KAPITEL 14
S chon an diesem ersten Morgen, wo ihr Weg sie durch die schneebedeckte Ebene von Massachusetts führte – flaches, mit großen Eichen und Buchen besprenkeltes Terrain, das kaum unwegsamer war als ein englischer Park im Winter –, konnte Ned mit den beiden jüngeren Männern kaum noch mithalten. Seine Beine schmerzten vom Kampf gegen die Schneeverwehungen. Der Schweiß gefror ihm im Gesicht, Raureif bedeckte seinen Bart, das Herz hämmerte in der Brust wie ein eiserner Ball. Als sie gegen Mittag die Ausläufer bewaldeter Berge erreichten, wurde es noch mühseliger. Der Pfad schlängelte sich zwischen hohen Tannen hinauf. Die kahlen Stämme überragten sie wie die Pfeiler eines düsteren Baldachins, der so hoch über ihnen stand wie die Kuppel einer Kathedrale.
Mit dem Pferd am Zügel tauchte Gookin als Erster in den Wald ein. Will folgte ihm, und Ned versuchte in ihren Fußstapfen Schritt zu halten. Immer wieder mussten die anderen stehen bleiben und auf ihn warten. Sobald er wieder aufgeschlossen hatte, versicherte er keuchend, dass alles in Ordnung sei. Beim vierten Mal schließlich gab er das falsche Spiel auf und akzeptierte Wills Vorschlag, sich aufs Pferd zu setzen. Während die beiden anderen nun zusätzliche Taschen zu tragen hatten, schwankte er, gedemütigt seine alten Knochen verfluchend, im Sattel hin und her.
Der Pfad war schmal, für einen Wagen nicht breit genug. Gelegentlich löste sich irgendwo im stummen Wald Schnee von den hohen Ästen und krachte wie ein schwerer Wasserfall aus Kristallen zu Boden. Gookin hatte ihnen zwar versichert, dass sie einem alten Indianerpfad von der Boston-Bai ins Landesinnere folgten, einer ihm gut bekannten Route, allerdings schienen sie unerklärliche Haken zu schlagen, sodass Ned den Verdacht hegte, sie hätten sich verirrt. Aber allmählich begriff der alte Soldat in ihm das Raffinierte daran – scheinbar sinnlos lange folgten sie dem Ufer eines Flusses, bis sie schließlich einen gefällten Baum erreichten, der als Brücke diente; oder sorgsam positionierte Felsbrocken führten über tiefer liegenden Untergrund, der in nicht gefrorenem Zustand Sumpf wäre. Diese umständliche Überwindung von Widrigkeiten der Natur war Ausdruck von Weisheit und Anstrengungen von Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren.
Als es dämmerte, ließ Gookin an einem See haltmachen. Während die Oberste Feuerholz sammelten, packte er ein Fischernetz aus, suchte sich einen kräftigen Ast und schlitterte dann ganz vorsichtig auf den vereisten See hinaus. Sie hielten inne und beobachteten ihn. Als die Eisdecke zu knacken begann, rutschte er einen Schritt zurück und schlug mit dem Ast ein großes Loch in das Eis vor ihm. Dann warf er das Netz aus. Zehn Minuten später stand er wieder am Ufer – mit sechs sich im Netz windenden Fischen, die im Dämmerlicht silbrig glänzten. Er hielt seinen Fang triumphierend in die Höhe. »Gott hat ein Land von solcher Fülle erschaffen, der Mensch muss nur die Hand ausstrecken, und er gibt ihm zu essen!«
Sie entfachten ein Feuer, und dann hob Will, angeregt durch den See und die unbewohnte Leere, zu einer Bibelbetrachtung über die Geschichte von Jona an, der drei Tage lang im Bauch eines Wals lebendig begraben war. »›Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches. Und sprach: Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauche der Hölle, und du hörtest meine Stimme.‹«
»Amen.«
»Amen.«
Ich schrie aus dem Bauche der Hölle … Genau so war es, dachte Ned. Bei aller Schönheit ringsum, so fühlte sich der Kampf durch das kalte, unwirtliche Land an.
