beeindruckt und nickte. »Das werde ich bestimmt, Mr Nayler.« Er wusste jetzt, dass er es mit einem Mann von Einfluss zu tun hatte, und zeigte sich wesentlich hilfsbereiter. »Ihr könntet Euch in den puritanischen Versammlungshäusern in Spitalfields umhören. Die halten zusammen wie die Juden.« Und dann fügte er noch hinzu: »Es könnte natürlich auch gut möglich sein, dass Hooke wieder zurück nach Amerika geht.«

Nayler, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, blieb abrupt stehen und drehte sich wieder um. »Amerika?«

»Höchstwahrscheinlich. Er hat zwanzig Jahre lang da drüben gelebt. Als Prediger irgendeiner fanatischen Sekte.«

Am nächsten Nachmittag rief Nayler seine engsten Mitstreiter bei der Jagd auf die Königsmörder zu einer Besprechung zusammen. Sie trafen sich in seinem Arbeitszimmer, einem kleinen Raum, von wo man einen Blick in die Gärten hinter dem Whitehall-Palast hatte und der sich direkt gegenüber dem Sitzungsraum für den Kronrat im gleichen Gang befand. An einer aufgestellten Tafel war ein großer Bogen Papier angebracht, auf dem die Namen und die letzten bekannten Aufenthaltsorte aller gesuchten Königsmörder aufgelistet waren.

Außer Nayler waren wie üblich vier Männer anwesend: sein Sekretär Samuel Nokes, ein gewissenhafter, am Lincoln’s Inn ausgebildeter junger Anwalt; Dr John Wallis, Savilischer Professor der Geometrie an der Universität Oxford, der beste Kryptoanalytiker in England, ein Unterstützer des Parlaments im Bürgerkrieg, der den Geheimcode der in Naseby erbeuteten Korrespondenz des Königs entschlüsselt hatte und nun, nach einigem guten Zureden, dem neuen Regime mit seinen Fähigkeiten zu Diensten war; der Generalpostmeister Oberst Henry Bishop, der sicherstellte, dass das Gremium sofortigen Zugriff auf jedweden Brief erhielt, der die Sortierstellen in London passierte; und William Prynne, der Abgeordnete für Bath, der fanatischste unter den Königsmördergegnern im Parlament, der immer eine schwarze Lederkapuze trug, unter der sich verbarg, dass man ihm vor gut zwanzig Jahren die Ohren abgeschnitten hatte.

Nachdem Wallis über die letzten abgefangenen Geheimbotschaften zwischen Flüchtigen in Holland und ihren Anhängern in England berichtet hatte, kam Nayler auf das Thema Whalley und Goffe zu sprechen. Er berichtete, das Haus in der King Street aufgesucht und erfahren zu haben, dass deren Familien verschwunden seien. Er verschwieg taktvollerweise, was er dort sonst noch mitbekommen hatte. Dann schilderte er seinen Besuch im Savoy-Hospital und dass die Familien auch von dort schon weitergezogen seien. Während er sprach, fiel ihm auf, dass der junge Nokes ihn verwundert ansah. Wahrscheinlich kam es ihm seltsam vor, dass Nayler derartige Laufburschenarbeit persönlich erledigt hatte. Er schloss schnell seinen Bericht. »Um es kurz zu machen, Gentlemen, ich glaube, wenn wir diese besonderen Verräter finden wollen, müssen wir zunächst ihrer Familien habhaft werden. Goffe hat kleine Kinder. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er früher oder später versuchen wird, Verbindung zu ihnen aufzunehmen. Die tiefe Zuneigung zueinander ist ihr schwacher Punkt.«

»Gehen wir davon aus, dass die beiden Königsmörder noch zusammen sind?«, fragte Oberst Bishop. »Wenn ja, dann ist das ein weiterer Schwachpunkt. Zwei Männer, die gemeinsam reisen, fallen mehr auf als einer allein.«

»Mein Gefühl sagt mir, dass sie noch zusammen sind«, sagte Nayler. Er musste an jenen Weihnachtstag denken, wo die beiden vor dem Altar im Essex-Haus gestanden und die Kirchengemeinde beschimpft hatten. »Als Cromwell noch am Leben war, waren sie jedenfalls unzertrennlich.«

»Ich muss gestehen, die Tatsache ihres spurlosen Verschwindens überrascht mich«, sagte Wallis. Wie üblich war seine Ausdrucksweise die eines leidenschaftslosen Gelehrten. Für ihn war die Menschenjagd eine Abfolge mathematischer Probleme, die es zu lösen galt. »In keiner der verschlüsselten Botschaften zwischen den anderen Flüchtigen und ihren Unterstützern werden sie auch nur ein einziges Mal erwähnt. Sie sind eine Leerstelle, wie vom Erdboden verschluckt.«

