KAPITEL 15
D ie nächsten drei Tage vergingen ungefähr so wie die sechs zuvor, nur dass der Weg mit fortschreitender Schneeschmelze breiter und gangbarer wurde. Leider konnten sie sich nicht länger an der Gesellschaft von Daniel Gookin erfreuen, der ihnen die Reise mit seinem Kenntnisreichtum angenehmer gestaltet hatte. Die erste Nacht verbrachten sie in einem indianischen Wigwam mit vier jungen Männern des Quinnipiac-Stammes, die ihnen Fisch verkauften und ihnen auch zeigten, wie sie ihn gefangen hatten – in dem seichten Fluss, der aus dem nahe gelegenen See gespeist wurde, hatten sie aus Steinen eine sich v-förmig verengende Reuse aufgetürmt, in der sich die stromabwärts schwimmenden Fische verfingen.
Am zweiten Abend blieben sie in einem verlassenen Wigwam am Wegesrand und aßen den Rest von dem Nokehick, das Gookin den Massachusett-Indianern abgekauft hatte. Am Spätnachmittag des dritten Tages sahen sie an den kreischenden Möwen über ihnen, dass die Küste nicht mehr weit entfernt war. Lobdell aber sagte, für New Haven sei es schon zu spät, der Weg sei im Dunkeln tückisch – es war die längste Ansprache, die er auf der ganzen Reise an sie gerichtet hatte. Also bauten sie sich aus Ästen einen Unterstand. Will versuchte sich als Fischer und fing mit dem Netz vier Forellen. Danach machten sie sich eine Bettdecke – aus Laub und Moos im Fischernetz, wie von Gookin gelernt – und schliefen neben dem Feuer.
Am nächsten Morgen brachen sie erneut beim ersten Tageslicht auf. Sie stiegen durch einen Kiefernwald einen felsigen Weg hinauf, der allmählich abflachte und schließlich auf der anderen Seite wieder abfiel. Der Hang war so steil, dass sie nicht aufrecht hinuntergehen, sondern im Zickzack hinunterschlittern mussten. Als sie wieder einmal einen Haken schlugen, sahen sie plötzlich zwischen den nackt aufragenden Bäumen eine weite Ebene und dahinter das graue Meer mit dahinjagenden, weiß gekrönten Wellen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Ned rief nach vorn zu Lobdell: »Ist das New Haven?« Lobdell wandte sich halb um und nickte grunzend.
Ned holte sein Fernrohr hervor. Die Stadt war noch einige Meilen entfernt. Trotzdem konnte er deutlich das rasterartige Muster aus breiten Straßen und die Häuser erkennen, die sich eng beieinander um einen Hafen schmiegten. Die Stadt sah ganz anders aus als die anderen Niederlassungen, die ihnen in Neuengland begegnet waren. Wie hatte Winthrop die Kolonie beschrieben? Die Kolonie ist unabhängig, ihre Gründung vor zwanzig Jahren erfolgte nach den strikten Prinzipien der Heiligen Schrift. Die Vorstellung gefiel ihm. Er schob das Fernrohr zusammen und stolperte hinter den anderen her.
Als sie die Ebene erreichten, sah man deutlich, was die Gründer der Kolonie zu diesem Ort gezogen hatte. Im Süden war er vom Meer begrenzt, im Westen, Norden und Osten von einem Wall aus Hügeln mit blanken, rotbraunen Klippen beschützt. Das Ganze erinnere ihn an die Ebene von Judäa mit dem aufragenden heiligen Berg, verkündete Will. Es gab Eichenwälder mit Truthähnen und Kragenhühnern. Klare Flüsse durchzogen das flache Land, auf dem Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen zwischen frisch gepflügten Äckern weideten, die auf die Aussaat warteten. Vom Meer wehte eine salzig schmeckende Brise.
Eine halbe Stunde später überquerten sie eine Holzbrücke, unter der sich ein Schleusentor befand, und betraten die Stadt. Lobdell führte sie eine rechtwinklig geknickte Straße entlang – erst links, dann rechts, vorbei an einem Pranger – zu einem großen Eckhaus am Rand der Ansiedlung, von wo man eine Aue überblickte.