Sie wickelten die Fische in Blätter, dämpften sie in der heißen Glut und waren sich beim Essen einig, dass nie zuvor etwas so köstlich geschmeckt habe. Hinterher rauchten sie zusammen eine Pfeife Tabak, dann zeigte Gookin ihnen, wie man sich nach Art der Indianer ein Nachtlager herrichtete. Sie sammelten Laub und Moos, breiteten das meiste auf dem Waldboden aus, stopften den Rest in das Fischernetz und erhielten so eine dicke Decke, unter der sie sich eng aneinanderschmiegten. Es war überraschend trocken und warm. Das Feuer wirbelte rote Funken in die Luft. In der Dunkelheit kreischten unsichtbare Tiere. Sie hörten das Heulen eines Wolfes und etwas Großes, das sich zwischen den Bäumen bewegte. Gookin vermutete einen Bären. Ihre Waffen lagen immer in Reichweite.
Das also war der erste Tag.
Den nächsten Morgen verbrachten sie großenteils damit, den See zu umrunden. Danach kletterten sie einen Bergkamm hinauf, stiegen auf der anderen Seite wieder hinunter und hatten am Nachmittag den Wald hinter sich gelassen. Abermals tat sich vor ihnen eine weite Ebene auf, die einer Parklandschaft ähnelte. Ned setzte sich auf das Pferd, und die beiden anderen trugen wieder schwer an dem Gewicht der Taschen. Seit Tagesanbruch war die Wolkendecke nicht aufgerissen. Der Himmel war grau und unermesslich, der Wind blies scharf und kalt aus Nordwest, und das flache Land lag stumm vor ihnen, glatt und weiß wie ein Ozean, der sich Meile um Meile, kreuz und quer von Tierfährten durchzogen, in der Ferne verlor.
Gookin setzte das Gepäck ab, holte seinen Kompass heraus, zeigte dann nach links und führte sie geradenwegs nach Westen. Der Wind blies stärker. Etwa eine Stunde später erschien ein paar Meilen vor ihnen ein verwaschener dunkler Fleck in der Schneelandschaft. Sie blieben stehen. Ned zog sein Fernrohr aus dem Mantel, und die geisterhafte Erscheinung nahm die Umrisse von drei gestreckten, strohgedeckten Schuppen an. Aus den Dächern kringelte sich Rauch. Er stieg vom Pferd und gab Gookin das Fernrohr.
»Indianer«, sagte Gookin, während er hindurchschaute. »Ein Wigwamlager am Flussufer. Sie warten auf die Fische, die am Ende des Winters heraufkommen.«
»Sollen wir lieber einen anderen Weg einschlagen?«
»Im Gegenteil, das war der Plan. Ich wollte sie finden.« Er gab Ned das Fernrohr zurück. »Das ist unser Unterschlupf für die Nacht.« Als er Neds Gesichtsausdruck sah, lachte er. »Kein Grund zur Sorge. Sie gehören genauso zu Gottes Schöpfung wie wir. Sie bedürfen unserer Barmherzigkeit, damit sie aus ihrem gegenwärtigen Stand der Barbarei errettet werden und Erlösung finden.«
Trotzdem bestand Ned darauf, den Rest zu Fuß zu gehen – so könnte er nötigenfalls die Pistolen und das Schwert besser handhaben.
»Wie ist es möglich, dass es in Amerika eine solch primitive Rasse gibt?«, sinnierte Gookin, während die drei Seite an Seite dem Lager entgegenstapften. »Das ist das Geheimnis, für das ich in der Heiligen Schrift eine Antwort gesucht habe. Ihrer Legende zufolge wateten vor tausend Jahren zwei junge Frauen an Land, und der Schaum oder der Gischt des Wassers berührte ihre Körper, worauf die beiden die Frucht des Leibes empfingen und die eine mit einem Jungen und die andere mit einem Mädchen niederkam, worauf die Frauen starben und die Erde verließen und der Sohn und die Tochter zu den Stammeltern ihrer Rasse wurden.«
»Welch heidnischer Aberglaube …«, sagte Will.
»Wohl wahr«, sagte Gookin. »Aber dann stellt sich eben die Frage: Von welchem der Söhne Noahs stammen sie ab? Meiner Auffassung nach sind sie Nachkommen von einem der Verlorenen Stämme Israels, von denen wir im Buch der Könige lesen, der assyrische Tyrann Salmanasser habe sie als Gefangene aus Samaria vertrieben und nach Asien umgesiedelt. Die Wahrheit wird am Jüngsten Tag enthüllt, wenn alle verborgenen Dinge zum Ruhme Gottes offenbart werden. Bis dahin werden wir viele Indianer schon zu guten Christen bekehrt haben, und mit der Zeit werden es noch viele mehr werden. Mein Freund John Eliot, der Pfarrer von Roxbury, ist gegenwärtig dabei, die Bibel ins Wampanoag zu übersetzen, eine Sprache der Massachusett.«
»Das ist eine gewaltige Aufgabe, die Ihr Euch vorgenommen habt.«
»Und doch müssen wir sie, wie der Psalm uns ermahnt, zu Christus führen: ›Heische von mir, so will ich dir Heiden zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum.‹«
»Ihr habt den nächsten Vers ausgelassen«, sagte Will. »›Du sollst sie mit einem eisern Zepter zerschlagen; wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen.‹«
»Davon halte ich ganz und gar nichts«, sagte Gookin. »Aber natürlich kenne ich einige, die so denken.«
Dann ging er weiter, und bis kurz vor Erreichen des Indianerlagers wurde kein Wort mehr gesprochen.