»Ich frage mich allmählich, ob sie nicht vielleicht nach Amerika gegangen sind«, sagte Nayler. Die halbe Nacht hatte er darüber nachgedacht. »Oberst Whalleys Schwester ist mit einem puritanischen Pastor namens Hooke verheiratet, der da drüben viele Jahre in irgendeiner Gemeinschaft religiöser Extremisten verbracht hat. Wenn sie nach Amerika gegangen sind, würde das erklären, warum sie anscheinend so vollständig von allen anderen abgeschnitten sind.«

»Dann müssen sie noch vor Ende Mai an Bord eines Schiffes gegangen sein«, sagte Nokes. »Seitdem haben wir alle Passagiere, die England verlassen haben, überprüft. Außer sie haben sich in Holland eingeschifft.«

»In dem Fall hätten wir doch sicherlich davon erfahren, oder? Schickt einen unserer Leute zum Zoll, Mr Nokes. Er soll die Passagierlisten aller Schiffe durchgehen, die im April und Mai nach Amerika ausgelaufen sind. Sehr wahrscheinlich sind sie unter falschem Namen gereist.«

Nokes machte sich eine Notiz. »Ja, Sir.«

»Haben wir einen Spitzel in der puritanischen Gemeinde in Spitalfields?«

»Mehrere, Mr Nayler.«

»Weist sie an, sich nach dem Aufenthaltsort von Reverend William Hooke umzuhören. Aber diskret. Hooke wird uns zu den Familien führen, dessen bin ich mir sicher.«

»Hooke ist also der Haken, den wir nach den Fischen auswerfen«, sagte Prynne und verzog seinen schmalen Mund amüsiert. Auf den hohlen Wangen waren die vernarbten Buchstaben SL für Staatsgefährdender Libellist zu sehen, die ihm auf Anordnung des Lordoberrichters zur gleichen Zeit eingebrannt worden waren, wo ihm auch die Ohren abgeschnitten wurden. Die Buchstaben waren im Lauf der Jahre verblasst und hatten zwei dunkelbraune Zacken zurückgelassen, die wie Geschwüre aussahen. Obwohl die Strafe unter der Regierung von Karl I. vollstreckt worden war, hatte seine bizarre, erbarmungslose Logik Prynne ins Lager der Royalisten getrieben. »Ich kenne Whalley und Goffe«, fuhr er fort. »Sie haben neben Oberst Pride und seinen Soldaten gestanden und mir den Zutritt zum Parlament verwehrt, weil sie wussten, dass ich einer von den Abgeordneten war, die nicht für den Prozess gegen den König stimmen würden. Man hat mich mehrere Wochen lang in einem widerlichen Loch eingekerkert und erst nach dem Mord an Seiner Majestät wieder entlassen. Ich würde die beiden nur zu gern gehenkt und ausgeweidet sehen.«

Nayler nickte zustimmend, äußerte sich aber nicht weiter dazu. Vielmehr wandte er den Blick beiseite, um in den fanatischen Augen seines Gegenübers nicht das eigene Spiegelbild sehen zu müssen.

Zwei Tage später, am Samstag, saß Nayler kurz nach Sonnenaufgang in seinem Arbeitszimmer und entwarf gerade ein Memorandum für Sir Orlando Bridgeman, da flog die Tür auf, und Nokes stürmte herein.

»Man hat Hooke gefunden. Ein reicher puritanischer Kaufmann aus der Stadt, ein Mr Gold, hat ihm ein Haus auf dem Land überlassen.«

Nayler legte die Feder beiseite und lehnte sich zurück. Er lachte vergnügt auf, riss sich jedoch gleich wieder zusammen. »Das kann doch nicht wahr sein, oder? Ein reicher Mann, der Gold heißt? Seid Ihr Euch sicher, keinem Scherz aufgesessen zu sein?«

»Es ist kein Scherz, Sir«, sagte Nokes ernst. »Die Quelle ist zuverlässig. Ich habe letzte Nacht einen Mann vor dem Haus postiert, und der hat mir heute Morgen berichtet, dass Hooke und seine Frau tatsächlich dort wohnen. Nebst ein paar anderen, sowohl Frauen als auch Kindern.«

»Wo ist das Haus?«

»In Clapham, einem Dorf auf der anderen Flussseite.«

»Hat Euer Posten noch andere Männer gesehen?«

»Nein.«

»Es war allerdings dunkel.«

»Das ist wahr, Sir.«

Nayler verstummte und klopfte nachdenklich mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Es war durchaus möglich – nicht sehr wahrscheinlich, aber doch vorstellbar –, dass Whalley und Goffe sich dort im Familienkreis versteckten. »Geht zum Kastellan«, sagte er. »Schildert ihm die Lage, und sagt ihm, wir brauchen dringend ein Dutzend bewaffneter Männer für einen Überraschungsbesuch in Clapham. Heute noch.«