»Das ist Davenports Haus.«
Das Gebäude war ein veritabler Herrensitz mit mindestens sechs hohen Ziegelkaminen, die über dem ersten Stock aufragten. Lobdell lud ihre Taschen und die mit der Arznei von Gouverneur Winthrop für Reverend Davenport vom Pferd, stapelte alles am Straßenrand, sagte den beiden Lebewohl und ritt ohne ein weiteres Wort davon.
Sie sahen ihm hinterher, bis er an der nächsten Ecke aus ihrem Blickfeld verschwand. »Was meinst du, Will?«, murmelte Ned. »Holt er sich jetzt die Belohnung ab?«
Sie nahmen ihr Gepäck und gingen durch ein Tor zur Vordertür. Im Hof pickten Hühner im Boden herum. Hinter der Aue schlugen krachend Wellen ans Ufer. Das Haus lag wie verlassen da. »Sollen wir ihm gleich sagen, wer wir sind?«, fragte Will.
»Haben wir eine Wahl? Wenn er uns nicht aufnimmt, können wir uns auch gleich dem König ergeben. Was mich betrifft, ich marschiere keinen Tag länger durch dieses wilde Land.«
Ned drehte sich um, wischte sich die Hände am Mantel ab, drückte die Schultern durch und klopfte fest an die Tür. Anstatt eines Hausmädchens, wie er angesichts der Größe des Hauses erwartet hätte, öffnete ihnen eine halbe Minute später eine betagte Gestalt, die nur Davenport selbst sein konnte – ganz in Schwarz, weißes Beffchen am Kragen, eine schwarze Kappe, die fest auf einem weißen, flaumig wuchernden Lockenschopf saß. Das blasse, zerknautschte Gesicht hatte etwas Mopsartiges. Die Glupschaugen schauten sie durch eine winzige Brille mit grün getönten Gläsern an. Er ließ die Königsmörder eintreten, schaute auf ihr Gepäck und faltete die Hände zum Gebet.
»Zu guter Letzt«, sagte er.
Ned nahm seinen Hut ab. »Reverend Davenport? Wir sind …«
»Ja, ja, ich ahne schon, wer Ihr seid. Ich warte schon seit sechs Monaten darauf, dass Ihr den Weg zu mir findet.« Davenport streckte beide Hände aus und umfasste Neds Hand. »Seid mir willkommen!« Und über Neds Schulter zu Will: »Seid mir beide willkommen!« Er warf lachend den Kopf zurück. »Gott sei gepriesen, dass ich diesen Tag erleben darf.«
Für einen alten Mann strotzte Davenport vor Lebenskraft. Er bestand darauf, ihr Gepäck selbst ins Haus zu tragen, und sagte, sie könnten so lange bleiben, wie sie wollten. »Bis zur Wiederkunft Christi, die uns schon in fünf Jahren zuteilwird. Möge ich sie noch erleben!« Dann rief er nach oben zu seiner Frau: »Elizabeth, schau, wen der Herr uns geschickt hat!«, und führte die beiden die Treppe hinauf. Im Gang oben stand Mrs Davenport mit einem Handtuch und einer Schüssel in Händen vor einer offenen Tür. Auf dem Bett in dem Zimmer hinter ihr lag, hochgelagert auf Kissen, ein junger Mann. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine Kerze beleuchtete das totenbleiche Gesicht. »Elizabeth, John, das sind Oberst Whalley und Oberst Goffe, ein von Gott gesandtes Geschenk. Möge er bedankt und gepriesen sein bis in alle Ewigkeit.« In vertraulichem Ton fügte er hinzu: »Mein Sohn John kränkelt oft.«
John hob zum Gruß zitternd die Hand.
»Gouverneur Winthrop hat uns gebeten, Euch seine Arznei mitzubringen«, sagte Ned.