Die Wigwams waren überraschend groß, etwa dreißig Fuß lang und fünfzehn hoch, die lang gezogene Form mit abgerundeten Ecken ähnelte einem Boot mit dem Kiel nach oben. Sie wirkten erbärmlich, fand Ned: trostlose, fensterlose Bruchbuden aus gräulich verwitterter Baumrinde, umgeben von schmelzendem, schmutzigem Schneematsch. Die Ankunft der Engländer wurde von Hundegebell gemeldet. Zwei dürre Hunde sprangen auf sie zu, kauerten sich knurrend vor ihnen in den Schnee und versperrten ihnen den Weg. Weil das Pferd scheute, mussten die Männer stehen bleiben.
Die Tierhaut, die als Klappe vor dem Eingang einer der Hütten hing, wurde zurückgeschlagen, und sechs in Felle gehüllte Männer, die Pfeil und Bogen trugen, traten einer nach dem anderen ins Freie. Sie standen jetzt regungslos nebeneinander vor der Hütte und zielten mit gespannten Bogen auf die drei Reisenden.
»Möge Gott uns beistehen«, sagte Ned.
»Wartet hier«, sagte Gookin. »Ich werde mit ihnen reden.«
Er nahm eine der Taschen vom Pferd und ging auf das Lager zu, wobei er grüßend eine Hand hob. Ned tastete unter dem Mantel nach seiner Pistole.
»Nicht«, sagte Will. »Widerstand wäre zwecklos. Es sind zu viele.«
Gookin hatte die Indianer erreicht, stellte die Tasche ab und hob nun beide Hände. Er sprach mit dem Größten der Ureinwohner. Die Bogen wurden gesenkt. Gookin griff nach der Tasche und folgte ihnen hinein.
Ned nahm die Finger von seiner Pistole. Er drehte sich um und sondierte das Gelände. Gegen den düsteren Himmel wirkte der Schnee gespenstisch leuchtend. Er konnte Flussrauschen hören. Es kam von irgendwo hinter den Bäumen, die jenseits des Lagers aufragten. Dem Geräusch nach zu urteilen, floss das Gewässer so schnell, dass es nicht zufror und Hochwasser führte. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. »Mein geliebter Will«, murmelte er. »Was für ein Land, in das ich uns geführt habe.«
Sie standen ziemlich lange in dem schneidenden Wind, und als die Klappe wieder zur Seite geschlagen wurde, war es schon so dunkel geworden, dass sie Gookin kaum noch erkennen konnten. Die Silhouette vor dem roten Feuerschein hinter ihr winkte und rief, dass alles in Ordnung sei. Sie gingen auf ihn zu.
»Es ist alles geregelt. Ich habe Getreide für das Pferd und für uns Proviant für zwei Tage erstanden. Wir können heute Nacht hierbleiben und bekommen etwas zu essen. Also, raus aus der Kälte.«
Er hob die Klappe beiseite. Ned und Will wechselten einen kurzen, argwöhnischen Blick, dann gingen sie geduckt hinein. Gookin ließ die Klappe hinter ihnen fallen.
Die Wirkung auf ihren durchkühlten Leib und ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen war abrupt und überwältigend: die Hitze des Feuers, das in der Mitte der Hütte loderte; der weiche, gelbe Schein, der die Gesichter von etwa zwanzig indianischen Männern, Frauen und Kindern beleuchtete, die sie alle anstarrten; der Rauch, der zu dem Loch im Dach emporstieg; der Geruch von Fisch und Mais, die über dem Feuer rösteten. An den Wänden hingen Felle von Bären und Hirschen. Der Boden war nackte Erde, die festgetreten und trocken war. Darauf standen sechs große erhöhte Holzgestelle, die ebenfalls mit Fellen und Decken behängt waren. Gookin führte die beiden Offiziere zum Feuer.