»Er ist ein guter, sehr guter Mensch. Ein richtiger Apotheker. Dann seid Ihr also über Hartford hergereist? Kommt, ich zeige Euch Eure Zimmer.« Er führte sie durch den Gang. »Das hier ist Euer Zimmer, Oberst Whalley.« Er stieß die Tür auf. »Und Eures, Oberst Goffe, ist gleich das daneben. Ich sage den Dienern Bescheid, dass sie das Gepäck heraufbringen. Auspacken könnt Ihr ja später mit Muße.«
Die Offiziere hatten kaum Zeit, sich des unverhofften Luxus zu erfreuen – zum ersten Mal seit einem Jahr bekam jeder ein Zimmer für sich –, da führte Davenport sie schon wieder durch den Gang zurück an seiner Frau vorbei (die bis jetzt noch nicht zu Wort gekommen war) die Treppe hinunter. »Kommt, solange das Wetter noch hält, muss ich Euch die Stadt zeigen.«
Viel lieber hätten sie sich auf den nun eigenen Betten ein bisschen ausgeruht, aber es erschien ihnen unhöflich, seinen Vorschlag abzulehnen, also folgten sie ihm aus dem Haus. Davenport schritt forsch durch die breiten Straßen und nickte unterwegs den Bürgern zu, die sofort den Hut vor ihm zogen. Er erzählte Ned und Will von seinem Plan für das neue Jerusalem, wie es in der Offenbarung des Johannes beschrieben sei: ein Raster aus neun Quadraten, das sie in großem Maßstab kopiert hätten, jedes Quadrat eine halbe Meile lang und breit, jedes mit einem Dutzend Häusern und jedes mit einem eigenen, von ihm selbst ausgewählten geistlichen Oberhaupt. »Steht doch im vierten Buch Mose geschrieben: ›Die Kinder Israel sollen vor der Hütte des Stifts umher sich lagern, ein jeglicher unter seinem Panier und Zeichen nach ihrer Väter Haus.‹« Er blieb stehen und streckte die Hand aus. »Und das ist unsere Hütte des Stifts, unser Gotteshaus.«
Inzwischen gingen sie schon mehrere Minuten stramm einen sanften, vom Meer wegführenden Hügel hinauf, sodass Ned kaum noch Luft bekam. Das neunte Quadrat in der Stadtmitte war unberührt geblieben – eine offene Rasenfläche, in ihren Abmessungen, wie Davenport erklärte, identisch mit dem Allerheiligsten aus Hesekiel, Kapitel 43. In der Mitte des Angers stand das hölzerne Versammlungshaus, zweiundfünfzig Fuß ins Geviert, beziehungsweise dreißig biblische Ellen, um die Abmessungen des Gotteshauses aus dem 2. Buch Mose zu kopieren. Es war zwei Stockwerke hoch, hatte ein spitzes Dach und einen Wachturm. »So können wir bei unseren Versammlungen auch immer nach Indianern Ausschau halten – nicht dass sie uns viel Ärger bereiten, die armen Wilden. Sie wissen, dass unsere Bürgerwehr schlagkräftig ist.«
Obwohl es schon dunkel wurde, schlug er als Nächstes die Besichtigung des Hafens vor. Zu Neds Erleichterung fragte Will, ob es nicht möglich sei, dieses Vergnügen für ein andermal aufzusparen. Davenport, der es unübersehbar nicht gewohnt war, dass man seine Wünsche hintertrieb, schaute verärgert drein. »Schön, aber eine Sache müsst Ihr noch sehen, wo wir uns doch ganz in der Nähe befinden.«
Er führte sie über den Anger in Richtung des Versammlungshauses. Nach etwa hundert Schritten blieb er stehen und zeigte auf eine graue Steinplatte. Auf dem Boden davor lag ein Strauß Schneeglöckchen. Sie beugten sich vor und lasen die Inschrift.
Theophilus Eaton, Esq., Gouv.
Gest. 7. Januar 1657 im Alter von 67 Jahren.
Der Berühmte, der Weise, der Gerechte,
Phönix unsrer Welt, hier liegt sein Staub,
Neuengland, vergiss seinen Namen nie.