»Gebt es zu, Ned, wärmer als hier habt Ihr es den ganzen Winter noch nicht gehabt, oder?«
»Das stimmt wohl«, sagte Ned, streckte die Hände dem wärmenden Feuer entgegen und sah sich um. »Wärmer als in jedem Haus in Cambridge, das steht fest.«
In der Sprache der Ureinwohner sagte Gookin etwas zu dem größten Indianer, der anscheinend der Häuptling der Gruppe war: eine imposante Gestalt mit scharf geschnittenem Gesicht, schwarzem Haar, das hinter dem Kopf zusammengebunden war, und tief liegenden pechschwarzen Augen. Seine Schultern waren von einem Stück Fell bedeckt, und um die Mitte trug er eine Art Schurz, darüber hinaus war er nackt. Er deutete auf das Bettgestell in der hintersten Ecke der Hütte, wo eine junge Frau einem Säugling gerade die Brust gab, und sprach ein paar schnelle Worte.
»Er sagt, dass wir uns dort niederlassen können und dass sie uns etwas zu essen bringen.«
Als sie auf die Frau zugingen, bedeckte sie ihre Brüste, stand auf und setzte sich zu den anderen. Will sah ihr unwillkürlich hinterher. Diese Heidin, die an solch einem primitiven Ort ihr Kind stillt, hat es besser als ich. Wie kann so etwas möglich sein? Er schloss kurz die Augen. O Herr, hilf mir, dass ich dein Vorhaben für uns ertragen und es verstehen möge.
Ned stellte seine Tasche ab und legte sich auf das Bett. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, streckte die Beine aus und seufzte zufrieden. »Das reicht uns allemal. Hier ist mehr als genug Platz für uns drei.«
Eine alte Frau brachte ihnen in Holzschalen das Essen – Fischstücke in einem sehr scharfen Eintopf aus Mais, roten Bohnen und zerstoßenen Nüssen, den sie mit den Händen essen mussten. Der Fisch war voller kleiner Gräten, die sie sich vor dem Schlucken einzeln aus dem Mund zupfen mussten. Der Geschmack war eigenartig und nicht besonders angenehm, aber das Essen füllte den Magen und war, das musste Ned zugeben, besser als die Verpflegung aus Brot und Käse, die beim neuen Musterheer im Feld allabendlich ausgeteilt worden war. Kein Wunder, dass die Heiden so schlank waren und so gesund aussahen. Hinterher leckte er sich die Finger ab und fragte Gookin nach den Wörtern der Massachusett für Fisch und gut . Er übte leise die Aussprache und sagte dann laut zu den Indianern: »Námás! Wuñne!« Er musste es ein paarmal wiederholen, bevor sie ihn verstanden.
Einige der Eingeborenen lachten und schüttelten den Kopf. Nachdem ihre Neugier befriedigt war, wandten sie sich dem eigenen Essen zu. Die erheiternde Unterhaltung seitens der drei Engländer war für den Abend beendet.
Gookin und den beiden Obersten war es warm, sie waren müde und satt, und so dauerte es nur wenige Minuten, und sie waren fest eingeschlafen. Mit offenem Mund lagen sie da und schnarchten so laut, dass es bis ans andere Ende des Wigwams zu hören war und unter ihren Gastgebern erneut für Gelächter sorgte.
Sie marschierten die nächsten vier Tage hindurch. Je weiter sie nach Westen vordrangen, desto milder wurde das Wetter und desto schneller taute der Schnee – was allerdings das Vorwärtskommen nicht erleichterte, denn der Schlamm zerrte schwer an ihren Stiefeln, und das Schmelzwasser ließ die Flüsse anschwellen. Sie ernährten sich von Fisch, den sie in den Teichen fingen, wo sie ihr Nachtlager aufschlugen, und von den Beuteln mit Nokehick, den gerösteten Maisflocken der Indianer, das Gookin gegen einen kleinen Spiegel und vier Unzen Tabak eingetauscht hatte: eine Handvoll für jeden, vermischt mit heißem Wasser, genügte, um die Kälte zu mildern und den Hunger zu stillen. Bei starkem Wind oder Regen bauten sie sich unter Gookins Anleitung mit kräftigen Kiefernästen eine Kleinausgabe der Indianerwigwams.