»Mr Eaton war derjenige, mit dem ich die Kolonie gegründet habe. Er war ein frommer Mann von großem Reichtum, den er ganz in den Dienst Gottes gestellt hat. Unsere Häuser waren die ersten, die hier gebaut wurden, Seite an Seite, im Osten des Gotteshauses, genau dort, wo die Bibel uns sagt, dass Moses und Aaron ihre Zelte aufgeschlagen haben.« Er breitete seine Arme weit aus. »New Haven ist das tausendjährige Königreich Christi. Hierher wird er kommen zur Wiederkehr der Heiligen im Gnadenjahr 1666, und hier wird er herrschen für tausend Jahre.«
Ned konnte sich die Frage nicht verkneifen. »Und wer von Euch beiden war Moses?«
Hinter den grün getönten Brillengläsern weiteten sich Davenports Augen vor Überraschung. »Natürlich bin ich Moses.«
Von Beginn an hegte Ned gewisse Vorbehalte gegenüber ihrem neuen Gastgeber, die er aber für sich behielt. Davenport war in den Zwanzigerjahren puritanischer Geistlicher in London und dann in Holland gewesen, wo er aus seiner Kirche in Den Haag ausgeschlossen wurde, und zwar wegen seiner rigorosen Ansicht über die Säuglingstaufe, die ausschließlich Kindern der Auserwählten vorbehalten sein sollte: Niemand sonst solle Eingang ins Himmelreich gewährt werden. In den Dreißigern war er nach Boston ausgewandert, zerstritt sich auch dort mit den Kirchenoberen, segelte mit Eaton und ihren Anhängern die Küste entlang und gründete schließlich New Haven. Allerdings fiel Ned auf, dass Will den Ansichten des Mannes wohlwollender gegenüberstand. Wie Davenport hing er dem Millenarismus an und glaubte, dass Christus im Jahr 1666, dem Jahr des Tieres, auf die Erde zurückkehren würde, wie in der Offenbarung des Johannes prophezeit. Ned stimmte dieser bestimmten Glaubenslehre nicht zu, war aber für eine Diskussion darüber theologisch nicht ausreichend bewandert.
Außerdem fühlte er sich Davenport für dessen Gastfreundschaft verpflichtet. Er schätzte das herrschaftliche Haus mindestens auf rund zwei Dutzend Zimmer, von denen, soweit er das beurteilen konnte, die Hälfte nicht benutzt wurde. Davenport behauptete stolz, dass seine Studien eintausend Bände füllten. Von seinem Zimmer konnte Ned über die ausgedehnte Hafenanlage hinaus aufs weite Meer sehen. Der kränkliche John, der sein Zimmer nie verließ, war der einzige Nachkomme der Familie. Zumindest war von anderen nie die Rede. Die winzige, weißhaarige Elizabeth Davenport huschte wie ein Geist zwischen Küche, dem Zimmer ihres Sohnes und ihrer Schlafkammer (welche, wie ihm auffiel, nicht die war, wo auch ihr Mann schlief) hin und her. Es gab zwei Bedienstete, ein Ehepaar mittleren Alters, das in einem separaten Teil des Hauses wohnte und sich jedes Mal, wenn einer der Oberste erschien, mit gesenktem Blick zurückzog. Das Essen war armselig. Das Haus war kalt. Überall hing ein seltsamer, unangenehmer Geruch in der Luft. Es gab zwar einige Kamine, die aber nur selten angeschürt wurden. Summa summarum ein merkwürdiger Haushalt.
Am Tag des Herrn, drei Tage nach ihrer Ankunft, nahm Davenport sie mit in das überfüllte Versammlungshaus und stellte sie zu Neds Überraschung mit ihren richtigen Namen vor. Er zitierte aus Kapitel 2 des Briefs an die Hebräer – gastfrei zu sein vergesset nicht; denn durch dasselbige haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt – und hielt eine Predigt, die vor Grauen und Schrecken strotzte: »Denn all die Qualen der Teufel und all die Strafen der Verdammten in der Hölle und all die Plagen, die die Frevler auf Erden heimsuchen, sie alle entspringen der aufrechten und rächenden Gerechtigkeit des Herrn, es ist das Wirken, das ihm geziemt.«
Um ihnen seine bedeutenden Gäste näher vorzustellen, winkte Davenport hinterher auf dem Anger die einflussreicheren Bürger zu sich. Darunter befanden sich Nicholas Street, der William Hooke als stellvertretender Pfarrer und Leiter der städtischen Schule ersetzt hatte, und William Jones, jener würdige junge Mann, der auf der Prudent Mary mit den Obersten nach Amerika gekommen war. Sie hatten den jungen Mann in den langen Wochen auf See gut kennengelernt. Von ihm erfuhren sie, dass sein Vater im Oktober zuvor als Mitunterzeichner des Todesurteils hingerichtet worden sei. Er war jetzt frisch mit Hannah Eaton verheiratet, der Tochter des Mitgründers von New Haven, und in dessen Haus eingezogen, das einzige Anwesen, das größer als das von Reverend Davenport war.
Als Ned ihm sein Beileid bekunden wollte, hob Jones nur die Hand und unterbrach ihn. Er sprach wie Will mit walisischem Tonfall. »Kein Grund zur Trauer. Man hat mir erzählt, dass er bei einem Spaziergang im Finsbury-Park verhaftet wurde. Er hat nicht versucht zu fliehen. Meine Mutter schreibt, dass er sein Schicksal auf dem Schafott hingenommen hat wie ein Bräutigam das seine in der Hochzeitsnacht. Jetzt ist er ein Heiliger. Ich werde ihn zu gegebener Zeit wiedersehen.«
»Wie lange gedenkt Ihr, in New Haven zu bleiben, Oberst Whalley?«, fragte Street.
»So lange, wie Ihr gewillt seid, uns zu beherbergen, Mr Street. Wir haben keine Pläne, außer am Leben zu bleiben und dem Herrn zu dienen. Ich hege immer noch die Hoffnung auf einen politischen Wandel in London.«
»Und wir wollen natürlich arbeiten«, sagte Will.
»Hattet Ihr einen Beruf, bevor Ihr in die Armee eingetreten seid?«
»Ja«, sagte Ned. »Er war Salzsieder, ich Tuchhändler. Allerdings haben wir seit nahezu zwanzig Jahren nichts als das Soldatenhandwerk ausgeübt.«
»Das könnt Ihr auch hier ausüben«, sagte Davenport. »Wir haben große Nachfrage an erfahrenen Soldaten. Ihr solltet unsere Bürgerwehr ausbilden.«
In der Umgebung von New Haven gab es überall Lager des Quinnipiac-Stammes – in den Hügeln im Norden; entlang des Ostufers der breiten Bucht, die den natürlichen Hafen der Stadt bildete, wo sie eine alte Begräbnisstätte unterhielten; und an der Austern-Spitze im Westen. Als Vorsichtsmaßnahme gegen Angriffe war jeder männliche Bürger der Kolonie zwischen sechzehn und sechzig – etwa dreihundert Mann allein in der Stadt – mit einem Gewehr, Schießpulver, Zündsteinen, vier Faden Lunte, vierundzwanzig Kugeln und einem Schwert ausgerüstet worden. Vier Kanonen und eine Truhe mit Spießen wurden im Versammlungshaus aufbewahrt. Jeder Mann war verpflichtet, an sechs Tagen im Jahr an den Waffen zu üben. Zufällig war der nächste festgesetzte Tag der Mittwoch in der kommenden Woche.
Die beiden Oberste fanden sich ganz natürlich in ihre früheren Rollen damals im neuen Musterheer ein. Will beaufsichtigte die Männer an den Spießen und Musketen und veranstaltete mit ihnen Stoß- und Schießübungen. Ned dozierte auf einer Wiese außerhalb der Stadt über Taktik bei der Kavallerie. Wie man nach einem Sturz wieder aufsaß, wie man eine Reiterformation aufstellte, wie man an ihr vorbeiritt und dabei jedem Mann in die Augen schaute. Das alles rief in ihm Erinnerungen an den ersten Winter im Bürgerkrieg wach …
An den grauen Nachmittag im Oktober 1642, wo er auf seinem sich zur Themsemündung erstreckenden Landgut im flachen Essex gerade Gräben aushob – im kargen Boden, aus dem er nie viel herausholte – und am Horizont Reiter aufgetaucht waren, die sich als Oliver und sein ältester Sohn, ebenfalls Oliver mit Namen, und sein Schwager Valentine Walton entpuppten, die ihn überreden wollten, sich dem Kavallerieregiment anzuschließen, das Cromwell in Cambridgeshire für den Kampf gegen den König aufstellte.
An Katherine, die ihn anflehte zu bleiben und mit dem Neugeborenen im Arm hinter ihm herlief, während er seine Tasche packte – du bist zweiundvierzig, du warst nie Soldat, du wirst bestimmt umkommen, du lässt mich als Witwe mit vier kleinen Kindern und ohne Geld zurück . »Und außerdem ist dein Vetter verrückt, das hast du selbst oft genug gesagt.« (Das hatte sie mit einem Blick zum Fenster leise ausgesprochen, weil dahinter Cromwell draußen auf seinem Pferd geduldig wartete.)