Am Freitagmorgen hob Gookin plötzlich die Hand, und sie blieben mitten im Wald stehen. »Wir haben unser Ziel fast erreicht.« Er deutete auf einen großen, flachen Felsbrocken, der am Wegesrand lag – anscheinend ohne Grund, es sei denn, man hätte ihn aus dem Himmel herabgeworfen. Das, sagte er, sei der Kanzelfelsen. Hier hätten die Prediger zu den Siedlern gesprochen, die auf den ersten Expeditionen ins Landesinnere nach ihrer neuen Welt suchten, und den sie umzingelnden Wilden die Stirn geboten. (Hesekiel, Kapitel 37: »Dass auch die Heiden sollen erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum ewiglich unter ihnen sein wird.« )
»Bedenkt eines«, sagte Gookin. »Welch Inbrunst des Glaubens war vonnöten, dass Männer und Frauen, ohne zu wissen, was sie erwartete, den weiten Weg von England auf sich nahmen und dann in dieses ungezähmte Land vorstießen. Nur Auserwählte Gottes besitzen die Tatkraft, diese Gegend zu erobern.«
Am nächsten Tag zeigte Gookin ihnen weitere Sehenswürdigkeiten – den Schwarzweiher, dessen Wasser wegen der Kiefern- und Zedernsümpfe so schwarz wie Kohle war, und den Kristallsee, der hingegen so klar war, dass sie bis auf den Grund sehen konnten, wo es von Fischen in solch wundersamen Mengen wimmelte wie im Garten Eden.
Am Sonntagmorgen, dem sechsten Tag ihres Fußmarsches, hörten sie nach etwa einer Stunde ein weit entferntes Rauschen, das von jenseits des Waldes kommen musste. Sie gingen schneller, traten zwischen den letzten Bäumen des Waldes hervor und standen nun vor einem gut hundert Schritt breiten Fluss, majestätisch in seiner Wildheit, braun von geschmolzenem Eis und Schnee, hoch gegen die Ufer schlagend. Zweige und Äste wirbelten in der schäumenden Strömung so schnell vorbei wie ein Mann zu Pferde und wurden stromabwärts davongetragen.
Ehrfürchtig betrachteten sie das Tosen.
»Meine Herren«, verkündete Gookin mit einer maßvoll ausgreifenden Handbewegung. »Der Connecticut.«
Es erschien ihnen glückverheißend, dass sie ihr Ziel am Tag des Herrn erreicht hatten. Sie knieten nieder und sprachen ein Dankgebet. Danach schulterten Will und Gookin ihre Taschen, Ned stieg wieder auf die Stute, und sie setzten ihre Reise südwärts den Flusslauf entlang fort. Nach etwa einer Meile erschienen in der Ferne am anderen Ufer die Dächer einer englischen Siedlung. Das sei Windsor, Windsor am Connecticut, nicht an der Themse, witzelte Gookin. Als sie auf gleicher Höhe waren, schaute Ned durch sein Fernrohr zur anderen Seite – ein paar Dutzend triste Holzhäuser, ein Versammlungshaus mit Glockenturm und am Ufer eine Fähre. Ned hielt es für ausgeschlossen, dass sie auch nur den Versuch unternehmen würde, den Connecticut bei diesem Hochwasser zu überqueren. Gookin erklärte ihm jedoch, dass die Fähre mit einer am Flussgrund verlaufenden Kette verbunden sei, damit man auch bei schlechtestem Wetter zum Weg nach Boston übersetzen könne. Und tatsächlich erschien wenige Minuten später ein Mann und zog die Plattform über den Fluss.
Er war der erste Engländer, auf den sie nach fast einer Woche trafen. Anders als der wortkarge Fährmann am Charles war er jung und redselig. Aber Gookin hatte die Obersten gewarnt, nichts über sich oder ihr Ziel zu erwähnen. »Ich kenne die Leute aus diesem Teil der Kolonie nicht und weiß auch nichts über ihre Ansichten. Vergesst nicht das Kopfgeld, das auf Euch ausgesetzt ist. Am besten, Ihr nennt Euch wieder Richardson und Stephenson wie auf der Prudent Mary .« Also gaben sie auf die Fragen des Fährmanns – wo kommt Ihr her? wohin wollt Ihr? seid Ihr fremd hier in Connecticut? – nur einsilbige Antworten, sodass er schließlich aufgab und sie einfach mit seinen kräftigen Armen über den Fluss zog. Die Strömung klatschte gegen die Seiten, und gelegentlich schwappte eine Welle über die Plattform. In seinem ledernen Armeemantel und den durchnässten Stiefeln stand Ned da, und zum ersten Mal ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass das von nun an ihr Leben war – argwöhnisch gegenüber jedem, dem sie begegneten, immer darauf bedacht, ihre wahre Identität zu verbergen, auf jede Frage mit einem knappen Ja oder Nein oder mit Schweigen zu antworten. Wie lange konnten sie das durchhalten?
Am westlichen Ufer angekommen, zahlten sie dem Jungen den Preis, den er verlangte – acht Pence für das Pferd, zwei Pence für jeden Passagier. Auf Gookins Drängen hin passierten sie Windsor unauffällig und setzten ihren Weg südwärts fort. Sie folgten ein paar Stunden lang einem zerfurchten Feldweg am Flussufer, überquerten dann am Nachmittag eine Aue und erreichten die Ausläufer von Hartford. Die Siedlung ähnelte Cambridge, nur dass sie größer war, die Holzhäuser dichter beieinanderstanden und die matschigen Straßen mit steinharten, schmutzigen Schneehaufen gesäumt waren. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Straße führte vom Fluss einen Hügel hinauf zu einem großen offenen Platz vor einem Versammlungshaus, aus dem die Worte eines laut gesungenen Psalms drangen. Es hörte sich an, als hätte sich hier die gesamte Einwohnerschaft eingefunden.
»Können wir uns ihnen nicht anschließen?«, fragte Will.
Gookin schüttelte den Kopf. »Zu riskant.« Er führte sie durch eine schmalere Straße, die vom Versammlungshaus zu einer Kreuzung führte, wo ein großes Wohngebäude stand. »Das ist Gouverneur Winthrops Haus. Er hat in New London an der Küste noch ein Landgut, aber seiner Regierungsgeschäfte wegen ist er meistens hier. Hoffentlich auch heute.«
Das Anwesen bot den vertrauten Anblick – ein umzäuntes, mehrere Morgen großes Grundstück mit einer Obstwiese und einer Koppel, einem Haus mit Vorgarten und Nebengebäuden. Gookin führte sie in eine Scheune, wo sie warten konnten, ohne gesehen zu werden. Während Gookin nachschaute, ob jemand zu Hause war, fanden sich die Oberste erneut zwischen einem Dutzend Kühen wieder und streckten sich auf dem Stroh aus. Ned entledigte sich seiner Stiefel und Strümpfe und wrang Letztere aus. Seine Füße waren taub. »Wärst du so nett, mein Junge«, sagte er. Will kniete sich vor ihm auf den Boden, streifte die Handschuhe ab und bemühte sich, etwas Wärme in Neds Füße zu massieren.
Kurz darauf hörten sie, wie die Pforte zum Vorgarten geöffnet wurde, dann Mädchenstimmen. Sie gingen beide zur Scheunentür und lugten durch die Ritzen. Ein Elternpaar – wahrscheinlich Mr und Mrs Winthrop – und seine fünf jungen Töchter, die älteste schon kein Kind mehr, alle gegen die Kälte vermummt. Winthrop schüttelte Gookin die Hand. Man konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Er legte seinem Besucher den Arm um die Schulter und führte ihn ins Haus. Die Familie folgte ihnen hinein. Die Tür schloss sich.
Die Zeit verging langsam. Es dämmerte bereits, und in der Scheune wurde es dunkel. Ned zog sich die klammen Strümpfe samt Stiefeln an und legte sich aufs Stroh. Er schloss die Augen, konnte aber vor Erschöpfung nicht einschlafen. Will blieb an der Tür stehen. Kurz darauf hörte Ned ihn flüstern. »Es kommt jemand.« Will zog sich in die Scheune zurück und half seinem Schwiegervater auf die Beine.
Ned klopfte sich noch das Stroh von der Kleidung, als Gookin hereinkam. Ihm folgte ein stämmiger Mann von Mitte fünfzig, der eine Laterne trug. Er hielt sie den Königsmördern vors Gesicht und beleuchtete dabei auch das eigene – ein langes, schmales Gesicht, das Weitsicht und Scharfsinn verriet. Als Ned die markante Nase sah, die in dem flackernden Licht noch größer wirkte, musste er sofort an Cromwell denken.
»Gouverneur«, sagte Gookin. »Darf ich Euch Edward Whalley und William Goffe vorstellen?« Er drehte sich zu den beiden um. »Es erschien mir sinnlos, noch auf falschen Namen zu bestehen.«
Ned fiel auf, dass Winthrop ihnen nicht die Hand anbot. »Es tut uns leid, Sir, dass wir Euch in diese Lage bringen.«
Winthrop erwiderte nichts und behielt sie weiterhin aufmerksam im Auge.