An die Monate der Ausbildung in Ely, wo er unter dem Dach Cromwells wohnte, mit Oliver und Betty und ihren sechs Kindern, an die Ernsthaftigkeit des Vorhabens und auch an das Lachen, an die Gebete zweimal am Tag und das Bibelstudium, an die endlosen Gespräche mit Rekruten und Cromwells hitzige Reden: »Ich werde euch nicht die Lüge erzählen, dass wir für König und Parlament kämpfen oder ähnlichen Unsinn. Ich sage euch jetzt, sollte sich der König zufällig im Heer der Feinde befinden, das wir angreifen, dann werde ich mit meiner Pistole auf ihn schießen wie auf jeden anderen einfachen Soldaten, und sollte euch euer Gewissen nicht erlauben, es mir gleichzutun, so rate ich euch, werdet nicht Soldat in meiner Truppe oder unter meinem Kommando.« Oliver war es einerlei, ob die Männer wussten, wie man kämpfte, das konnte man ihnen beibringen. Was man ihnen nicht beibringen konnte, und was er am meisten wollte, waren gottesfürchtige Männer, glaubensstarke und disziplinierte Männer, die wenn nötig bereit waren zu sterben. Er zitierte Seneca: »Denn der Mann, der bereit ist zu sterben, wird euch immer überlegen sein.«
Ned schaute über die Wiese in New Haven, und genau solche Männer sah er jetzt vor sich. Er führte die Taktiken des Kavallerieangriffs vor, die Cromwell für die Eisenreiter entworfen hatte. Das Vorrücken muss in drei Reihen erfolgen. Die Soldaten in der ersten Reihe müssen eng geschlossen sein, das rechte Knie des Mannes links unter dem Oberschenkel des Mannes rechts. Der Angriff muss in scharfem Trab vorgetragen werden. Kein Mann darf seine Pistole abfeuern, bevor er sich nicht bis auf Pferdelänge dem Feind genähert hat. Nach dem Feuern muss er dem Feind die Pistole ins Gesicht schleudern und mit dem Schwert über ihn herfallen. Und dann, nachdem der Vorstoß das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Schlachtfeld umgewandelt hat, nachdem die Feindeslinie durchbrochen ist, stehen bleiben, kehrtmachen und wieder angreifen.
Er wusste natürlich, dass eine solche Taktik für Neuengland nicht geeignet war, weil es hier nur wenige Reitersoldaten gab und wahrscheinlich nur Indianer der Feind waren. Aber er war so gefangen in der Vergangenheit, dass er die Manöver dennoch vorführte, und die Bauern, Hufschmiede und Schafhirten schauten dem legendären ergrauten Veteranen, der noch einmal seine Glanzzeit durchlebte, staunend zu. Und als er fertig war, ertönte ein dreifaches Hoch auf Oberst Whalley.
»Bei Gott«, sagte er tief bewegt. »Wenn wir zweihundert Freunde Eures Schlags an unserer Seite hätten, brauchten wir niemand zu fürchten, weder im alten England noch im neuen.«
Vielleicht wäre das die Lösung, dachte er an jenem Abend, als er in seinem Zimmer eine Pfeife rauchte und hinaus auf das schimmernde Hafenwasser schaute, in dem sich der helle Mond spiegelte: nicht mehr weglaufen, sondern das Musterheer in Amerika neu aufstellen, eine Republik ausrufen und weiter gegen den König kämpfen. Die Stimmung in New Haven, wo er von Gleichgesinnten umgeben und weit entfernt von den Gefahren Bostons war, rief in ihm ein falsches Gefühl der Sicherheit hervor, und er dachte tatsächlich ernsthaft über die Idee nach und erwog sogar, eine Liste mit dem erforderlichen Truppenkontingent zu erstellen. Erst später erkannte er den Aberwitz, dem er erlegen war, ein menschlicher Zug, den er schon lange beobachtete: einer Wunschvorstellung nachzujagen und die tatsächlichen Verhältnisse außer Acht zu lassen.