»Ich habe dem Gouverneur die Umstände dargelegt«, sagte Gookin. Er rieb sich besorgt die Hände. »Unglücklicherweise glaubt er nicht an die Möglichkeit, dass Ihr in Connecticut bleiben könnt.«
Betroffen legte Will seine Hand auf Neds Arm.
Winthrop stellte die Laterne auf den Boden und räusperte sich. »Verzeiht mir, Gentlemen. Wenn das Risiko allein mich beträfe, so würde ich nicht zögern. Aber ich trage die Verantwortung für alle Menschen in dieser Kolonie. Gewiss wird Eurer Sache viel Sympathie entgegengebracht. Allerdings kann ich nicht dafür bürgen, dass sich irgendein Judas nicht doch von den zweihundert Pfund Belohnung verlocken lässt. Der Zorn der Regierung in England würde dann uns alle treffen. Mr Gookin hat mir versichert, dass Euch niemand in der Stadt gesehen hat. Ihr könnt heute Nacht hier bleiben, müsst aber vor Sonnenaufgang weiterziehen. Es tut mir leid.«
»Weiterziehen?«, sagte Ned wie betäubt. »Weiterziehen wohin?«
»Nun, das ist der Kern der Sache«, sagte Gookin. »Der Gouverneur schlägt New Haven vor.«
»Und wie weit ist das von hier?«
»Vierzig Meilen.«
Will stöhnte.
»Warum soll es in New Haven sicherer als in Connecticut sein?«, fragte Ned.
»Die Kolonie ist unabhängig«, sagte Winthrop. »Ihre Gründung vor zwanzig Jahren erfolgte nach den strikten Prinzipien der Heiligen Schrift. Sie erkennen die Autorität des Königs nicht an. Tatsächlich erkennen sie außer der Gottes überhaupt keine Autorität an. Ich kenne den Pfarrer dort. John Davenport. Ich muss ihm ohnehin noch einiges an Arznei schicken. Ich werde Euch einen Mann aus der Gemeinde zur Seite stellen. Er wird Euch führen.«
Will wandte sich überrascht an Gookin. »Ihr kommt nicht mit uns, Daniel?«
»Ich kenne den Weg nicht besonders gut.« Gookin war verlegen. »Außerdem habe ich Mary versprochen, binnen zwei Wochen wieder zu Hause zu sein. Bei einem Führer von hier seid Ihr in guten Händen, dessen kann ich Euch versichern.«
Winthrop bot ihnen keinen Schlafplatz im Haus an, sondern brachte ihnen stattdessen Brot, Käse und Bier, ein paar Decken und eine Lampe. Gookin lehnte seinerseits das Angebot ab, im Haus zu übernachten. Er bestand darauf, bei den Obersten zu bleiben, obwohl diese ihn zu überreden versuchten, die Einladung anzunehmen. »Ich habe Eure Entbehrungen bis jetzt geteilt, ich werde Euch nicht am letzten Tag im Stich lassen.«
Will begann eine Bibelbetrachtung über Matthäus, Kapitel 6: »Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch.«
Ein letztes Mal lagen die drei eng beieinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Während die beiden anderen bald einschliefen, lag Ned noch eine Stunde lang wach. Als Winthrop von John Davenport gesprochen hatte, dem Pfarrer von New Haven, war Ned nicht darauf eingegangen, aber er kannte den Mann, wenn auch nur dem Ruf nach. Neds Schwester Jane hatte jahrelang in seiner Kolonie gelebt. William Hooke, ihr Mann, war sein Stellvertreter gewesen. Obwohl Jane ihre Worte sorgfältig gewählt hatte – Hooke selbst hatte Davenport immer als einen wahrhaftigen Mann Gottes bezeichnet –, so hatte Ned doch eine gewisse Kühle in ihrer Haltung gegenüber dem Gründer von New Haven herausgehört. Ihm fiel ein, dass vor allem sie auf eine Rückkehr nach England gedrängt hatte. Er dachte eingehend darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Aber sie hatten ohnehin keine andere Wahl und mussten dem Herrn in seiner unergründlichen Weisheit dankbar sein, dass er sie zu dem einzigen Mann in Amerika führte, der gewillt sein mochte, sie zu beschützen.
Noch vor Sonnenaufgang weckte ihn das Licht einer Lampe, die ihm ins Gesicht schien. Winthrop beugte sich über ihn. Neben ihm stand ein kleiner, etwa dreißigjähriger Mann mit breiten Schultern. »Das ist Simon Lobdell, Bürger von Hartford. Er kennt sich in New Haven gut aus. Simon, das sind die Männer, die du begleiten sollst.« Der Gouverneur nannte nicht ihre Namen, und etwas an Lobdells schweigsamer Art deutete darauf hin, dass er die Anweisung erhalten hatte, nicht danach zu fragen.
Ned erhob sich steifbeinig und machte sich an die Vorbereitungen für die Abreise. Er rollte das Bettzeug zusammen und wuchtete seine Tasche auf Lobdells Pferd, weil er entschlossen war, die restliche Strecke zu Fuß zu gehen. Schließlich war es an der Zeit, Abschied zu nehmen, was hinsichtlich Winthrop eine reine Förmlichkeit war. Als Ned dann jedoch Gookin umarmte, kamen ihm die Tränen, und er traute sich kaum, etwas zu sagen, weil er befürchtete, völlig die Fassung zu verlieren.
»Gott segne Euch, Daniel, und vielen Dank. Und falls wir uns nicht wiedersehen sollten …« Ihm versagte die Stimme, und er musste ihn loslassen und sich abwenden.
»Wir sehen uns wieder, mein Freund«, sagte Gookin. »Ganz sicher. In dieser Welt oder der nächsten.«
Ned drehte sich nicht wieder um und hob nur wedelnd eine Hand. Er verließ die Scheune und wischte sich draußen die Augen, während sich Will weiter verabschiedete. Als sein Schwiegersohn sich bald darauf zu ihm gesellte, erschien auch Lobdell und ging ihnen mit dem Pferd am Zügel voraus. Sie folgten dem Klappern der Hufe durch das Tor auf die Straße, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Es war noch so dunkel, dass sie kaum etwas sehen konnten. Der zerfurchte Matsch war über Nacht zu Eiskämmen gefroren, die hart wie Eisen waren und einem die Knöchel brechen konnten, wenn man nicht aufpasste. Sie stolperten auf der holperigen Straße vorwärts, vorbei an den verschwommenen Umrissen der Häuser zu beiden Seiten. Ein aufgeschreckter Hund bellte, ein Hahn krähte. In einem Fenster im ersten Stock ging ein Licht an, und trotz der Dunkelheit zogen sie unwillkürlich den Hut tief in die Stirn und senkten den Kopf. Sie marschierten einen Hügel hinunter. Die Luft war feucht und kalt, der Connecticut unsichtbar, sein nahes Rauschen aber nicht zu überhören. Die Straße führte sie näher zum Fluss und weg von der Stadt. Nach einer Stunde erschien linker Hand ein grauliches Schimmern am Himmel, das schwach die Sägezahnsilhouette einer Reihe Tannen beleuchtete. Das hieß, sie bewegten sich genau nach Süden, dachte Ned. Abgesehen davon, hatte er keine Ahnung, wo sie sich befanden. Vor ihnen nahm Lobdells gedrungener Körper Gestalt an. Der Mann könnte sie sonst wo hinführen. Sie hatten ihm blind vertraut. Aber wer war er? Ned beschleunigte seinen Schritt, schloss zu Will auf und flüsterte: »Kann das wirklich sein, dass er nicht weiß, wer wir sind?«
»Warum sollte Winthrop ihm unsere Namen preisgeben?«
»Trotzdem, er muss doch ahnen, wer wir sind. An jeder Ecke in Neuengland hängen die Steckbriefe mit der Belohnung.«
»Glaubst du, er würde uns verraten?«
»Warum nicht? Ein reicher Mann kann er wohl nicht sein, sonst hätte er nicht auf die Schnelle einen solchen Auftrag angenommen. Mit zweihundert Pfund hätte er ausgesorgt.«
Will ließ sich Zeit, bevor er antwortete. »Wir treiben herrenlos auf einem weiten Ozean, Ned. Wir müssen auf Gott vertrauen.«
»Wir vertrauen ja auf Gott. Das tun wir stets und immer. Aber vertrauen wir auf Mr Lobdell?«
Darauf gab es keine Antwort. Ned ließ sich bald wieder zurückfallen, und so marschierten sie schweigend weiter, bis der Weg sich vom Lauf des Connecticuts entfernte und wieder weite Landschaft vor ihnen lag.