Eines Tages erläuterte ihnen Davenport beim Abendessen, wie die Kolonie verwaltet wurde. Nach dem mosaischen Gesetz konnte nur Mitglied der Kirche werden, wer zur Erlösung ausersehen war, und nur Kirchenmitglieder konnten wählen oder ein Amt bekleiden. Da Davenport bestimmte, wer ausersehen war, und da er über die absolute Macht verfügte, jene aus der Kirche zu verbannen, die seiner Meinung nach ihre religiösen Pflichten vernachlässigten, beherrschte er im Grunde die Regierung. »Unser Staat ist ein theokratischer Staat, wir sind die einzige Kolonie in Amerika, wo sich die weltliche Obrigkeit der göttlichen fügen muss.«
»Wären wir doch mit der gleichen Rigorosität in England vorgegangen, als wir die Möglichkeit dazu hatten«, sagte Will. »Dann wären wir jetzt nicht hier.«
Ned erachtete diese Bemerkung als die vielleicht dümmste, die er je von seinem Schwiegersohn gehört hatte. Sogar Oliver hätte nie versucht, eine derartige Politik zu verfügen. Aber Ned hielt sich an seine Maxime, Zwist zu vermeiden, und so merkte er nur milde an, dass es vielleicht doch einen Unterschied gebe zwischen einer Gemeinschaft von wenigen Tausend Seelen, die genau deshalb emigriert seien, weil sie dem gleichen Glauben anhingen, und einer vielfältigen Nation von mehreren Millionen Menschen.
Nichtsdestoweniger gab es einen amtierenden Gouverneur in der Kolonie von New Haven, und am Dienstag, dem 26. März, knapp drei Wochen nach der Ankunft der Oberste in der Stadt, erschien im Haus von John Davenport der Mann, der unglücklicherweise mit dieser Aufgabe betraut war, mit ernüchternden Nachrichten. William Leete, ein traurig dreinblickender Advokat, noch keine fünfzig Jahre alt, war aus dem nahen Guilford, seinem Heimatort, hergeritten. Er überbrachte eine Abschrift des von Gouverneur Endecott in Boston gezwungenermaßen ausgestellten Haftbefehls für die verabscheuungswürdigen Königsmörder Whalley und Goffe . Das Schriftstück ging von Hand zu Hand.
»Endecott hat keine Amtsgewalt in New Haven«, sagte Davenport. »Wir ignorieren das selbstredend. Sollen Massachusetts und Connecticut das Knie vor dem König beugen, wir erkennen nur Gott an.«
Leete rieb sich unwohl die Hände. »Was das Prinzip angeht, habt Ihr recht, Mr Davenport. Wie immer. Aber diese Kolonien sind durch die königliche Charta als Staaten anerkannt, was unsere gegenwärtig nicht ist. Und wenn herauskommt, dass wir zwei Männern Unterschlupf gewähren, die das Todesurteil des Königs unterzeichnet haben, dann wird das auch nie geschehen.«
»Wir haben zwanzig Jahre ohne eine Charta überlebt.«
»Wovon England die meiste Zeit ein Staatenbund war und die Regierung uns wohlgesinnt. Jetzt, so befürchte ich, liegen die Dinge deutlich anders.«
Davenport nahm den Haftbefehl, riss ihn langsam durch und ließ die Schnipsel zu Boden fallen. »Da habt Ihr meine Meinung von Endecott und seinem Haftbefehl und von Karl Stuart, dem ersten und dem zweiten. Hat Boston Männer geschickt, um die Verhaftungen zu vollstrecken?«
»Bis jetzt nicht.«
»Na also. Sie werden es nicht wagen.«
»Aber sie werden kommen, Mr Davenport«, sagte Leete leise. »Früher oder später. Wenn nicht aus Boston, dann aus London. Und so tapfer und gut bewaffnet unsere Bürgerwehr auch sein mag, dagegen wird sie nichts ausrichten können.«
»Ach, William.« Davenport schüttelte traurig den Kopf. »William, William. Allmählich mache ich mir Sorgen um den Zustand Eurer Seele.«
Ned hob die Hand. »Als einer der beiden, der für Eure Schwierigkeiten verantwortlich ist, erlaubt mir eine Anmerkung.« Die Erkenntnis der eigenen Dummheit entsetzte ihn in diesem Augenblick fast so sehr wie die Bedrohlichkeit ihrer Lage. »Unser Fehler, mein Fehler war es, dass ich mich in New Haven frei bewegt habe. Wir hätten umsichtiger sein sollen, hätten falsche Namen benutzen oder, noch besser, uns überhaupt nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollen, bis sich dieses ganze Gezeter beruhigt hätte.«
»Das sagst du jetzt!«, rief Will.
»Ja, das sage ich jetzt, Will, und du hast recht, ich hätte es früher sagen sollen. Wir beide hätten es sagen sollen. Aber wir waren von der Reise erschöpft und unser Gespür abgestumpft, nicht mehr so wach, wie es hätte sein sollen. Kurz gesagt, wir können hier nicht bleiben. Also stehen wir wieder vor der alten Frage: Wohin jetzt?« Noch während er sprach, hatten sich in seinem Kopf die Umrisse eines Plans herausgeschält. Er zögerte. »Ich glaube allerdings, eine Ahnung zu haben, den Schatten einer Ahnung, was wir tun könnten. Was allerdings nicht ganz ungefährlich wäre … für Euch, Gentlemen, wie auch für uns.« Er hielt inne.
»Wir fürchten keine Gefahren«, sagte Davenport. »Redet ruhig weiter.«
Am nächsten Morgen verließen die Oberste New Haven auf zwei mit ihrem gesamten Gepäck beladenen Pferden, die Davenport ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Bevor sie die Stadt verließen, drehten sie für alle sichtbar eine große Runde um den Anger in der Mitte und bedankten sich bei allen, die sie kannten, und sagten Lebewohl. Einige wenige fragten, wohin sie zögen. Sie gaben nur vage Auskunft, riefen, es sei an der Zeit weiterzuziehen, »auf zu neuen Ufern«. Als man sie kurze Zeit später auf der Küstenstraße westwärts davonreiten sah, ging man natürlich davon aus, ihr Ziel sei die holländische Kolonie, vielleicht um in Neu-Amsterdam an Bord eines Schiffes nach Holland zu gehen.
Sie reisten ohne Führer. Je weniger von ihrem geheimen Vorgehen wussten, desto besser. Der Weg war zwar kurvenreich, aber entlang der Küstenlinie nicht zu verfehlen. Linker Hand krachten die Wellen gegen die Felsen, rechts von ihnen erstreckten sich dunkle Kiefernwälder. Nach zehn Meilen erreichten sie die Stadt Milford, die noch zur Kolonie von New Haven gehörte. Sie hielten an dem Krämerladen des Orts, kauften von seinem Besitzer Micah Tomkins ein paar Dinge – ein Fischernetz, ein Messer, ein Beil, einen Kochtopf – und fragten, wie weit es noch bis Neu-Amsterdam sei, unterhielten sich mit den anderen Kunden über Allgemeines wie das Wetter und den Zustand der Straße und ritten dann weiter. In der Stadt sahen sie an einem Anschlagbrett den Steckbrief, der eine Belohnung für ihre Gefangennahme versprach. Sie trugen ihre alten, gelbbraunen Ledermäntel aus der Armee, und die Art, wie einige der Leute in dem Laden sie angeschaut hatten, verriet ihnen, dass man sie erkannt hatte. Gut so.
Nachdem sie auf der Straße ein kurzes Stück weitergeritten waren, hielten sie an, stiegen ab und führten die Pferde etwa eine halbe Meile weit in den Wald, bis sie an einem Bach auf eine kleine Lichtung stießen. Sie sammelten Holz, entzündeten ein Feuer und brieten sich etwas Hammelfleisch. Anschließend stopften sie Blätter und Moos in das Netz, legten sich hin und warteten. Will las in der Bibel, Ned rauchte seine Pfeife.
Als die Sonne gegen sieben Uhr unterging, packten sie ihre Sachen wieder zusammen und traten die Glut des Feuers aus. Der Fußweg zurück zur Straße wurde von den Geräuschen des Waldes, über den sich die Nacht senkte, begleitet, dem schwermütigen Kreischen der Nachtschwalben und dem tiefen Grunzen der Ochsenfrösche. Der gewundene Küstenweg war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Die Pferde blieben immer wieder stehen und wollten nicht weitergehen, sodass sie schließlich absteigen und sie führen mussten. Die Wellen krachten nach wie vor gegen die Felsen. Sogar Ned, dessen ausgeglichenes Temperament sonst nicht zu Wahnvorstellungen neigte, glaubte überall den Teufel zu sehen.
Es war wahrscheinlich schon Mitternacht, als sie New Haven wieder erreichten. Der winzige Sichelmond beleuchtete kaum die breite, grasbewachsene Straße. Sie gingen in der Dunkelheit an dreizehn Häusern vorbei, bevor sie schließlich vor dem von Davenport standen, wo in einem Fenster im ersten Stock eine Kerze brannte. Niemand sah, wie sie das Haus betraten, und in den nächsten fünf Wochen setzten sie nicht ein einziges Mal den Fuß vor die Tür. Für die Stadt waren sie verschwunden.